BT-Drucksache 17/12709

Verschleierung verhindern - Berichterstattung über Armut und Reichtum auf unabhängige Kommission übertragen

Vom 13. März 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/12709
17. Wahlperiode 13. 03. 2013

Antrag
der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
Dr. Martina Bunge, Heidrun Dittrich, Klaus Ernst, Jutta Krellmann,
Cornelia Möhring, Yvonne Ploetz, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Senger-Schäfer,
Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann
und der Fraktion DIE LINKE.

Verschleierung verhindern – Berichterstattung über Armut und Reichtum auf eine
unabhängige Kommission übertragen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Debatte um den Vierten Armuts- und Reichtumsbericht zeigt: Die soziale
Ungleichheit in Deutschland hat ein unerträgliches Ausmaß angenommen.
In Ansätzen ist die soziale Ungleichheit im ersten Entwurf des Berichts
benannt worden. Die Bundesregierung versucht eine notwendige politische
Diskussion über die soziale Ungleichheit zu ersticken durch Streichung un-
gewünschter Aussagen und die politische Sterilisierung des Berichts. Wieder
einmal zeigt sich, dass in der Verantwortung der Bundesregierung keine
neutrale Berichterstattung möglich ist. Der sozialen Spaltung angemessene
politische Schlussfolgerungen fehlen vollständig.

2. Die Erstellung des Armuts- und Reichtumsberichts durch die politisch ver-
antwortliche Bundesregierung hat sich nicht bewährt. Eine unabhängige und
kritische Bestandsaufnahme der sozialen Realität in Deutschland lässt sich
so nicht organisieren. Der sogenannte Beraterkreis wurde lediglich über die
Konzeption informiert und hatte darüber hinaus keinen Einfluss auf den Be-
richt. Stellungnahmen zu den verschiedenen Entwürfen sind nicht grund-
sätzlich veröffentlicht. Ansätze für eine kritische Realitätsbeschreibung im
ersten Entwurf vom September 2012 wurden in der Ressortabstimmung ent-
fernt oder zumindest geglättet:

• So fehlt in Bezug auf die Lohnentwicklung die Aussage, dass in den
vergangenen zehn Jahren die unteren Einkommen preisbereinigt massiv
gesunken sind. Auch fehlt die dazugehörige – zutreffende – Bewertung:
„Eine solche Einkommensentwicklung verletzt das Gerechtigkeitsempfin-
den der Bevölkerung und kann den gesellschaftlichen Zusammenhalt ge-
fährden.“ (Bundesregierung: Lebenslagen in Deutschland, Entwurf des

4. Armuts- und Reichtumsbericht vom 17. September 2012, S. XX, im
Folgenden zitiert als: 4. ARB, 1. Entwurf).

• Gestrichen wurde der angekündigte Prüfauftrag, „ob und wie über die
Progression in der Einkommensteuer hinaus privater Reichtum für die
nachhaltige Finanzierung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden
kann.“ (4. ARB, erster Entwurf, S. XLII).

Drucksache 17/12709 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

• Schließlich findet sich auch nicht mehr der Anspruch, dass auch ein
Geringqualifizierter von seiner Vollzeitarbeit seinen Lebensunterhalt be-
streiten können soll (4. ARB, erster Entwurf, S. XIX und XXII).

3. Die Berichterstattung stellt konzeptionell den sog. Lebensphasenansatz ins
Zentrum des vierten Berichts. Dieser Ansatz kann zwar analytisch-wissen-
schaftlich zu neuen Erkenntnissen führen, er tendiert in der konkreten Umset-
zung durch die Bundesregierung aber zu einer Vernachlässigung struktureller
Faktoren der sozialen Polarisierung. Dadurch werden soziale Risiken nicht als
gesellschaftlich bedingt wahrgenommen, sondern individualisiert. Die gesell-
schaftlichen Folgen und Kosten von Armut und sozialer Ungleichheit werden
ebenfalls nicht thematisiert. Die Verantwortung der Politik für die Herstellung
gerechter und egalitärer gesellschaftlicher Verhältnisse wird weitgehend aus-
geblendet.

Die sozialpolitische Schlagseite des Ansatzes der Bundesregierung wird
deutlich an den vorgetragenen Zweifeln an der etablierten Definition von
Armut. Die gängige Definition wird als Ausdruck ungleicher Einkommens-
verteilung kritisiert. Die implizite Kritik an ungleichen sozialen Verhältnis-
sen wird damit zurückgewiesen. Eine ähnliche politische Einstellung zeigt
sich bei der Diskussion des Reichtums. Um den öffentlichen Nutzen privaten
Reichtums zu mehren, denkt die Bundesregierung nicht an eine Erhöhung
von vermögensbezogenen Steuern, um die Ressourcen zielgerichtet für die
Gesellschaft einzusetzen, sondern ausschließlich an die Förderung privater
Spenden und Stiftungen (Bundesregierung: Lebenslagen in Deutschland.
Der Vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, S. 413 ff.,
im Folgenden zitiert als 4. ARB). Sozialpolitik wird hier konzeptionell redu-
ziert auf die Förderung von mildtätigen Gaben.

