BT-Drucksache 17/13103

Wiedereingliederung fördern - Gefangene in die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung einbeziehen

Vom 17. April 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/13103
17. Wahlperiode 17. 04. 2013

Antrag
der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, Heidrun
Dittrich, Klaus Ernst, Ulla Jelpke, Katja Kipping, Jutta Krellmann, Yvonne Ploetz,
Dr. Ilja Seifert, Kathrin Senger-Schäfer, Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Jörn
Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Wiedereingliederung fördern – Gefangene in die Renten-, Kranken- und
Pflegeversicherung einbeziehen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Bis heute unterliegen Strafgefangene und Sicherungsverwahrte in der Bundes-
republik Deutschland einer gesetzlichen Arbeitspflicht. Ihre Arbeitstätigkeit
wird aber nicht im gleichen Maße sozialrechtlich geschützt wie Arbeit außer-
halb der Haft. Nach der derzeitigen Gesetzeslage sind alle Gefangenen zwar
ausdrücklich in die Unfall- und Arbeitslosenversicherung (§ 2 Absatz 2 Satz 2
SGB VII sowie § 26 Absatz 1 Nummer 4 SGB III), aber nur ein kleiner Teil ist
in die Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung einbezogen.

Diese bislang unvollständig gebliebene ausdrückliche Einbeziehung in die
Sozialversicherung bedeutet eine besondere Härte für viele Gefangene und ein
uneingelöstes Versprechen der Politik.

Dass Gefangene in die Sozialversicherungen einbezogen werden sollen, ist
bereits vor 35 Jahren im Rahmen einer grundlegenden Gesamtreform des Straf-
vollzugswesens mit Erlass des Strafvollzugsgesetzes (StVollzG) festgelegt wor-
den. Damals wie heute gilt, dass es „nicht gerechtfertigt ist, neben den not-
wendigen Einschränkungen, die der Freiheitsentzug unvermeidbar mit sich
bringt, weitere vermeidbare wirtschaftliche Einbußen zuzufügen“ (Bundestags-
drucksache 7/918, S. 67). Doch das damals in den §§ 190 ff. StVollzG angekün-
digte besondere Bundesgesetz, mit dem die Gefangenen in die Sozialversiche-
rungen einbezogen werden könnten, ist bis heute verzögert und verschoben
worden.

Nach eigenem Bekunden hält die Bundesregierung „die Einbeziehung von
Strafgefangenen in die gesetzliche Rentenversicherung weiterhin für sinnvoll“
(Bundestagsdrucksache 17/6589, vom 15. Juli 2011). Sie verweigert sich einer
Initiative jedoch weiterhin mit dem Verweis auf die finanziellen Vorbehalte der
Länder, denen Kosten durch Sozialversicherungsbeiträge entstünden. Diese

finanziellen Gründe sind in Anbetracht des aus der Menschenwürde folgenden
Resozialisierungsgebots und des verfassungsrechtlich verankerten Sozialstaats-
prinzips nicht akzeptabel. Die Entlohnung jeglicher Form von Pflichtarbeit von
Gefangenen durch ein angemessenes Arbeitsentgelt sowie der soziale Schutz
für Gefangene in der Renten- und Kranken- sowie Pflegeversicherung sind ge-
boten, um diesen Prinzipien gerecht zu werden und das für den Strafvollzug
maßgebliche Ziel der Resozialisierung erreichen zu können.

Drucksache 17/13103 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Der Einbeziehung der pflichtarbeitenden Gefangenen in die Sozialversicherung
bedarf es als Interimslösung bis zur erforderlichen vollständigen Abschaffung
der Pflichtarbeit. Ebenso ist die angemessene Entlohnung von erwerbstätigen
Gefangenen sicherzustellen. Beides unterliegt der Gesetzgebungskompetenz
der Bundesländer, welche nun endlich aktiv werden müssen.

