BT-Drucksache 17/14676

PRISM, Tempora und die Schutzverantwortung der Bundesregierung

Vom 2. September 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/14676
17. Wahlperiode 02. 09. 2013

Antrag
der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Renate Künast, Volker Beck (Köln),
Ingrid Hönlinger, Memet Kilic, Jerzy Montag, Tabea Rößner,
Claudia Roth (Augsburg), Wolfgang Wieland, Josef Philip Winkler und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

PRISM, Tempora und die Schutzverantwortung der Bundesregierung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Es steht zur Überzeugung des Deutschen Bundestages fest: Geheimdienste
der USA erfassen durch Zugriff auf Server in den USA zumindest von US-
Unternehmen verdachtslos und flächendeckend auch rein innerdeutsche
elektronische Kommunikationsvorgänge und werten sie zu unterschied-
lichen geheimdienstlichen Zwecken aus. Gleiches betreibt Großbritannien
über den Zugriff auf transatlantische Kabelstränge, die über sein Gebiet lau-
fen.

2. Dieser Tatbestand stellt nicht nur einen Angriff auf die Werteordnung
des Grundgesetzes dar, sondern beeinträchtigt auch europäische (Grund-
rechts-)Verbürgungen.

3. Die Bundesregierung hat diesen Tatbestand faktisch akzeptiert und ist inso-
weit nicht zum Schutz der Grundrechtsträgerinnen und -träger in Deutsch-
land tätig geworden. Sie hat stattdessen die Affäre bereits mehrfach mit der
Begründung für erledigt erklärt, dass die Maßnahmen der genannten Staaten
nicht in Deutschland erfolgen.

4. Hinsichtlich des bereits existierenden Menschenrechtsschutzes verkennt die
Bundesregierung, dass Artikel 17 des Internationalen Paktes über bürger-
liche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (UN-Zivilpakt) bereits
jetzt, unabhängig von der Möglichkeit der Präzisierung seines datenschutz-
rechtlichen Gehalts durch Zusatzabkommen, Schutz vor der flächendecken-
den Erfassung und Rasterung digitaler Kommunikation gewährt.

5. Es bestehen verfassungsrechtliche Pflichten der Bundesregierung, zum
Schutz der Grundrechte (Kommunikation aller in Deutschland lebenden
Menschen) und der Funktionsfähigkeit der deutschen Demokratie (Kommu-
nikation aller in Deutschland lebenden Menschen, Kommunikation des
Deutschen Bundestages, seiner Fraktionen und Abgeordneten) möglichst

wirksam tätig zu werden. Die Bundesregierung ist dagegen offenbar noch
nicht einmal im Ansatz bereit, die Werteordnung des Grundgesetzes gegen
Angriffe anderer Staaten nachhaltig zu verteidigen.

Drucksache 17/14676 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

alle gangbaren Schritte zu tun, um innerdeutsche Kommunikationsvorgänge
vor menschenrechtswidrigen Übergriffen der USA und Großbritanniens zu
schützen. Neben den bereits im Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN vom 26. Juni 2013 (Bundestagsdrucksache 17/14146) genannten
weiteren Maßnahmen sollte die Bundesregierung

• sich umgehend für ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Großbritannien
einsetzen und, falls die EU-Kommission nicht bereit ist, ein solches einzu-
leiten, selbst den Einsatz dieses auch ihr zur Verfügung stehenden Mittels er-
wägen,

• im EU-Ministerrat darauf hinwirken, dass die Europäische Union die laufen-
den Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP-Ab-
kommen) bis zur weiteren Klärung der Vorwürfe aussetzt,

• im EU-Ministerrat ebenso darauf hinwirken, dass die Europäische Union
das Safe-Harbor-Abkommen mit den USA aussetzt und im Einklang mit
dem EU-Datenschutzrecht umgehend neu verhandelt, weil aufgrund der be-
kanntgewordenen geheimdienstlichen Zugriffe auf die Datenbestände priva-
ter Unternehmen kein vergleichbares Datenschutzniveau in den USA mehr
zugrundegelegt werden kann,