4. Ungeachtet der Mängel dokumentiert auch der Vierten Armuts- und Reich-
tumsbericht das Ausmaß der sozialen Polarisierung. Der Vergleich mit der
wissenschaftlichen Literatur zeigt aber, dass die soziale Realität teilweise ge-
schönt wiedergegeben wird:

• Das Vermögen ist extrem ungleich verteilt. Die Haushalte in der unteren
Hälfte der Verteilung verfügen lediglich über 1 Prozent des gesamten
Nettovermögens, während die vermögensstärksten 10 Prozent über die
Hälfte des Nettovermögens verfügen. Die Ungleichheit im Vermögensbe-
sitz nimmt zudem im Laufe der Zeit immer mehr zu (4. ARB, S. 344 und
465). Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung e. V. (DIW Berlin)
schätzt den Anteil des obersten Dezils auf zwei Drittel des Vermögens.
Allein das oberste 1 Prozent verfügt nach dieser Quelle bereits über knapp
36 Prozent des gesamten Vermögens (http://wipo.verdi.de/wirtschaftspolitik_
aktuell/data/DIW-Zahlen.pdf). Nur eine Minderheit erkennt diesen Reich-
tum als Ergebnis eigener Leistung und persönlicher Begabung an. Der
individuelle Reichtum wird im Gegenteil v. a. mit Glück, Beziehungen,
Unehrlichkeit und einem ungerechten Wirtschaftssystem in Verbindung
gebracht wird (4. ARB, S. 406 f.).

• Die Lohnentwicklung ist von der wirtschaftlichen Entwicklung abgekop-
pelt. Gegenüber 2007 befindet sich das mittlere Erwerbseinkommen von
Vollzeitbeschäftigten 2011 auf demselben Niveau. Hinter dieser Stagna-
tion verbirgt sich ein Prozess der sozialen Spaltung: Lediglich die obersten
Einkommen entwickelten sich – nach Berücksichtigung der Preissteige-
rung – positiv, während bei der großen Mehrheit die Bruttoerwerbsein-
kommen rückläufig waren (4. ARB, S. 335). Damit setzt sich die Tendenz
der sozialen Polarisierung auch unter schwarz-gelber Regierungsverant-
wortung fort. Dr. Claus Schäfer vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaft-

lichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung kommt in seinem Verteilungs-
bericht zu der Schlussfolgerung, dass die Lohnquote auf historisch

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niedrigem Niveau liegt. Einkommenszuwächse gab es im ersten Jahr-
zehnt des Jahrtausends fast nur für die reichsten 10 Prozent. Innerhalb
dieser Gruppe war der Zuwachs auf das oberste Prozent (fast plus
50 Prozent) konzentriert, während die Einkommensentwicklung (fast)
aller Anderen rückläufig ist (Dr. Claus Schäfer: Wege aus der Knecht-
schaft der Märkte – WSI-Verteilungsbericht 2012, in: WSI Mitteilungen
8/2012).

• In der Konsequenz kann Teilhabe über Arbeit immer weniger gesichert
werden. Der Umfang der Niedriglohnbeschäftigung stieg laut Viertem
Armuts- und Reichtumsbericht seit 1995 von 17,7 Prozent auf 23 Prozent
im Jahr 2010. Fast 8 Millionen Menschen lebten 2010 mit einem Stunden-
lohn von unter 9,15 Euro (4. ARB, S. 335f.). Der Anteil der Menschen,
die arm sind trotz Erwerbstätigkeit, stieg von 1998 bis 2010 von 5,7 Pro-
zent auf 8,2 Prozent der Erwerbstätigen (4. ARB, Anhang, S. 479).

• Die Armut steigt in der längerfristigen Perspektive massiv an (von 1998
bis 2010 von 10,4 Prozent auf 13,9 Prozent nach Daten des Sozio-oekono-
mischen Panel – SOEP). Besonders dramatisch ist dabei die Verfestigung
von Armut: Der Anteil der dauerhaft Armen verdoppelte sich von
4,7 Prozent auf 7,9 Prozent in demselben Zeitraum annähernd (4. ARB,
Anhang, S. 462). Nicht nachvollziehbar ist, warum der Bericht den Skan-
dal nicht offen ausspricht, dass in Deutschland der Satz gilt: Wer arm ist,
muss früher sterben (vgl. etwa: DIW Wochenbericht 38/2012).