Statt einer Arbeitspflicht sollte in den Strafvollzugsgesetzen ein Recht auf Ar-
beit festgeschrieben werden. In den meisten Justizvollzugsanstalten sind der
Bedarf und der Wunsch nach Arbeit erheblich größer als die Anzahl der vorhan-
denen Arbeitsplätze. Sinnvolle Arbeit kann aber einen wesentlichen Beitrag zur
Resozialisierung von Gefangenen nach der Entlassung beitragen und setzt den
Angleichungsgrundsatz um, der besagt, dass die Verhältnisse innerhalb der An-
stalt soweit es geht den Verhältnissen der Außenwelt angeglichen werden sollen.
Zudem wird den Gefangenen so ermöglicht, durch ihre Erwerbstätigkeit etwaige
Entschädigungsansprüche der Opfer der von ihnen verübten Straftaten zu erfül-
len und so Wiedergutmachung zu leisten. Um eine weitestgehende Beschäf-
tigung zu erreichen und die Anstalten anzuhalten, eine ausreichende Zahl von
Arbeitsplätzen zur Verfügung zu stellen, ist die Gewährung eines individuellen
einklagbaren Anspruchs auf einen Arbeitsplatz das effektivste Mittel.

Das von den Gefangenen erwirtschaftete angemessene Einkommen soll neben
der Deckung ihres Bedarfs und dem ihrer unterhaltsberechtigten Angehörigen
auch den Opfern der von ihnen verübten Straftaten zu Gute kommen. Daher
sind die Pfändungsvorschriften entsprechend zu gestalten und ihnen Vorrang
gegenüber anderen Gläubigern einzuräumen.

Außerdem sollte als Akt der Solidarität des Staates und seiner Bürgerinnen und
Bürger mit den Opfern schwerer Gewalttaten ein Härtefonds durch den Bund
eingerichtet werden, der über das Opferentschädigungsgesetz hinaus den Be-
troffenen schnell und unbürokratisch hilft und auch Schmerzensgeld, Ersatz bei
Unterhaltsausfall oder bei Schäden im beruflichen Fortkommen gewährt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem die Bestimmungen der gesetz-
lichen Rentenversicherung (SGB VI), der gesetzlichen Krankenversicherung
(SGB V) und der sozialen Pflegeversicherung (SGB XI) dahingehend ge-
ändert und erweitert werden, dass

a) Strafgefangene und Sicherungsverwahrte in die gesetzliche Rentenver-
sicherung und in die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung einbe-
zogen werden,

b) die im Strafvollzug geleistete Arbeit in der gesetzlichen Rentenversiche-
rung und der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung paritätisch
beitragspflichtig und anspruchsbegründend wird,

c) Strafgefangene und Sicherungsverwahrte mit Gelegenheit zur Berufs-
ausbildung, beruflicher Weiterbildung und anderer ausbildender oder wei-
terbildender Maßnahmen als im Sinne des § 1 Satz 1 Nummer 1 SGB VI
gegen Arbeitsentgelt oder zur Berufsausbildung als Beschäftigte gelten,

d) die Zeit des Strafvollzugs und der Sicherungsverwahrung von Gefange-
nen, die aus unterschiedlichen Gründen keiner Arbeit nachgegangen sind,
als rentenrechtliche Zeit gewertet wird, so dass

i) nach Erfüllen der allgemeinen Wartezeit der Anspruch auf Erwerbs-
minderungsrente aufrechterhalten bleibt,

ii) die Zeit des Strafvollzugs bei der 35-jährigen Wartezeit nach § 51 Ab-

satz 3 SGB VI berücksichtig wird,

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/13103

e) die Belange der ehemals in der DDR Inhaftierten berücksichtigt, für die
Zeiten des Arbeitseinsatzes während des Strafvollzugs als versicherungs-
pflichtige Zeiten galten, wofür aber nur ein Vertrauensschutz bei einem
Renteneintritt bis zum 31. Dezember 1996 gewährt wurde,

2. einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Pfändungsvorschriften im Bereich
des Strafvollzugs so gestaltet, dass Opfer von Straftaten, wegen denen die
Gefangenen inhaftiert sind, mit ihren Entschädigungsansprüchen gegenüber
anderen nicht unterhaltsberechtigten Gläubigern privilegiert werden,

3. einen Härtefonds für Opfer von schweren Gewalttaten einzurichten und
diesen im Entwurf des nächsten Haushaltsgesetzes mit einem Haushaltstitel
in angemessener Höhe zu berücksichtigen,

4. auf die Bundesländer einzuwirken,

a) die Arbeitspflicht für Strafgefangene und Sicherungsverwahrte abzu-
schaffen,

b) eine angemessene Entlohnung für erwerbstätige Gefangene sicherzustellen,

c) ein individuelles einklagbares Recht auf Arbeit für Gefangene einzu-
führen.

