BT-Drucksache 17/1571

Für eine wirksame und stichtagsunabhängige gesetzliche Bleiberechtsregelung im Aufenthaltsgesetz

Vom 5. Mai 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1571
17. Wahlperiode 05. 05. 2010

Antrag
der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Memet Kilic, Volker Beck (Köln),
Kai Gehring, Ingrid Hönlinger, Jerzy Montag, Dr. Konstantin von Notz,
Wolfgang Wieland und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine wirksame und stichtagsunabhängige gesetzliche Bleiberechtsregelung
im Aufenthaltsgesetz

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die gesetzliche Altfallregelung der §§104a und 104b des Aufenthaltsgeset-
zes (AufenthG) und die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis auf Probe
nach § 104a Absatz 1 Satz 1 AufenthG durch Beschluss der Innenminister-
konferenz vom Dezember 2009 sind wegen ihrer restriktiven Ausgestaltung
nicht dazu geeignet, die weithin kritisierte Praxis der „Kettenduldungen“
wirksam zu beenden. Dies belegt die weiterhin anhaltend hohe Zahl lang-
jährig in Deutschland geduldeter Personen.

2. Beide Regelungen berücksichtigen aufgrund des zentralen Kriteriums der
eigenständigen Lebensunterhaltssicherung humanitäre Härtefälle nicht aus-
reichend, denn gerade alte und kranke Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt
keine Chance haben, sowie kinderreiche Familien werden von der Bleibe-
rechtsregelung ausgeschlossen.

3. Stichtagsregelungen führen immer wieder zu neuen humanitären Härtefällen.
Daher ist eine dauerhafte gleitende Bleiberechtsregelung notwendig, die auch
auf zukünftige Fälle Anwendung finden kann.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

unverzüglich einen Gesetzentwurf vorzulegen, der folgende Punkte vorsieht:

1. Einem geduldeten Ausländer oder einer geduldeten Ausländerin wird eine
Aufenthaltserlaubnis erteilt, wenn er oder sie sich seit mindestens fünf Jahren
geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Grün-
den im Bundesgebiet aufgehalten hat. Wenn der Ausländer oder die Auslän-
derin zusammen mit einem oder mehreren minderjährigen ledigen Kindern in
häuslicher Gemeinschaft lebt, wird die Aufenthaltserlaubnis nach drei Jahren
erteilt. Besonders schutzbedürftigen Personen, insbesondere unbegleiteten

Minderjährigen, durch kriegerische Auseinandersetzungen in ihrer Heimat
traumatisierten Personen oder Opfern von rassistischen Gewalttaten oder
Menschenhandel, wird die Aufenthaltserlaubnis nach zwei Jahren erteilt;

2. das Kriterium der eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts darf keine
unüberwindbare Hürde darstellen; ernsthafte Bemühungen, den Lebens-
unterhalt überwiegend zu sichern, müssen ausreichend sein;

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3. bei Personen, die wegen ihres Alters, einer körperlichen, geistigen oder see-
lischen Krankheit oder Behinderung oder weil sie mit minderjährigen ledigen
Kindern in häuslicher Gemeinschaft leben und wegen der Kinderbetreuung
von ernsthaften Bemühungen zur überwiegenden Sicherung des Lebens-
unterhalts abgehalten waren, ist auf das Kriterium der Lebensunterhaltssiche-
rung zu verzichten;

4. es werden keine unverhältnismäßigen Anforderungen an die Erfüllung von
Mitwirkungspflichten gestellt;

5. keinesfalls darf die in § 104a Absatz 3 des Aufenthaltsgesetzes festgeschrie-
bene Regelung, nach der die ganze Familie von der Erteilung einer Aufent-
haltserlaubnis ausgeschlossen ist, sobald ein mit dieser in häuslicher Gemein-
schaft lebendes Familienmitglied bestimmte Straftaten begangen hat, über-
nommen werden; im Übrigen müssen bei der Festlegung von Ausschlusstat-
beständen wegen der Verurteilung nach einer im Bundesgebiet begangenen
vorsätzlichen Straftat, Taten, die nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem
Asylverfahrensgesetz nur von Ausländerinnen und Ausländern begangen
werden können, außer Betracht bleiben;

6. vorhandene Deutschkenntnisse werden nicht zur Voraussetzung für eine Auf-
enthaltserlaubnis gemacht, weil Personen mit einer Duldung von geförderten
Sprachkursen nach dem Aufenthaltsgesetz ausgeschlossen sind; die Auf-
enthaltserlaubnis kann jedoch unter der Bedingung erteilt werden, dass ein
Integrationskurs besucht wird;

7. die Aufenthaltserlaubnis berechtigt zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit.

Berlin, den 4. Mai 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Der Antrag zielt auf eine stichtagsunabhängige, sog. rollierende Bleiberechtsre-
gelung. Damit soll zum einen Ausländerinnen und Ausländern, die bisher ledig-
lich eine Aufenthaltserlaubnis auf Probe nach § 104a Absatz 1 Satz 1 des Auf-
enthaltsgesetzes erhalten haben, eine gesicherte Perspektive eröffnet werden.
Zum anderen gilt es, die Zahl der Kettenduldungen für Personen, die sich seit
mehreren Jahren hier aufhalten, deutlich zu reduzieren. Die gesetzliche Altfall-
regelung vom August 2007 und der Beschluss der Innenministerkonferenz
(IMK) vom Dezember 2009 sind nicht dazu geeignet, Kettenduldungen wirksam
zu beenden. Stichtagsregelungen sorgen dafür, dass immer wieder neue humani-
täre Härtefälle entstehen, die sich in keiner Weise von den vorherigen unter-
scheiden. Zudem begrenzen weitgehend unbestimmte Ausschlusskriterien und
zusätzliche Auflagen die Wirksamkeit der bisherigen Bleiberechtsregelungen.