• ein Verfahren vor dem UN-Menschenrechtsausschuss nach Artikel 41 des
Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 19. De-
zember 1966 gegen die USA einleiten.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

den Whistleblower Edward Snowden, der mit seinen Hinweisen und Aussagen
den Menschenrechten weltweit und in Deutschland einen großen Dienst erwie-
sen hat,

• aus humanitären Gründen und zur Wahrung politischer Interessen der Bun-
desrepublik Deutschland hierzulande aufzunehmen,

• um damit auch Befragungen Edward Snowdens zu ermöglichen, weil
Deutschland zur weiteren Aufklärung auf zusätzliche Aussagen von ihm an-
gewiesen ist; dies setzt voraus, dass Deutschland ihm Schutz gewährt.

Berlin, den 2. September 2013

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Zu Abschnitt I

Zu Nummer 1

Die US-Regierung hat sowohl in eigenen Stellungnahmen, durch die Veröffent-
lichung einzelner Dokumente u. a. aus Gerichtsverfahren, als auch im Rahmen
von Anhörungen von Verantwortlichen der US-Regierung und des Geheim-
dienstes NSA durch Ausschüsse des Senats des US-Kongresses eingeräumt,
mehrere auf die flächendeckende Erfassung angelegte Spionageprogramme zu
Auslandsaufklärung zu betreiben und deren Fortsetzung nachträglich vertei-

digt. So erklärte etwa der Chef der NSA, General Keith Alexander, auf Nach-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/14676

frage zur Kritik der deutschen Öffentlichkeit an den Überwachungsprogram-
men und zur Forderung nach mehr Transparenz am 18. Juli 2013: „Wir sagen
ihnen nicht alles, was wir machen oder wie wir es machen – jetzt wissen sie
es“.

Nach wie vor gibt es auch eine Reihe von Hinweisen, dass die USA aus ihren
auf deutschem Boden befindlichen militärischen Anlagen oder diplomatischen
Vertretungen heraus Abhör- und Spionagemaßnahmen gegen hier lebende Per-
sonen, Regierungseinrichtungen und hier ansässige Unternehmen durchführen.

Zu Nummer 2

Möglichst flächendeckende, vorsorgliche Speicherungen und Auswertungen
der Kommunikation zu welchen Zwecken auch immer verbietet das Grundge-
setz. Das Bundesverfassungsgericht verpflichtet in seinem Urteil vom 2. März
2010 zur Vorratsdatenspeicherung die Bundesrepublik Deutschland zum Schutz
vor derartigen Datensammlungen ausdrücklich: „Dass die Freiheitswahrneh-
mung der Bürger nicht total erfasst und registriert werden darf, gehört zur ver-
fassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland (vgl. zum grund-
gesetzlichen Identitätsvorbehalt BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom
30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08), für deren Wahrung sich die Bundesrepublik in eu-
ropäischen und internationalen Zusammenhängen einsetzen muss.“

Unverhältnismäßige Überwachungen beinträchtigen stets auch das Gemein-
wohl, weil die dadurch beeinträchtigte Selbstbestimmung eine elementare
Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit
seiner Bürgerinnen und Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Ge-
meinwesens ist.

Die Artikel 7 und 8 der Grundrechtecharta der EU, die die Achtung des Privat-
und Familienlebens und den Schutz personenbezogener Daten gewährleisten,
schließen ebenfalls flächendeckende und unterschiedslose präventive Erfassun-
gen sowohl von Inhalts- als auch Verkehrsdaten aus.