Berlin, den 17. April 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Grundsätzlich unterliegen alle Gefangenen nach geltender Rechtslage der Ar-
beitspflicht (§ 41 StVollzG, § 27 HStVollzG, § 38 HmbStVollzG, § 38 NJVollzG,
Artikel 43 BayStVollzG, § 47 JVollzGB), so dass die darauf begründeten öffent-
lich-rechtlichen Arbeitsverhältnisse nicht freiwillig sind. Zwar liegt ein Muster-
entwurf von zehn Bundesländern vor, der keine Arbeitspflicht mehr vorsieht.
Allerdings steht dieser bisher allein in Brandenburg unmittelbar vor der Umset-
zung (Landtag Brandenburg, Drucksache 5/6437). Freiwilligkeit gilt jedoch als
Grundmerkmal einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung gemäß § 7
Absatz 1 SGB IV (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. April 2007, L 21
R 1362/05, LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 13. August 2008, L 4 R 67/08).
Nach den Bestimmungen der gesetzlichen Rentenversicherung (§ 1 Satz 1 Num-
mer 1 SGB VI) und der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 5 Absatz 1 Num-
mer 1 SGB V) sind Gefangene deshalb in diese Sozialversicherungen nicht ein-
bezogen. Im Rahmen der Unfallversicherung (§ 2 Absatz 2 SGB VII) und der
Arbeitslosenversicherung (§ 26 Absatz 1 Nummer 4 SGB III) sind pflichtarbei-
tende Gefangene jedoch explizit einbezogen.

Laut einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1973 entspricht das Ge-
bot zur Resozialisierung von Gefangenen „dem Selbstverständnis einer Gemein-
schaft, die die Menschenwürde in den Mittelpunkt ihrer Wertordnung stellt und
dem Sozialstaatsprinzip verpflichtet ist. Als Träger der aus der Menschenwürde
folgenden und ihren Schutz gewährleistenden Grundrechte muss der verurteilte
Straftäter die Chance erhalten, sich nach Verbüßung seiner Strafe wieder in die
Gemeinschaft einzuordnen. Vom Täter aus gesehen erwächst dieses Interesse an
der Resozialisierung aus seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbin-
dung mit Artikel 1 GG. Von der Gemeinschaft aus betrachtet verlangt das So-

zialstaatsprinzip staatliche Vor- und Fürsorge für Gruppen der Gesellschaft, die

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auf Grund persönlicher Schwäche oder Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaft-
licher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert
sind; dazu gehören auch die Gefangenen und Entlassenen“ (BVerfG, Lebach-
Urteil vom 5. Juni 1973, 1 BvR 536/72, Rn. 72).

Das Verfassungsgericht hat dem Gesetzgeber zwar zur Verwirklichung des ver-
fassungsrechtlichen Resozialisierungsgebots einen weiten Spielraum eingeräumt
(BVerfG, Urteil vom 1. Juli 1998, 2 BvR 441/90), dennoch erscheint gerade im
Hinblick darauf, dass – im Rahmen des Bundesstrafvollzugsgesetzes sowie
auch in den bisher erlassenen Landesstrafvollzugsgesetzen – die Resoziali-
sierung maßgebliches Ziel des Strafvollzugs ist, die diesem Ziel offensichtlich
zuwiderlaufende Ausgrenzung aus dem staatlichen Sicherungssystem nicht
nachvollziehbar (so auch Schorn, Sozialversicherung im Strafvollzug, NZS
1995, 444, 446). Auch der Europarat empfiehlt den europäischen Staaten, arbei-
tende Gefangene in das staatliche Sozialversicherungssystem einzubeziehen
(Europäische Strafvollzugsgrundsätze, Die Empfehlungen des Europarates Rec
(2006)2, Empfehlung Nummer 26.17).

