BT-Drucksache 17/13569

Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes

Vom 16. Mai 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/13569
17. Wahlperiode 16. 05. 2013

Gesetzentwurf
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Beate Müller-Gemmeke, Kai Gehring,
Ingrid Hönlinger, Memet Kilic, Jerzy Montag, Dr. Konstantin von Notz, Wolfgang
Wieland, Josef Philip Winkler und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Allgemeinen Gleichbehandlungs-
gesetzes

A. Problem

Die im § 9 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) geregelte sog.
Kirchenklausel geht im Absatz 1 über die europäische Richtlinie 2000/78/EG
vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die
Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (Gleich-
behandlungsrichtlinie, Artikel 4 Absatz 2) hinaus. Die deutsche Bestimmung
erlaubt den Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften eine bestimmte
berufliche Anforderung allein aufgrund ihres Selbstbestimmungsrechts festzu-
legen, ohne dass diese in Bezug auf die konkrete Tätigkeit oder die Umstände
ihrer Ausübung auch einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unterworfen ist. Ferner
setzt sie für zulässige unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder
Weltanschauung lediglich eine „gerechtfertigte“ berufliche Anforderung voraus,
obwohl die Gleichbehandlungsrichtlinie eine „wesentliche, rechtmäßige und ge-
rechtfertigte“ berufliche Anforderung verlangt.

Durch die Regelung des Absatzes 2 wird eine weitere Ausnahme vom allgemei-
nen Benachteiligungsverbot zugunsten der Religions- oder Weltanschauungsge-
meinschaften sowie deren Einrichtungen und Vereinigungen gemacht, die auf
das individuelle Verhalten der Beschäftigten zielt. Danach können sie von ihren
Beschäftigten ein loyales und aufrichtiges Verhalten verlangen. Damit ist den
Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften erlaubt, den in ihren Einrich-
tungen Beschäftigten bestimmte Lebensführungspflichten abzuverlangen, die in
den Bereich der Privatsphäre hineinreichen. Der Verstoß gegen Loyalitätsoblie-
genheiten wie die Eingehung bestimmter Rechtsverhältnisse („Verpartnerung“)
oder die Auflösung bestimmter Verträge („Scheidung“) hat im Extremfall die
Kündigung zur Folge. In der Praxis macht vor allem die Katholische Kirche von
diesen Möglichkeiten Gebrauch, was verfassungs- und europarechtlich proble-
matisch ist.
B. Lösung

Die sog. Kirchenklausel im AGG soll europarechtskonform umgestaltet werden.

Drucksache 17/13569 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

C. Alternativen

Keine.

D. Kosten

Keine.

Deutscher Bundestag – 17. ucksache 17/13569

Entwurf eines Gese behandlungs-
gesetzes

Berlin, den 14. Mai 2013

Renate Künast, Jürgen T
Wahlperiode – 3 – Dr

tzes zur Änderung des Allgemeinen Gleich

Vom …

Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen:

Artikel 1

Änderung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes

§ 9 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes vom
14. August 2006 (BGBl. I S. 1897), das durch Artikel 8 des
Gesetzes vom 3. April 2013 (BGBl. I S. 610) geändert wor-
den ist, wird wie folgt geändert:

1. Absatz 1 wird wie folgt gefasst:

„(1) Ungeachtet des § 8 ist eine unterschiedliche Be-
handlung wegen der Religion oder der Weltanschauung
bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften,
die ihnen zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht
auf ihre Rechtsform oder durch Vereinigungen, die sich
die gemeinschaftliche Pflege einer Religion oder Weltan-
schauung zur Aufgabe machen, auch zulässig, wenn eine
bestimmte Religion oder Weltanschauung unter Beach-
tung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religions-
gemeinschaft oder Vereinigung im Hinblick auf ihr
Selbstbestimmungsrecht und nach der Art der Tätigkeit
eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte beruf-
liche Anforderung darstellt.“

2. Dem Absatz 2 werden die folgenden Sätze angefügt:

„Eine Berufung auf dieses Recht scheidet aus, soweit
nach den Umständen des Einzelfalls die getroffene ar-
beitsrechtliche Maßnahme nicht im angemessenen Ver-
hältnis zur Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts
steht. Die Benachteiligungsverbote wegen eines anderen
in § 1 genannten Grundes bleiben vom Satz 1 unberührt.“

