BT-Drucksache 17/13911

Armuts- und Reichtumsberichterstattung verbessern - Lebenslagen umfassend abbilden

Vom 12. Juni 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/13911
17. Wahlperiode 12. 06. 2013

Antrag
der Abgeordneten Markus Kurth, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Kerstin
Andreae, Beate Müller-Gemmeke, Brigitte Pothmer, Birgitt Bender, Priska Hinz
(Herborn), Susanne Kieckbusch, Sven-Christian Kindler, Dr. Tobias Lindner,
Elisabeth Scharfenberg, Dr. Gerhard Schick, Dr. Harald Terpe, Beate
Walter-Rosenheimer und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Armuts- und Reichtumsberichterstattung verbessern – Lebenslagen umfassend
abbilden

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Als der Gesetzgeber 1999 die Vorgaben für die „Nationale Armuts- und Reich-
tumsberichterstattung“ (Bundestagsdrucksache 14/999) festlegte, hatte er ein
klares Ziel vor Augen: Der Bericht soll die Ausmaße von Armut und Reichtum
in der Gesellschaft zusammentragen und damit die Voraussetzung für eine effek-
tive Armutsbekämpfung schaffen. Dieser Anforderung wird der 4. Armuts- und
Reichtumsbericht nicht gerecht.

Seine Aussagekraft über die tatsächlichen Lebenslagen in Deutschland ist
ungenügend, weil gleich mehrere Vorgaben für die Berichterstattung missachtet
bzw. unzulänglich umgesetzt wurden: Der aktuelle Bericht gibt keinen hin-
reichenden Aufschluss über kollektive Lebenslagen und besondere Problem-
gruppen. Die Frage, in welcher Form und in welchem Umfang Arme selbst-
bestimmt und eigenverantwortlich handeln können, wird nicht behandelt. Der
Bericht legt die Ursachen und Folgen von Armut und Reichtum nicht dar. Die
vom Gesetzgeber verlangte Beteiligung von Organisationen und Verbände, die
sich mit dem Thema befassen, fand eher in Form einer Unterrichtung statt.
Erfahrungen aus der Praxis wurden nur unzureichend einbezogen. Und grund-
legende gesellschaftliche Perspektiven und politische Instrumentarien zur Ver-
meidung und Bekämpfung von Armut fehlen im 4. Armuts- und Reichtums-
bericht gänzlich.

Der Berichtstenor sorgt für eine verzerrte Darstellung der sozialen Wirklich-
keit. So wird beispielsweise der absolute Rückgang der Arbeitslosenzahlen als
Indikator für allgemein steigenden Wohlstand angeführt. Hier fehlt eine diffe-
renzierte Betrachtung. Denn die verbesserte Arbeitsmarktsituation kommt nicht
bei allen Bevölkerungsgruppen gleichermaßen an. Ein beträchtlicher Teil der

neuen Beschäftigungsverhältnisse ermöglicht keine stabile Existenzsicherung.
Einzelne Bevölkerungsgruppen, wie zum Beispiel Menschen mit Migrations-
hintergrund oder Menschen mit Behinderungen, sind zudem am Arbeitsmarkt
strukturell benachteiligt. Bei ihnen ist das Armutsrisiko in den vergangenen
Jahren stetig gestiegen und hat das Gefälle zwischen den Lebensverhältnissen
massiv vergrößert.

Drucksache 17/13911 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Diese strukturellen Defizite werden im aktuellen Armuts- und Reichtums-
bericht nicht erwähnt. In dem neu eingeführten Lebensphasenmodell wird
Armut als rein individuelles Problem beschrieben und die gesellschaftliche
Analyse von Ursachen von Armut einzelner Bevölkerungsgruppen wie in den
vorausgegangenen drei Armuts- und Reichtumsberichten ist aus der Berichter-
stattung herausgefallen. Und das, obwohl die Armutsrisikoquote bei Kindern
bis 17 Jahre (16,5 Prozent), jungen Erwachsenen unter 25 (20,0 Prozent),
Alleinerziehenden (40,1 Prozent) sowie Arbeitslosen (56,4 Prozent) besonders
hoch ist und diese Bevölkerungsgruppen in besonderem Maße von Armut
bedroht und/oder betroffen sind. Hinzu kommt, dass die Armutsrisikoquote in
einigen Bevölkerungsgruppen zwischen 1998 und 2010 besonders stark gestie-
gen ist: Nach Angaben der Bundesregierung (Antwort auf die Große Anfrage
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Bundestagsdrucksache 17/12837)
ist bei Alleinerziehenden ein Zuwachs von 15,5 Prozent zu verzeichnen, bei
Rentnern bzw. Rentnerinnen sowie Pensionären bzw. Pensionärinnen ein An-
stieg von 48 Prozent und bei Arbeitslosen ist die Zahl im genannten Zeitraum
sogar um 91 Prozent gestiegen.