Zwar unterliegen alle Gefangenen der Arbeitspflicht, aber nicht für alle führt
eine in diesem Rahmen ausgeübte Arbeit zu einer Nichteinbeziehung in die
Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung. Gefangene, die als sogenannte
echte Freigänger in einem freien Beschäftigungsverhältnis außerhalb der Straf-
anstalt stehen (§ 39 Absatz 1 StVollzG), unterliegen der vollen Versicherungs-
pflicht und damit dem vollem Versicherungsschutz. Zu dieser Gruppe zählt
jedoch nur ein kleiner Teil der Gefangenen.

Obwohl alle Gefangenen gleichermaßen der Arbeitspflicht unterliegen, wird
ihre Pflichtarbeit nicht in gleichem Maße sozialrechtlich geschützt. Diese
Ungleichbehandlung ist auch im Hinblick auf Artikel 3 Absatz 1 des Grundge-
setzes (GG) problematisch (so auch Schorn, Sozialversicherung im Strafvoll-
zug, NZS 1995, 444, 445) und kann behoben werden, indem alle Strafgefange-
nen und Sicherungsverwahrten in die gesetzliche Renten-, Kranken- und Pfle-
geversicherung einbezogen werden. Auch das Bundessozialgericht geht davon
aus, dass die Unterscheidung zwischen der Beschäftigung in einem freien Be-
schäftigungsverhältnis (§ 39 StVollzG) und zugewiesener Arbeit (§ 37 i. V. m.
§ 41 StVollzG) eine sich aus der Abwicklung des Strafvollzugs ergebende Folge
ist, an die aber für die Zeit nach der Strafentlassung keine unterschiedlichen
Folgerungen hinsichtlich der sozialen Sicherung des Gefangenen geknüpft wer-
den dürfen (BSGE 48, 129, 134).

Die Nichteinbeziehung in die gesetzliche Renten-, Kranken- und Pflegever-
sicherung wirkt sich nicht während der Haftzeit auf die Gefangenen aus, son-
dern betrifft die Zeit nach der Haftentlassung. Denn die durch die Nichtver-
sicherung in der gesetzlichen Rente entstehenden Versicherungslücken führen
zu niedrigeren Altersrenten. Zudem sind Ansprüche auf eine Mitgliedschaft in
der Krankenversicherung der Rentner (KVdR), auf Leistungen der gesetzlichen
Pflegeversicherung, auf eine Erwerbsminderungsrente oder auf eine Altersrente
für langjährig Versicherte an bestimmte Vor- oder Mindestversicherungszeiten
geknüpft.

Die Krankenversicherung in Form der KVdR hat den Vorteil, dass versicherte
Rentnerinnen und Rentner nicht den vollen Beitragssatz an die Krankenkasse
zahlen müssen. Mit Ausnahme des zusätzlichen und von den Versicherten allein
zu tragenden Anteils von 0,9 Prozent zahlt der Rentenversicherungsträger die
Hälfte des Beitrags. Eine zentrale Zugangsvoraussetzung zur KVdR ist die
Vorversicherungszeit in Form der Neun-Zehntel-Belegung (§ 5 Absatz 1 Num-
mer 11, 11a SGB V). Sie bedeutet, dass in der zweiten Hälfte des Zeitraumes
von der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bis zum Rentenantrag

mindestens zu 90 Prozent eine freiwillige oder Pflichtversicherung in der ge-
setzlichen Krankenversicherung bestanden haben muss. Damit Gefangene nicht

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/13103

an der Vorversicherungszeit scheitern, müssen sie während der Zeit des Straf-
vollzugs in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert sein.

In der gesetzlichen Pflegeversicherung besteht eine Vorversicherungszeit (§ 33
Absatz 2 SGB XI), bei der in den zehn Jahren vor Antragstellung mindestens
zwei Jahre Mitgliedschaft- oder Mitversicherungszeit nachgewiesen werden
müssen. Bei einer darüber hinausgehenden Haftdauer wird ebenfalls der Sozial-
versicherungsanspruch verfehlt.

