BT-Drucksache 17/12789

Bildung, Kultur und regionale Identität im ländlichen Räumen

Vom 15. März 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/12789
17. Wahlperiode 15. 03. 2013

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Alexander Süßmair, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
Karin Binder, Dr. Lukrezia Jochimsen, Katrin Kunert, Sabine Leidig, Kornelia
Möller, Jens Petermann, Ingrid Remmers, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Senger-Schäfer,
Kersten Steinke, Sabine Stüber und der Fraktion DIE LINKE.

Bildung, Kultur und regionale Identität in ländlichen Räumen

Der ländliche Raum im engeren Sinne nimmt circa 58 Prozent des Bundesge-
biets ein. Hier lebt ein Viertel der Bevölkerung.

Mittel- und Oberzentren, also eher städtische Gebiete, übernehmen viele kultu-
relle, wirtschaftliche und soziale Aufgaben für die ländlichen Räume. Finanziell
führt dies einerseits zu Mehreinnahmen dieser Städte durch Umsatzsteuerauf-
kommen, andererseits zu Mehrausgaben z. B. durch ortsfremde Teilnehmerin-
nen und Teilnehmer an subventionierten Kultur- oder Bildungsveranstaltungen.

Das Grundgesetz (GG) verpflichtet den Gesetzgeber in Artikel 72 Absatz 2 zur
Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet. Dies ist auch
erklärtermaßen die politische Leitvorstellung der Bundesregierung (siehe Fort-
schrittsbericht der Bundesregierung zur Entwicklung ländlicher Räume; Bun-
destagsdrucksache 17/8499, im Folgenden: Fortschrittsbericht). Abgesehen von
Stadt-Land-Unterschieden unterscheiden sich auch die Lebensverhältnisse in
den ländlichen Räumen untereinander: Auf der einen Seite gibt es florierende
Räume im Süden und Westen Deutschlands, während ländliche Räume in an-
deren Regionen ausbluten. Schrumpfung bedeutet dabei nicht nur abnehmende
Bevölkerungsdichte, sondern vielmehr auch einen Rückgang an Infrastruktur-
angeboten, Kaufkraft und regionalem Entwicklungspotential. Dies gilt in be-
sonderer Weise im Falle mangelhafter Ausstattung der Regionen mit Bildungs-
einrichtungen aller Art. Da weite Anfahrtswege zu weiterführenden Schulen der
Normalfall sind, ist durch hohe Beförderungsentgelte vor allem Kindern aus
ärmeren Familien der Zugang zu höherer Bildung erschwert. Dies gilt in gleicher
Weise für die Teilnahme an kulturellen Aktivitäten von Institutionen (Volkshoch-
schulen, Musikschulen, Bibliotheken und Museen), freier Szene und Vereinen.

Der Erhalt des ländlichen Raumes in seiner spezifischen Naturbeschaffenheit
und Besiedlungsweise ist ein soziokulturelles Bedürfnis der ganzen Gesell-
schaft und insbesondere der Landbevölkerung selbst. Oft identifizieren sich die
Bewohnerinnen und Bewohner ländlicher Räume in besonderer Weise mit ihrer

Region. Die Pflege ländlichen Brauchtums, von lokalen und regionalen Dialek-
ten, Regional- und Minderheitensprachen muss auch vom Bund gefördert
werden. Die Bundesregierung hat die Europäische Charta der Regional- oder
Minderheitensprachen zwar 1998 ratifiziert, überlässt deren Umsetzung jedoch
weitestgehend den Bundesländern.

Die Bundesregierung hat sich in ihrem Koalitionsvertrag zur Stärkung länd-
licher Räume bekannt.

Drucksache 17/12789 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie soll nach Ansicht der Bundesregierung ein differenziertes und nachfra-
gegerechtes Bildungsangebot in ländlichen Räumen sichergestellt werden?

Wie bewertet die Bundesregierung Verlauf und Ergebnisse der Initiative
„Lernen vor Ort“, die im Fortschrittsbericht als eine Maßnahme zur Unter-
stützung kommunalen Bildungsmanagements vorgestellt wurde?

2. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus
dem Verlauf und den Ergebnissen des Modellprojekts „Überregionale Partner-
schaften“, das u. a. in den Handlungsfeldern Fachkräftesicherung, Wissen-
schaftskooperation und Familienfreundlichkeit neue Ansätze entwickelt?