Weitere Bevölkerungsgruppen, die besonders armutsgefährdet sind, sind Perso-
nen ohne deutsche Staatsangehörigkeit und Menschen mit Migrationshinter-
grund. Bei Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit gilt knapp ein Drittel
(31,9 Prozent) als arm; bei Personen mit Migrationshintergrund gilt dies für über
ein Viertel (26,6 Prozent). In beiden Fällen liegt der Wert um mehr als das
Doppelte über dem von deutschen Staatsangehörigen bzw. Personen ohne Mi-
grationshintergrund. Diese Werte haben sich seit 2009 verfestigt. Die Stagnation
legt nahe, dass vermutlich ein fester und nicht unerheblicher Anteil dieser
Menschen in Armut lebt. Obwohl das Merkmal „Migrationshintergrund“ ein
unmittelbares Armutsrisiko darstellt und die Unterschiede zu Personen ohne
Migrationshintergrund drastisch sind, thematisiert der 4. Armuts- und Reich-
tumsbericht diesen Umstand bestenfalls oberflächlich.

Auch andere strukturelle Aspekte blendet der Bericht systematisch aus und das
obwohl ihr unmittelbarer Armutsbezug bekannt ist. Im ersten Entwurf des Be-
richts vom September 2012 war ein verbesserter Rechtsschutz für Arbeitnehmer/
-innen in atypischen Beschäftigungsverhältnissen in Aussicht gestellt. Diese
Passage findet sich im aktuellen Bericht nicht wieder, obwohl durch wissen-
schaftliche Studien belegt ist, dass Beschäftigten in so genannten Minijobs in
nicht unerheblichem Maße Rechte vorenthalten werden. Im Herbst 2012 legte
das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) eine Studie
zur Analyse der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse vor. Laut dieser Stu-
die verletzt leider ein Teil der Arbeitgeber die geltenden gesetzlichen Bestim-
mungen und verstärkt damit Armutsrisiken: 39 Prozent der Minijobber/-innen
erhalten keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, 27 Prozent wird kein Mut-
terschutzlohn gezahlt, 43 Prozent erhalten kein Entgelt an Feiertagen und bei
50 Prozent liegt der Stundenlohn unterhalb von 8,50 Euro.

Aus der ersten Entwurfsfassung wurde außerdem die Feststellung gestrichen,
dass die Privatvermögen in Deutschland sehr ungleich verteilt sind. Dabei sind
die Zahlen eindeutig: Die obersten 10 Prozent der Deutschen besitzen heute
zwei Drittel (66,6 Prozent) des gesamten Vermögens und nur das vermögendste
Prozent der Deutschen nennt 35,5 Prozent des gesamten Vermögens sein Eigen.
Im Zeitraum von 2002 bis 2007 ist der Anteil der obersten 10 Prozent gewach-
sen, während der Anteil der unteren 90 Prozent am Vermögen gesunken ist.
3,4 Millionen Haushalte in Deutschland haben heute mit einem Schuldenberg
von insgesamt etwa 120 Mrd. Euro zu kämpfen. Neben der Vermögensvertei-
lung hat sich die Polarisierung der Einkommen in Deutschland in den vergan-
genen Jahren dramatisch zugespitzt: Nur fünf Staaten der OECD haben seit

Mitte der 90er-Jahre einen höheren Anstieg der Einkommensungleichheit zu
verzeichnen als Deutschland. Heute verdienen die Mitglieder der obersten

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/13911

10 Prozent der deutschen Gesellschaft etwa achtmal so viel wie die untersten
10 Prozent, in den 90er Jahren lag das Verhältnis bei sechs zu eins. Das
Medianeinkommen ging in Deutschland im Zeitraum von 1991 bis 2009 real
von 19 094 Euro auf 18 510 Euro jährlich zurück. Die Einkommen der Reichen
sind hingegen gestiegen: Die am besten verdienenden 10 Prozent der Bevölke-
rung beziehen heute etwa ein Viertel des gesamten Nettoeinkommens. In Bezug
auf die Markteinkommen beziehen nur die oberen 20 Prozent der Bevölkerung
fast die Hälfte.