Um einen Anspruch auf eine Altersrente für langjährig Versicherte (§§ 36
und 236 SGB VI) zu erhalten, muss eine Mindestversicherungszeit (Wartezeit)
von 35 Jahren rentenrechtlicher Zeiten erfüllt sein. Diese Altersrente ist für
Altersjahrgänge ab 1952 die einzige Altersrentenart, die einen vorzeitigen Ren-
tenzugang ab dem 63. Lebensjahr ermöglicht, allerdings mit Abschlägen. Eine
Lösung spezifisch für die Gefangenen wäre, die Zeit der Freiheitsentziehung als
eigenständige rentenrechtliche Zeit einzuführen und auf die 35-jährige Warte-
zeit anzurechnen. Damit würden die entsprechenden Wartezeiten auch von
jenen Gefangenen erfüllt werden, die von der Arbeitspflicht ausgenommen sind
(§ 41 Absatz 1 StVollzG), denen keine Arbeit zugewiesen worden ist oder die
eine zugewiesene Arbeit verweigern.

Während durch die Nichteinbeziehung von Gefangenen in die gesetzliche Ren-
tenversicherung in der Regel bestimmte Ansprüche gar nicht erst entstehen,
können bei der Erwerbsminderungsrente sogar bereits erworbene Ansprüche
verloren gehen. Neben einer teilweisen respektive vollen Erwerbsminderung
und der allgemeinen Wartezeit (60 Monate Mindestversicherungszeit) müssen
während der letzen fünf Jahre vor Eintritt der Erwerbsminderung mindestens
36 Monate Pflichtbeiträge gezahlt worden sein (§ 43 Absatz 1 und 2 SGB VI).
Wer vor der Haftzeit die allgemeine Wartezeit erfüllt hat und nach einer mehr
als zwei Jahre andauernden, nicht rentenversicherten Haftzeit erwerbsgemin-
dert wird, hat keinen Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente. Dieser An-
spruch muss erst wieder durch Pflichtbeiträge erworben werden.

Die Lösung für die beschriebenen Probleme besteht in einer Pflichtversiche-
rung aller bisher nicht versicherten pflichtarbeitenden Gefangenen in der
gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung.

Damit würde auch dem Gebot des Strafvollzugsgesetzes, dass die Haftstrafe
nicht zusätzlich zum Freiheitsentzug zu Nachteilen führen darf, endlich Geltung
verschafft und dem Resozialisierungsgedanken auch in sozialrechtlicher Hin-
sicht Rechnung getragen.

Da die Zeiten für Arbeitseinsätze für ehemals in der DDR Inhaftierte, die als
versicherungspflichtige Zeiten galten, im Prozess der Rentenüberleitung zwar
Eingang in den Artikel 2 „Übergangsrecht nach den Vorschriften des Beitritts-
gebiets“ fanden, damit für Rentenzugänge bis zum 31. Dezember 1996 wirksam
wurden, aber danach ersatzlos wegfielen, ist eine vertrauensschutzwahrende
Regelung zu installieren.

Dabei sollte Berücksichtigung finden, dass die Betroffenen im großen Umfang
– oft außerhalb von Haftanstalten – in volkseigenen Betrieben eingesetzt waren
und ganze Produktionslinien durch sie aufrechterhalten wurden, so zum Bei-
spiel für den Export.

Unabhängig von der durch den Bundesgesetzgeber vorzunehmenden Einbezie-
hung der pflichtarbeitenden Gefangenen in die Sozialversicherung, ist die
Arbeitspflicht durch die Bundesländer im Rahmen ihrer Strafvollzugsgesetze
als unzeitgemäßes Relikt abzuschaffen. Der Bezug zur Arbeit soll vielmehr
durch ein individuelles und einklagbares Recht auf einen Arbeitsplatz positiv
ausgestaltet werden. Sinnvolle Arbeit kann einen wichtigen Beitrag zur Reso-