Zu Nummer 3

Die Bundesregierung hat bis heute keine wirksamen Maßnahmen zum Schutz
der Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger und zum Schutz der Interessen
der Bundesrepublik Deutschland ergriffen. Auch der bislang vorgelegte sog.
Fortschrittsbericht vom 14. August 2013 bietet diesen Schutz nicht. Denn sämt-
lichen Maßnahmen mangelt es entweder an praktischer Relevanz (so etwa die
Aufhebung von Verwaltungsvereinbarungen mit den USA, Großbritannien und
Frankreich zur Kommunikationsüberwachung aus dem Jahr 1968, die nach
eigenen Angaben der Bundesregierung seit 1990 keine Anwendung mehr fin-
den) oder betreffen Vorhaben, die für den Fall ihrer erfolgreichen Realisierung
allenfalls Schutzwirkungen in der ferneren Zukunft entfalten könnten (VN-Ver-
einbarung zum Datenschutz, Datenschutzgrundverordnung, sog. No-Spy-Ab-
kommen, Europ. IT-Strategie, Runder Tisch „Sicherheitstechnik“).

Stattdessen betont die Bundeskanzlerin, sie „habe keinen Anlass, an den bishe-
rigen Erklärungen insbesondere des US-Geheimdienstes zu zweifeln“. Sie zieht
sich darauf zurück, „auf deutschem Boden müsse deutsches Recht eingehalten
werden“ und verweigert damit ausdrücklich den nach der Verfassung weiterge-
hend angelegten Grundrechtsschutz und die daraus für die Bundesregierung er-
wachsenden grundrechtlichen Schutzpflichten.

Zu Nummer 4

Artikel 17 des UN-Zivilpaktes gewährleistet den Schutz des Privat- und Fami-

lienlebens, der Wohnung, des Schriftverkehrs sowie der Ehre und des Rufs.
Hinsichtlich des Schutzes des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und

Drucksache 17/14676 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
des Postgeheimnisses entspricht der Schutz des Artikels 17 des UN-Zivilpaktes
dem des Artikels 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Vor-
schrift umfasst – insoweit völlig unstreitig und in den sog. General Comments
des UN-Menschenrechtsausschusses (General Comment 16/32 zu Artikel 17
IPBPR, angenommen am 23. März 1988) ebenfalls festgehalten – auch die in-
formationstechnische Verarbeitung von Daten.

Zu Nummer 5

Die freiheitliche Kommunikation demokratischer Staaten ist mit den durch
PRISM und Tempora angelegten flächendeckenden Überwachungen völlig un-
vereinbar. Schon die davon ausgehende mögliche Wirkung eines diffus bedroh-
lichen Gefühls des Beobachtetseins kann die unbefangene Wahrnehmung der
Grundrechte in vielen Bereichen beeinträchtigen und damit die zentrale Grund-
lage und Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit freiheitlicher Gemeinwesen
und der für die Demokratie zentralen Institutionen beeinträchtigen.

Zu Abschnitt II

Die Forderungen unter Abschnitt II ergeben sich zwangsläufig aus der verfas-
sungsrechtlichen Pflicht der Bundesregierung, insbesondere die Grundrechte
aller in Deutschland lebenden Menschen zu schützen. Hinsichtlich des im vierten
Punkt (unter Abschnitt II) genannten Verfahrens nach Artikel 41 des Internatio-
nalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte ist darauf hinzuweisen, dass
sich die USA diesem Verfahren ausdrücklich unterworfen haben. Deutschland
hat daher die Möglichkeit in diesem formalisierten Verfahren vor dem Men-
schenrechtsausschuss mit den USA über die Verletzung des Artikels 17 des Inter-
nationalen Paktes zu diskutieren.

Zu Abschnitt III

Die Forderung, Edward Snowden die sichere Aufnahme in Deutschland anzu-
bieten, ist nicht nur ein Gebot der Humanität; vielmehr ist sie auch dem deut-
schen Interesse an weiterer Aufklärung geschuldet. Das rechtliche Instrumenta-
rium dazu bietet § 22 des Aufenthaltsgesetzes. Danach kann für die Aufnahme
eines Menschen aus dem Ausland aus „völkerrechtlichen oder dringenden hu-
manitären Gründen“ eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden oder das Bundes-
ministerium des Innern kann „zur Wahrung politischer Interessen der Bundes-
republik Deutschland“ die Aufnahme erklären.

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