3. Welche Ansätze verfolgt die Bundesregierung, um Problemen wie fehlender
Qualifikation und Abwanderung gut ausgebildeter Menschen aus ländlichen
Regionen gegenzusteuern?

4. Wie beabsichtigt die Bundesregierung, dafür Sorge zu tragen, dass schul-
pflichtige Kinder eine Schule in Wohnortnähe besuchen können?

5. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus der „Resolution von Bleiwäsche 2012“ des Interdisziplinären Arbeits-
kreises Dorfentwicklung, und wie gedenkt die Bundesregierung, Akteure bei
der Umsetzung der dort formulierten Ziele zu unterstützen?

6. Wie positioniert sich die Bundesregierung zum Recht auf Bildung, und wie
nimmt sie ihre Verantwortung für einen flächendeckenden Zugang zu öffent-
lichen Bildungsangeboten in strukturschwachen Räumen wahr?

Ist nach Ansicht der Bundesregierung die Ersetzung der Schulpflicht durch
eine Unterrichtspflicht/Bildungspflicht, wie es sie in anderen europäischen
Ländern gibt, eine mögliche Antwort auf die Ausdünnung der Schulland-
schaft in ländlichen Räumen?

7. Wie viele Schulschließungen gab es nach Kenntnis der Bundesregierung
zwischen 1990 und 2011 in ländlichen Räumen (bitte nach Schulart, Bun-
desland und Landkreis aufgliedern)?

a) Wie viele und welche dieser Schulschließungen hätten durch einen nied-
rigeren Klassenteiler verhindert werden können?

b) Wie viele und welche dieser Schulschließungen hätten durch ein weniger
stark gegliedertes Schulsystem verhindert werden können?

c) Wie stark haben sich die Schulwege der betroffenen Schülerinnen und
Schüler durch die Schulschließungen verlängert (im Durchschnitt pro
Bundesland)?

d) Wie viele Dörfer haben zwischen 1990 und 2011 ihren Grundschulstand-
ort verloren?

e) Hat sich der Verlust von Grundschulen in statistisch signifikanter Weise
negativ auf die Bevölkerungsentwicklung der betroffenen Dörfer aus-
gewirkt (im Vergleich zu Dörfern, die noch über eine Grundschule verfü-
gen)?

8. Welche Kulturpolitik verfolgt die Bundesregierung im Hinblick auf die Ent-
wicklung lebenswerter ländlicher Räume?

9. Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung ergriffen, um kulturelle Ange-
bote in ländlichen Räumen zu fördern und deren Erreichbarkeit zu gewähr-
leisten?

Welche Maßnahmen sind künftig geplant?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/12789

10. Welche Maßnahmen sind geplant, um die Möglichkeiten für kulturelle
Bildung von Kindern und Jugendlichen zu verbessern?

11. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus den von der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ in ihrem
Abschlussbericht 2007 gegebenen Handlungsempfehlungen für die Kultur
im ländlichen Raum sowie für die Laien- und Breitenkultur, die dort eine
besondere Rolle spielt?

Wie ist der Stand ihrer Umsetzung?

12. Wie werden kulturelle Aktivitäten von Institutionen (Volkshochschulen,
Musikschulen, Bibliotheken und Museen), freier Szene und Vereinen nach
Kenntnis der Bundesregierung in Ziele und Prioritäten der ländlichen Ent-
wicklungspolitik eingebunden, damit z. B. auch die genannten Träger von
Kultur durch EU-Mittel gefördert werden können?

13. Welche Besonderheiten der Kulturarbeit im ländlichen Raum sind bei de-
ren Entwicklung zu beachten?

Welche Chancen und Potentiale gibt es für den Erhalt und Ausbau der vor-
handenen regionalen Vielfalt an kulturellen Aktivitäten?

Welche Besonderheiten gibt es in Bezug auf die kulturelle Infrastruktur
(z. B. Stadt-Land-Gefälle bezüglich kultureller Einrichtungen), und welche
Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus den
daraus resultierenden Unterschieden und Problemen?

14. Welche Erkenntnisse besitzt die Bundesregierung bezüglich fiskalischer,
wirtschaftlicher und sozialer Probleme, die daraus entstehen, dass viele
Einwohnerinnen und Einwohner ländlicher Gemeinden subventionierte
kulturelle Angebote (Volkshochschulen, Musikschulen, Theater) in Mittel-
und Oberzentren wahrnehmen?

15. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung bezüglich der Schließung
und Fusion von Museen, Theatern, Orchestern, Volkshochschulen, Musik-
schulen, Bibliotheken und soziokulturellen Einrichtungen, die entweder in
ländlichen Räumen angesiedelt waren oder prioritär in ländliche Räume
hinein wirkten?

16. Welche Herausforderungen sieht die Bundesregierung für die Breiten-,
Hoch- und Laienkultur angesichts der gewandelten Bevölkerungsstruktur
und -dichte in vielen ländlichen Regionen?

17. Welche Erkenntnisse über den Sanierungsbedarf von Kulturstätten in länd-
lichen Räumen liegen der Bundesregierung vor (bitte nach Bundesländern
aufschlüsseln)?

18. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Möglichkeiten von
Menschen mit Behinderungen, in ländlichen Regionen kulturelle Angebote
aktiv und passiv wahrzunehmen?

19. Welche Maßnahmen unternimmt die Bundesregierung zur Förderung der
Integration von Migrantinnen und Migranten in ländlichen Räumen durch
kulturelle Angebote?

20. Welche Kriterien – außer ökonomischen – betrachtet die Bundesregierung
als relevant bei Beschaffung, Vergabe und Bereitstellung kultureller Ange-
bote?

Drucksache 17/12789 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
21. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass durch die Schließung und
Umwandlung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften in der
DDR (und ebenso der Staatsgüter) im ländlichen Raum nicht nur ökonomi-
sche, sondern auch soziale und geistig-kulturelle Lücken entstanden sind?

Hat die Bundesregierung Kenntnis darüber, wie und in welchem Umfang
(quantitativ und qualitativ) nach der Wende diesbezüglich entstandene
Lücken geschlossen worden sind?

Welchen Beitrag zur Schließung dieser Lücken hat die Bundesregierung
leisten können?

22. Sieht sich die Bundesregierung in der Pflicht, die Bemühungen von Kom-
munen und Ländern bezüglich der Förderung und des Erhalts von regiona-
ler Kultur und Brauchtum durch eigene Bemühungen zu ergänzen?

23. Hält die Bundesregierung den Status der Regional- und Minderheitenspra-
chen für ausreichend (Verwendung im öffentlichen Leben, in der Schule, in
den Medien usw.)?

24. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass ein wesentliches Ziel der
Europäischen Regional- und Minderheitensprachencharta von 1992, die in
der Bundesrepublik Deutschland 1999 in Kraft trat, der grenzüberschrei-
tende Schutz und die grenzüberschreitende Förderung von Minderheiten-
und Regionalsprachen ist?

Wenn ja, leitet sich daraus eine starke Verantwortung der Bundesebene ab,
und in welcher Form beabsichtigt die Bundesregierung trotz der Zuständig-
keit der Bundesländer für Kulturpolitik, auf die Politik bezüglich der Regio-
nal- und Minderheitensprachen, die in mehr als nur einem Bundesland ver-
breitet sind (Niederdeutsch, Sorbisch/Wendisch), stärker als bisher Einfluss
auszuüben?

Wenn nein, warum nicht?

25. Plant die Bundesregierung sprach- und/oder minderheitenpolitische Initia-
tiven, und wenn ja, welche?

26. Plant die Bundesregierung, wie in der Schweiz geschehen, dem Jenischen
Rechte und Status als Minderheitensprache zuzugestehen?

27. Plant die Bundesregierung Initiativen zum Erhalt und zur Pflege von länd-
lichem Brauchtum, ländlichen Traditionen und gerade im ländlichen Raum
verbreiteter Sprachen und Dialekte?

28. Wie gedenkt die Bundesregierung in den ländlichen Räumen in Deutsch-
land die EU-Roma-Strategie umzusetzen?

29. Von welchen kulturellen Initiativen von und für Flüchtlinge(n) und Asyl-
suchende(n) hat die Bundesregierung Kenntnis, und beabsichtigt sie, diese
zu unterstützen?

30. Welchen Stellenwert misst die Bundesregierung Maßnahmen zur Stärkung
der Lebensqualität in ländlichen Räumen bei, und welche diesbezüglichen
Maßnahmen plant sie zu ergreifen?

Berlin, den 15. März 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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