Ende Dezember 2009 lebten trotz mehrerer Bleiberechtsregelungen erneut ca.
89 500 Menschen in Deutschland in einer rechtlichen Grauzone: rechtlich ge-
duldet – aber ohne legales Aufenthaltsrecht. Fast 57 000 von ihnen leben bereits
länger als sechs Jahre hier. Viele dieser Personen sind Kriegsflüchtlinge, die kein
Asyl erhielten, aber nicht abgeschoben werden können. Inzwischen haben sich
diese Menschen in der Regel in Deutschland integriert. Dies gilt erst recht für
die hier geborenen und aufgewachsenen Kinder und Jugendlichen – für sie ist
Deutschland das Zuhause. Doch selbst nach jahrelangem Aufenthalt droht ihnen

die Abschiebung, häufig in ein Land, das ihnen völlig fremd ist.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1571

Eine Abschiebung nach langjährigem Aufenthalt ist nicht nur eine unzumutbare
Härte – mit tragischen Folgen für den Einzelnen und deren Familien. Ein solches
Vorgehen steht auch in Widerspruch zu den humanitären Grundsätzen, denen
deutsche Politik verpflichtet ist und widerspricht allen integrationspolitischen
Überlegungen.

Auch die ca. 37 000 Personen, denen bis Ende 2009 eine Aufenthalterlaubnis
auf Probe erteilt wurde, leben weiter in einem Schwebezustand. Zwar kann ihre
Aufenthaltserlaubnis unter gewissen Voraussetzungen nach dem Beschluss der
IMK bis Ende 2011 verlängert werden. Angesichts der für das Jahr 2010 erwar-
teten weiteren negativen Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise auf
den Arbeitsmarkt bleibt ihre aufenthaltsrechtliche Situation jedoch höchst un-
gewiss.

Insbesondere an der Bedingung einer eigenständigen Lebensunterhaltssicherung
scheitern viele Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, zumal ange-
sichts der Auswirkungen der Finanzkrise und der angespannten Lage auf dem
Arbeitsmarkt. Zudem wurden durch eine Entscheidung des Bundesverwaltungs-
gerichts vom August 2008 die Voraussetzungen für die Sicherung des Lebens-
unterhalts deutlich verschärft: Der Lebensunterhalt ist demzufolge nur dann
gesichert, wenn das gemäß des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) an-
rechenbare (und nicht das Netto-)Einkommen so hoch ist, dass kein ergänzender
SGB-II-Anspruch mehr besteht. Ob diese Leistung tatsächlich in Anspruch
genommen wird, ist dabei unerheblich. Dies hat zur Folge, dass nunmehr ein
deutlich höheres (Erwerbs-)Einkommen erforderlich ist, um den Anforderungen
zu genügen.

Bei besonders verletzlichen Personen, wie unbegleiteten Minderjährigen, Trau-
matisierten und Opfern von rassistischen Übergriffen, sind die Aufenthaltszeiten
als Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis deutlich zu ver-
kürzen. Bei Traumatisierten bestätigen alle Experten, dass ein gesichertes Auf-
enthaltsrecht zwingende Voraussetzung für eine Genesung ist.

An die Erfüllung von Mitwirkungspflichten dürfen keine überzogenen Anforde-
rungen gestellt werden. Allenfalls fortgesetzte, vorsätzliche und schwerwie-
gende Verletzungen von Mitwirkungspflichten können zum Ausschluss von der
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis führen. Insbesondere die Frage, ob eine
Passlosigkeit selbst verschuldet ist, ist oftmals nicht eindeutig zu beantworten.
Asylfolgeanträge sind in vielen Fällen aufgrund der politischen Entwicklungen
im Herkunftsland oder einer Änderung der Rechtsprechung sinnvoll und ge-
rechtfertigt. Das Ausschöpfen des Rechtsweges darf im Rechtsstaat nicht nega-
tiv sanktioniert werden.

Im Hinblick auf Straftaten als Ausschlussgrund sollte nicht die ganze Familie
aufgrund einer Straftat durch ein Familienmitglied von der Erteilung einer Auf-
enthaltserlaubnis ausgeschlossen bleiben („Sippenhaftung“). Die humanitären
Erwägungen, insbesondere im Hinblick auf die fortgeschrittene Entfremdung
der Kinder vom Herkunftsland der Eltern, greifen auch in diesen Fällen. Zudem
sollte das Gewicht der Straftaten und eine eventuelle Wiederholungsgefahr be-
rücksichtigt werden.

Vorhandene deutsche Sprachkenntnisse sollten nicht zur Voraussetzung für die
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemacht werden. Viele langjährig gedul-
dete Personen verfügen zumindest über Grundkenntnisse der deutschen Spra-
che. Personen, die nach dieser Regelung eine Aufenthaltserlaubnis erhalten,
sollte die Teilnahme an den Integrationskursen ermöglicht werden.

Es sollte klargestellt werden, dass die Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer
Erwerbstätigkeit berechtigt.

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