Zur Frage der Verteilung in Deutschland kommt verschärfend hinzu, dass Ein-
kommen und Vermögen deutlich korrelieren – diejenigen, die ein hohes Ver-
mögen besitzen, haben also zusätzlich in der Regel ein hohes Einkommen:
Während Menschen in den untersten 10 Prozent der Einkommen ein durch-
schnittliches Vermögen von rund 25 000 Euro besitzen, verfügen die obersten
10 Prozent über durchschnittlich etwa 320 000 Euro Vermögen.

Obwohl noch nie in der Geschichte der Berichterstattung solch ein tiefer
Graben zwischen Arm und Reich klaffte wie heute, fehlen aktuelle Daten zur
Reichtums- und Vermögensentwicklung. Eine angemessene Beurteilung von
Armut braucht aber den Bezugspunkt der Verteilung von Reichtum.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die ursprünglichen Vorgaben zur Berichterstattung künftig konsequent und
verbindlich umzusetzen und dabei im Besonderen sicherzustellen, dass,

a) eine Vergleichbarkeit der Berichte untereinander gewährleistet ist, die
eine Beurteilung der Wirkungsweise und Effizienz der gewählten Instru-
mente zur Armutsbekämpfung ermöglicht und die Entwicklung von
Armut und Reichtum im Zeitverlauf nachvollziehbar macht,

b) keine reine Sachstandsbeschreibungen vorgelegt, sondern aus den Befun-
den stets konkrete Handlungsempfehlungen abgeleitet werden;

2. Sozialverbände, Wissenschaftler/-innen und Praktiker/-innen mit einem zeit-
lich angemessenen Vorlauf in die Berichterstellung einzubeziehen und ihre
Impulse verbindlich in die Berichterstellung zu integrieren;

3. bei der Erhebung der Daten besonders benachteiligte und von Armut
bedrohte Bevölkerungsgruppen und Gruppen mit besonders stark steigender
Armut, wie die Rentner und Rentnerinnen, separat zu untersuchen, ihre spe-
zifischen Lebensumstände zu analysieren und konkrete Handlungsempfeh-
lungen zur Verbesserung ihrer Lebenssituation vorzulegen;

4. die Berichterstattung um die Beschreibung und Analyse von extremer Armut,
beispielsweise die Entwicklung der Zahl von Wohnungs- und Obdachlosen,
zu ergänzen;

5. insgesamt den Armuts- und Reichtumsbericht als sozialpolitischen Rechen-
schaftsbericht der Regierungsarbeit aufzufassen und dabei

a) eine ergebnisoffene Berichterstattung zu betreiben,

b) wissenschaftlich validierte Daten zu verwenden, um dem Informations-
zweck der Armuts- und Reichtumsberichterstattung zu entsprechen,

c) eine deutliche Problemorientierung an den Tag zu legen und damit die
politische Verantwortlichkeit für die Armutsbekämpfung zu bekräftigen;

6. Armut als ein strukturelles gesellschaftliches Problem anzuerkennen, dessen
Ausprägungen sich im Laufe der Zeit verändern, und dementsprechend auch
potentielle Gefahrenlagen und perspektivisch armutsanfällige Personen-

gruppen zu berücksichtigen;

Drucksache 17/13911 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
7. Ausmaß und Ursachen der verdeckten Armut in die Berichterstattung zu
integrieren;

8. der Armutsgefährdung von Kindern und Jugendlichen besondere Aufmerk-
samkeit zu widmen und bei den politischen Initiativen auf die eigenstän-
dige Sicherung von Kindern und Jugendlichen hinzuwirken;

9. die besonderen Lebenslagen armutsgefährdeter Jugendlicher zu unter-
suchen und alle Mittel auszuschöpfen, um eine Verfestigung von Armut im
Übergang in die selbständige Lebensgestaltung zu verhindern;

10. die besonderen Armutsrisiken, die aus flexiblen Beschäftigungsverhältnis-
sen erwachsen, umfassend zu erheben und Arbeitnehmer/-innen durch eine
Anpassung der rechtlichen Rahmenbedingungen (bei Minijobs, Leiharbeit
und Werkverträgen) konsequent zu schützen;

11. den Bereich der Reichtums- und Vermögensentwicklung fundiert und diffe-
renziert zu erforschen, die entsprechenden Daten explizit zur Armutsent-
wicklung ins Verhältnis zu setzen und Armut und Reichtum bei der Ent-
wicklung von Handlungsansätzen gemeinsam einzubeziehen.

Berlin, den 12. Juni 2013

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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