Artikel 2

Inkrafttreten

Dieses Gesetz tritt am Tag nach der Verkündung in Kraft.

rittin und Fraktion

zu können. Die Caritas oder die Diakonie können Bewerbe- zu bringen. Der Frage, welchem Rechtsgut dabei der Vor-
rinnen oder Bewerber auf eine Stelle ablehnen oder Beschäf-
tigten kündigen, die gegen die Sitten und Moralvorstellun-
gen der jeweiligen Kirche verstoßen, und dies unabhängig

rang einzuräumen ist, liege immer eine Interessenabwägung
zugrunde.

Das BAG führte in seiner Entscheidung vom 8. September
Drucksache 17/13569 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Begründung

A. Allgemeines

Das Verfassungsverständnis vom praktisch schrankenlosen
kirchlichen Selbstbestimmungsrecht auch in Bezug auf das
kirchliche Arbeitsrecht stammt aus einer Zeit, als die Bürge-
rinnen und Bürger der Bundesrepublik fast ausnahmslos ei-
ner der beiden großen christlichen Konfessionen angehörten,
als Homosexualität strafbar war, nichteheliches Zusammen-
leben als sittenwidrig galt, Ehescheidungen erschwert und
selten waren. Heute hat sich das Grundrechtsverständnis zur
freien Entfaltung der Persönlichkeit wie zum Grundsatz der
Nichtdiskriminierung deutlich verändert, haben sich die
Lebensweisen stark pluralisiert, ebenso die konfessionelle
Zusammensetzung der Bevölkerung. Waren in den 50er-Jah-
ren fast alle Deutschen Mitglied einer christlichen Kirche,
gehören heute noch 60 Prozent der Bevölkerung der katho-
lischen bzw. einer evangelischen Kirche an, ca. 5 Prozent
sind muslimischen Glaubens und ca. 0,3 Prozent jüdischen
Glaubens.

Wir leben und arbeiten in einer pluralistischen Welt, auch die
kirchlichen Einrichtungen werden damit zu Dienstleistern
für Menschen aller Religionen und Weltanschauungen, die
ihr Leben nach eigenem Gewissen gestalten. Sie arbeiten für
alle Bürgerinnen und Bürger und werden von ihnen finan-
ziert. In dieser Funktion – als Dienstleister und Arbeitgeber
im sozialen Bereich – müssen sie sich der Verantwortung be-
wusst sein, die mit ihrer herausgehobenen Rolle in Bezug auf
gesellschaftliche Pluralität einhergeht.

Das Selbstbestimmungsrecht nach Artikel 137 Absatz 3 der
Weimarer Reichsverfassung (WRV) für den karitativen
Bereich gewann erst seit Gründung der Bundesrepublik
Deutschland an Bedeutung. Die Kirchen regelten in der Wei-
marer Republik die Dienst- und Arbeitsverhältnisse ihrer
Beschäftigten nicht eigenständig. Dies war darauf zurückzu-
führen, dass die kirchlichen Einrichtungen im karitativen
Bereich in der Weimarer Republik eigenständige Rechts-
träger waren und – anders als heute – nicht dem kirchlichen
Bereich zugeordnet wurden. Mit der Einführung des Bun-
des-Sozialhilfe-Gesetzes von 1961 wurde der Vorrang der
freien Träger in der Sozial- und Jugendhilfe festgeschrieben,
wodurch ein großer Teil der Leistungskapazitäten von Cari-
tas und Diakonie geschaffen wurde. Die heutige Situation
der starken Stellung christlicher Einrichtungsträger ist eine
Folge der damaligen Ausweitung der Subsidiarität in der
Wohlfahrtspflege.