zialisierung von Gefangenen leisten, da sie so einen strukturierten und aus-

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gefüllten Tag haben und viele ihre Arbeit als sinnstiftend erleben. Dement-
sprechend sind der Bedarf und der Wunsch nach Arbeit in den meisten Anstal-
ten weit höher als die Anzahl vorhandener Arbeitsplätze. Durch das in den
Strafvollzugsgesetzen der Länder festzuschreibende Recht auf Arbeit sollen die
Anstalten dazu angehalten werden, den Bedarf durch geeignete Maßnahmen zu
decken. Bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze sollen Fähigkeiten und Nei-
gungen der Gefangenen berücksichtigt werden. So wird Arbeit nicht mehr als
Teil des den Gefangenen auferlegten Strafübels ausgestaltet, sondern allein als
Mittel zur Resozialisierung. Dies entspricht auch den europäischen Strafvoll-
zugsgrundsätzen, wonach Gefangenenarbeit als positiver Bestandteil des Straf-
vollzugs ausgestaltet sein soll und nie zur Bestrafung eingesetzt werden darf
(Europäische Strafvollzugsgrundsätze, Die Empfehlungen des Europarates Rec
(2006)2, Empfehlung Nummer 26.1).

Die derzeitige durchschnittliche Entlohnung der Gefangenen in Höhe von
1,50 Euro pro Stunde ist unangemessen niedrig. Die Bundesländer sind zur Ver-
wirklichung des Resozialisierungs- und Angleichungsgrundsatzes angehalten,
eine angemessene Entlohnung der in ihren Justizvollzugsanstalten inhaftierten
arbeitenden Gefangenen sicherzustellen.

Das Recht auf Arbeit ebenso wie die angemessene Entlohnung würden auch den
Opfern von Straftaten zu Gute kommen. Die Möglichkeit der Gefangenen zur
Begleichung ihrer Entschädigungsansprüche wird so erhöht. Um ihre Chancen
auf Entschädigung weiter zu erhöhen, sind die Pfändungsvorschriften im Be-
reich des Strafvollzugs so zu gestalten, dass Opfer von Straftaten mit ihren Ent-
schädigungsansprüchen gegenüber anderen nicht unterhaltsberechtigten Gläu-
bigern grundsätzlich privilegiert werden. Das schließt auch die Abänderung be-
stehender Vorschriften wie des § 50 des Strafvollzugsgesetzes des Bundes, nach
dem die Erhebung des Haftkostenbeitrags beim Gefangenen nicht zu Lasten der
Unterhaltsberechtigten erfolgen darf, ein. Diese Privilegierung sollte auf Ent-
schädigungsansprüche der Opfer von Straftaten, wegen denen der Gefangene
inhaftiert ist, ausgeweitet werden. Die Gesetzgebungskompetenz dafür ist beim
Bund verblieben, da der Pfändungsschutz als Teil der Vollstreckung zum ge-
richtlichen Verfahren nach Artikel 74 Absatz 1 Nummer 1 GG gehört (vgl. § 83
HStVollzG, § 130 HmbStVollzG, Artikel 208 BayStVollzG, Landtag Branden-
burg Drucksache 5/6437, Brandenburgisches Justizvollzugsgesetz, Begründung
S. 2).

Der Versuch der Gefangenen und ernsthafte Wille zur Wiedergutmachung der
Folgen der Tat und zur Entschädigung der Opfer sollte bei einer vorzeitigen
Entlassung nach den §§ 57, 57a StGB berücksichtigt werden.

Zugunsten der Opfer und um Härten für sie bei Zahlungsunfähigkeit der Straf-
täterinnen und Straftäter zu vermeiden, ist ein Härtefonds für Opfer schwerer
Gewalttaten, worunter auch Sexualdelikte fallen, einzurichten. Als Opfer sind
auch ihre Hinterbliebenen und Nothelfer zu berücksichtigen. Dafür soll im
Haushaltsgesetz ein Titel, entsprechend dem für Härteleistungen an Opfer extre-
mistischer Übergriffe, geschaffen werden, der einen angemessenen Betrag zur
Verfügung stellt. Den Opfern kann somit als Akt der Solidarität des Staates und
seiner Bürgerinnen und Bürger über das Opferentschädigungsgesetz hinaus
schnell und unbürokratisch geholfen und auch Schmerzensgeld, Ersatz bei
Unterhaltsausfall oder Schäden beim beruflichen Fortkommen gewährt werden.

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