Nach bislang herrschender und auf die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) aus den achtziger Jah-
ren basierender Meinung ist es den Religionsgemeinschaften
und ihren Einrichtungen gestattet, von all ihren Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeitern auch im außerdienstlichen Bereich
ohne Sachbezug zur ausgeübten Tätigkeit ein loyales Verhal-
ten im Sinne ihres jeweiligen Selbstverständnisses verlangen

garten-Träger die Bewerbung einer wiederverheirateten ge-
schiedenen Frau, die als Reinigungskraft arbeiten möchte,
ablehnen. Oder einem Krankenpfleger kann gekündigt wer-
den, wenn der Arbeitgeber von seiner gleichgeschlecht-
lichen Verpartnerung erfährt. Die Katholische Kirche wertet
das Eingehen einer eingetragenen Lebenspartnerschaft nach
dem Beschluss des ständigen Rates der Bischofskonferenz
vom 24. Juni 2002 als schwerwiegenden Loyalitätsverstoß
gegenüber der Auffassung von Ehe und Familie, wie sie die
katholische Kirche lehrt.

In ihrer Praxis berufen sich die Kirchen und ihnen angehö-
rige Einrichtungen auf die im Allgemeinen Gleichbehand-
lungsgesetz festgeschriebenen weitreichenden Ausnahmen
des § 9.

Menschen, die für soziale Berufe ausgebildet sind und in
Gegenden mit fast ausschließlich kirchlichen Einrichtungen
leben, können bei Durchsetzung solcher Loyalitätsanforde-
rungen unüberwindbare Schwierigkeiten in der Berufsaus-
übung begegnen. Gleiches gilt für Bewerberinnen bzw. Be-
werber oder Beschäftigte, die der katholischen bzw. evange-
lischen Kirche nicht angehören. Sie werden oftmals im so-
zialen Bereich der Caritas oder der Diakonie gar nicht
beschäftigt unabhängig der Nähe der Aufgabe zum Verkün-
digungsauftrag der Vereinigung.

Allerdings wurden der durch Artikel 140 des Grundgesetzes
i. V. m. Artikel 137 Absatz 3 WRV garantierten Autonomie
der Kirchen, ihre Angelegenheiten in den Grenzen der allge-
meinen Gesetze frei von staatlicher Einflussnahme regeln zu
dürfen, in den jüngsten Entscheidungen des Europäisches
Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) und des Bun-
desarbeitsgerichtes (BAG) engere Schranken gezogen.

Der EGMR setzt in seinen jüngsten Entscheidungen deutlich
andere Akzente als die bisherige Rechtsprechung des
BVerfG (Urteile vom 23. September 2010 in den Sachen
Obst gegen Deutschland (425/03) und Schüth gegen
Deutschland (1620/03)). Während das BVerfG in seinen in-
zwischen fast 30 Jahre alten Entscheidungen bei der Güter-
abwägung zwischen den Grundrechten betroffener Beschäf-
tigter und dem kirchlichen Selbstverwaltungs- und Selbstbe-
stimmungsrecht den Vorrang grundsätzlich dem Letzteren
einräumt, verlangt nun der EGMR einen gerechten Aus-
gleich zwischen mehreren konfligierenden Interessen. Hin-
sichtlich der Kündigung von kirchlichen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern wegen „sittlicher Verfehlungen“, die nach
den Grundsätzen der betreffenden Kirche als schwerwie-
gende Sünde einzuordnen sind, gelte es, einen Ausgleich
zwischen den Grundrechten des Mitarbeiters oder der Mit-
arbeiterin einerseits und dem Selbstbestimmungsrecht der
Kirchen zu finden. Bei solchem Aufeinandertreffen mehre-
rer grundgesetzlich geschützter Rechtsgüter seien diese im
Wege der praktischen Konkordanz miteinander in Einklang
davon, ob die Beschäftigung im Verkündigungsbereich liegt
oder nicht. Beispielsweise kann ein konfessioneller Kinder-

2011 aus, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der
kirchlichen Einrichtungen zur Loyalität zwar verpflichtet

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/13569

sind und religiöse Glaubenssätze beachten müssen. Das Ge-
richt stellte allerdings klar, dass eine Kündigung nur dann
gerechtfertigt ist, wenn der Loyalitätsverstoß auch bei Ab-
wägung der Interessen beider Vertragsteile im Einzelfall ein
hinreichend schweres Gewicht hat (2 AZR 543/10).

Mit dieser Rechtsprechung werden aus der neuen Rolle
kirchlicher Einrichtungen im sozialen Bereich Konsequen-
zen gezogen und Rechte der Beschäftigten, deren Tätigkeit
nicht in einer besonderen Nähe zu den Aufgaben der gemein-
schaftlichen Pflege einer Religion oder Weltanschauung
steht, aufgewertet. Dennoch bleibt der Wortlaut des § 9 AGG
unklar und in der Literatur umstritten. Das führt zu großer
rechtlichen Unsicherheit für die Beschäftigten und genügt
nicht den Anforderungen des Transparenzgebots.

Aber auch die Kirchen ändern ihre Positionen beispielsweise
gegenüber Homosexualität oder wiederverheirateten Ge-
schiedenen. Die 1997 erschienene Ausgabe des Katechismus
der katholischen Kirche spricht von Achtung, Mitleid und
Takt, mit denen man homosexuellen Personen begegnen soll.
Sie sollten nicht diskriminiert werden: „Man hüte sich, sie in
irgend einer Weise ungerecht zurückzusetzen.“ (KKK 2358).

Ferner soll der Umgang mit wiederverheirateten Geschiede-
nen überdacht werden. Im Herbst 2012 bei ihrer Vollver-
sammlung in Fulda setzte die Deutschen Bischofskonferenz
eine Arbeitsgruppe ein, die entsprechende Vorschläge erar-
beiten soll. Wie die Presse berichtet hat, sahen die Bischöfe
Handlungsspielraum offenbar im kirchlichen Arbeitsrecht.
So könnten künftig Angestellte von Kirche und Caritas, etwa
Kindergärtnerinnen, Ärzte oder Sozialarbeiter, nach Schei-
dung und neuer ziviler Heirat möglicherweise nicht mehr
ohne weiteres ihre Stelle verlieren.

Damit ist der auf diese Fragen bezogene Befund, was dem
Ethos und der Lehre der Organisation entspricht, zumindest
nicht so eindeutig, das auf ihn negative arbeitsrechtliche Ent-
scheidungen gegründet werden können.

B. Einzelbegründung

Zu Artikel 1 (Änderung des Allgemeinen Gleich-
behandlungsgesetzes)

Zu Nummer 1 (§ 9 Absatz 1 AGG)

§ 9 Absatz 1 AGG bestimmt, dass eine unterschiedliche Be-
handlung wegen der Religion oder Weltanschauung zulässig
ist, „wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung
unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen
Religionsgemeinschaft oder Vereinigung im Hinblick auf ihr
Selbstbestimmungsrecht oder nach der Art der Tätigkeit eine
gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt“.

Danach genügt es, wenn eine bestimmte diskriminierende
Praxis eines kirchlichen Arbeitgebers dem Selbstverständnis
der Kirche entspricht. Wie sich aus dem zusätzlich eingefüg-
ten Wort „oder“ ergibt, kommt es nicht darauf an, ob die
Religion oder Weltanschauung nach Art der Tätigkeit eine
gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt. Dadurch ist
die Vorschrift der Rechtsprechung des BVerfG zum Selbst-
bestimmungsrecht der Kirchen angeglichen worden.

wie den evangelischen Pfarrern und den evangelischen und
katholischen Kirchenbeamten einerseits und den sonstigen
Bediensteten der Kirchen andererseits.

Für die erste Gruppe gilt ausschließlich kirchliches Recht.
Für die sonstigen Bediensteten der Kirchen gilt das allge-
meine Arbeitsrecht. Diese Personengruppe ist sehr groß, da
zum Bereich der Kirchen nicht nur die eigentlichen Kirchen-
verwaltungen und ihre rechtlich selbstständigen Teile gehö-
ren, sondern auch alle sonstigen Einrichtungen, die den Kir-
chen zugeordnet sind. Demgemäß zählen zu den sonstigen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kirchen – auch zah-
lenmäßig – vor allem die Beschäftigten in den Einrichtungen
der Caritas, der Inneren Mission und der Diakonie, in den
kirchlichen Kindergärten und Kindertagesstätten, in den
Krankenhäusern, Alters- und Pflegeheimen. Für sie gilt zwar
das allgemeine Arbeitsrecht, aber mit erheblichen Abwei-
chungen.

Nach der Rechtsprechung des BVerfG darf bei der Prüfung
der Sozialadäquanz von Kündigungen das den Kirchen ge-
währte Selbstbestimmungsrecht nicht außer Betracht blei-
ben. Es berechtigt die Kirchen, ihren Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter die Beachtung jedenfalls der tragenden Grund-
sätze der kirchlichen Glaubens- und Sittenlehre aufzuerlegen
und zu verlangen, dass sie nicht gegen die fundamentalen
Verpflichtungen verstoßen, die sich aus ihrer Zugehörigkeit
zur Kirche ergeben und die jedem Kirchenmitglied obliegen.
Deshalb enthalten die Arbeitsverträge üblicherweise beson-
dere Klauseln, durch die den Beschäftigten die Pflicht auf-
erlegt wird, ihre persönliche Lebensführung nach der Glau-
bens- und Sittenlehre sowie den übrigen Normen der betref-
fenden Kirche auszurichten.

Aus dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen leitet das
BVerfG ferner ab, dass nicht die staatlichen Gerichte, son-
dern allein die Kirchen darüber zu entscheiden haben, wel-
ches die tragenden Grundsätze ihrer Glaubens- und Sitten-
lehre sind, welche davon arbeitsvertraglich auch im außer-
dienstlichen Bereich eingehalten werden müssen und was als
schwerer Verstoß gegen diese Grundsätze anzusehen ist.
Handelt es sich danach um einen Verstoß gegen Grund-
pflichten, die jedes Mitglied der Kirche zu erfüllen hat,
rechtfertigt das die Kündigung auch solcher Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer, die nicht mit geistig-religiösen
Verkündigungsaufgaben betraut sind. Dazu zählen z. B. der
Kirchenaustritt und das öffentliche Eintreten von Beschäf-
tigten katholischer Einrichtungen für die Legalisierung der
Abtreibung.

Nach der jetzigen Fassung des § 9 Absatz 1 AGG hat sich an
dieser Rechtslage nichts geändert.

Nach Artikel 4 Absatz 2 der Gleichbehandlungsrichtlinie
sind dagegen Benachteiligungen nur zulässig, „wenn die
Religion oder Weltanschauung dieser Person nach der Art
dieser Tätigkeiten oder den Umständen ihrer Ausübung eine
wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche An-
forderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt“.
Danach kommt es nicht nur auf das „Ethos“ der Organisation
an, sondern auch auf die Art der Tätigkeit oder die Umstände
ihrer Ausübung. Deshalb darf z. B. ein katholisches Kran-
kenhaus einen Krankenpfleger, der aus der Katholischen
Kirche austritt, nicht entlassen, wenn in dem Krankenhaus
Diese Rechtsprechung unterscheidet zwischen den katho-
lischen Klerikern, Ordensangehörigen und Diakonissen so-

ein ins Gewicht fallender Anteil der Pflegerinnen und Pfle-
ger keiner Kirche angehört. Nach § 9 Absatz 1 AGG ist das

Drucksache 17/13569 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

dagegen weiterhin möglich. Die Vorschrift ist deshalb nicht
mit der Gleichbehandlungsrichtlinie zu vereinbaren.

Im Falle eines Widerspruchs zwischen dem nationalen Recht
und einer Richtlinie müssen die nationalen Gerichte das na-
tionale Recht so auslegen, dass Widersprüche zur Richtlinie
möglichst vermieden werden. Das ist hier in der Weise
möglich, dass man den von § 9 Absatz 1 AGG verwandten
Begriff „Selbstverständnis der jeweiligen Religionsgemein-
schaft“ darauf bezieht, von welchen Grundsätzen sich die
betreffende Kirche bei der Einstellung und Entlassung ihres
Personals an der Einrichtung leiten lässt, in der der gekün-
digte Mitarbeiter beschäftigt war. Das genügt aber nicht den
Anforderungen des Transparenzgebots.

Darüber hinaus verlangt Artikel 4 Absatz 2 der Gleich-
behandlungsrichtlinie, dass das betreffende Merkmal „eine
wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche An-
forderung“ darstellen muss, während § 9 Absatz 1 AGG dies
zu einer „gerechtfertigten beruflichen Anforderung“ ver-
kürzt hat.

Die Kriterien wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt sind
erfüllt, wenn die Anforderung angesichts des Ethos der Or-
ganisation eine nachvollziehbare und angemessene Voraus-
setzung für den jeweiligen Beruf darstellt und anderenfalls
das Selbstbestimmungsrecht der Organisation nachhaltig ge-
fährdet wäre.

Zu Nummer 2 (§ 9 Absatz 2 AGG)

Bereits die europarechtliche Bestimmung selbst macht durch
ihre Systematik (Artikel 4 Absatz 2 bezieht sich lediglich auf
Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltan-
schauung) und die Formulierung „Sofern die Bestimmungen
dieser Richtlinie im übrigen eingehalten werden…“ klar,
dass die Ziele der Richtlinie nicht dadurch unterlaufen wer-
den dürfen und Benachteiligungen wegen anderer Merkmale
(z. B. sexuelle Identität) grundsätzlich zulässig wären.

Auch die Erwägungsgrunde zu der Gleichstellungsrichtlinie
verdeutlichen, dass Ungleichbehandlungen aufgrund der Re-
ligion oder der Weltanschauung als Ausnahmetatbestand
(„unter sehr begrenzten Bedingungen…“) nur zulässig sind,
wenn ein Merkmal eine wesentliche und entscheidende An-
forderung darstellt und sofern es sich um einen rechtmäßigen
Zweck und eine angemessenen Anforderung handelt (Erwä-
gungsgründe 23 und 24). Aus diesen Gründen soll deshalb

nicht jede Loyalitätspflicht in Betracht kommen, die sich aus
dem Selbstverständnis der jeweiligen Gemeinschaft ableitet,
insbesondere auch das Verhalten im privaten und persön-
lichen Bereich. Einschlägig muss vielmehr nur das Maß an
Loyalität, das für die Ausübung der konkreten Tätigkeit eine
wesentliche, entscheidende und gerechtfertigte berufliche
Anforderung darstellt. Für alle Tätigkeiten, die außerhalb
der unmittelbaren „Verkündigungsarbeit“ angesiedelt sind
bzw. die ohne direkte Leitungs- oder Vorbildfunktionen sind,
dürfen nur reduzierte Loyalitätsanforderungen entsprechend
den vertraglichen Nebenpflichten gelten. Für diakonische
und karitative Einrichtungen gilt dazu, dass das religiöse
Ethos für die Tätigkeit umso weniger prägend ist oder von
Bedeutung sein kann, desto höher der fremdfinanzierte An-
teil ausfällt. Dem Erfordernis dieser Verhältnismäßigkeits-
prüfung soll der erste angefügte Satz Rechnung tragen.

Darüber hinaus wird mit dem zweiten angefügten Satz klar-
gestellt, dass sich die Merkmale „loyal und aufrichtig“ auf
Benachteiligung wegen der Religion oder der Weltanschau-
ung beziehen. Sie verbieten, dem Ethos der Einrichtung ge-
zielt entgegenzutreten. Das Recht, Verhaltensanforderungen
festzulegen, darf das Verbot der Diskriminierung aus allen
anderen im § 1 AGG genannten Gründen nicht unterlaufen
und beispielsweise zu Ungleichbehandlungen wegen ethni-
scher Herkunft führen. Und auch Homosexualität darf nicht
als „illoyales oder unaufrichtiges Verhalten“ untersagt wer-
den, da der Betroffene hier nicht wegen der Religion, son-
dern wegen der sexuellen Identität benachteiligt wird. Nach
den Regeln der Glaubens- und Sittenlehre der katholischen
Kirche kann zwar von einem Arbeitnehmer verlangt werden,
auch im außerdienstlichen Bereich seine Lebensführung so
einzurichten, dass sie den grundlegenden Gesetzen der Kir-
che entspricht. Hierzu darf aber nicht das Verbot einer homo-
sexuellen Partnerschaft gehören.

Dem entspricht jedoch der bisherige Wortlaut des Gesetzes
nicht und führt zu rechtliche Unsicherheit. Da die Rechtslage
auch im nationalen Kontext durch Gesetz klar zu machen ist,
wird eine Klarstellung nunmehr auch im Gesetzestext vorge-
sehen.

Zu Artikel 2 (Inkrafttreten)

Die Vorschrift regelt das Inkrafttreten des Gesetzes.

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