• Schließlich gibt der Bericht im Anhang auch Hinweise auf die zurück-
gehende Wirkung des Sozialstaats in der Vermeidung und Bekämpfung
von Armut. Der Anteil der Personen, die durch Sozialtransfers (ohne
Rente) über die Armutsrisikogrenze gehoben werden konnten, sank seit
1998 kontinuierlich (4. ARB, Anhang, S. 484). Aussagen zum sehr hohen
Ausmaß an verdeckter Armut bzw. der Nichtinanspruchnahme von be-
dürftigkeitsgeprüften Sozialleistungen finden sich in dem Bericht dagegen
nicht, obwohl aus der einschlägigen Forschung hierzu deutliche Hinweise
bekannt sind. So belegten renommierte Armutsforscher/-innen eine ex-
trem hohe Quote der Nichtinanspruchnahme bei Grundsicherungsleistun-
gen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – SGB II – (48 Prozent),
bei der Grundsicherung im Alter nach dem SGB XII (68 Prozent) sowie
beim Kinderzuschlag (68 Prozent) (vgl. Irene Becker/Richard Hauser:
Kindergrundsicherung, Kindergeld und Kinderzuschlag: Eine verglei-
chende Analyse aktueller Reformvorschläge. Abschlussbericht für die
Hans-Böckler-Stiftung, Riedstadt/Frankfurt am Main 2010, S. 138, 141;
Irene Becker: Finanzielle Mindestsicherung und Bedürftigkeit im Alter.
In: Zeitschrift für Sozialreform 2/2012).

• Werden die verstreut in den Bericht eingefügten Informationen zu Ost-
deutschland zusammen betrachtet, zeigt sich neben der sozialen unverän-
dert auch eine regionale Spaltung Deutschlands. Die Nettoeinkommen
ostdeutscher Haushalte betragen durchschnittlich gerade mal 75 Prozent
des Westniveaus (4. ARB, S. 324), die Löhne sind deutlich niedriger, die
für Ostdeutschland niedrigeren (Branchen-)Mindestlöhne überschreiten
teilweise nicht einmal bei einer Vollzeitbeschäftigung das Hartz-IV-
Niveau (4. ARB, S. 222 f.), die Arbeitslosenquote liegt in Ostdeutschland
fast doppelt so hoch wie im Westen (4. ARB, S. 355), die Armutsrisiko-
quote liegt deutlich höher (2010 nach SOEP-Daten: 20 Prozent in Ost-
deutschland gegenüber 12,5 Prozent in Westdeutschland, 4. ARB, Anhang,
S. 462).

5. Der Deutsche Bundestag begrüßt die alternativen Armutsberichte der Natio-

nalen Armutskonferenz (nak) und des Deutschen Paritätischen Wohlfahrts-
verbandes – Gesamtverband e. V. (Nationale Armutskonferenz: Die im

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Schatten sieht man nicht – „Schattenbericht“ –, strassenfeger, Sonderaus-
gabe Oktober 2012; Der Paritätische Gesamtverband: Positive Trends ge-
stoppt, negative Trends beschleunigt. Bericht zur regionalen Armutsentwick-
lung in Deutschland 2012, Berlin 2012). Beide Berichte zeigen ein un-
geschminktes Bild der sozialen Wirklichkeit in Deutschland und liefern in-
soweit notwendige Korrekturen des regierungsoffiziellen Armuts- und
Reichtumsberichts.

6. Der Bericht wird, wie seine Vorgänger, absehbar politisch folgenlos bleiben.
Es fehlt bei der Bundesregierung der politische Wille zu einer sozialpoliti-
schen Kurskorrektur. Bei verschiedenen Anlässen – etwa bei der Neufest-
legung der Regelsätze und bei ihrer Absage einer Kommission gegen Alters-
armut – hat die Bundesregierung dokumentiert, dass sie keine Politik zur Be-
kämpfung von Armut und sozialer Ungleichheit verfolgen will. Die Bundes-
regierung ignoriert damit die Befunde ihres eigenen Berichts, wonach eine
große Mehrheit in Deutschland Maßnahmen der Verringerung von Einkom-
mensunterschieden zustimmt (4. ARB, S. 327).

Dementsprechend fehlt dem Vierten Armuts- und Reichtumsbericht ein kor-
respondierendes Programm zum sozialen Ausgleich, zur Umverteilung von
Vermögen und Einkommen von oben nach unten, zur Umverteilung von
Erwerbsarbeit und der damit verbundenen Möglichkeiten der Vermeidung
und Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung. Maßnahmen zur
steuerlichen Heranziehung der Vermögenden und Unternehmen fehlen voll-
ständig. Konkrete Vorschläge zur Vermeidung oder Bekämpfung von Armut
und sozialer Ungleichheit – wie sie etwa von dem Paritätischen Gesamtver-
band, der nak oder der Fraktion DIE LINKE. (Bundestagsdrucksache 17/6389)
vorgelegt wurden – werden nicht aufgegriffen. Im Gegenteil betreibt die
schwarz-gelbe Bundesregierung eine sozial polarisierende Politik der Haus-
haltskonsolidierung. Insbesondere Leistungen für Erwerbslose sind entweder
massiv gekürzt (Arbeitsförderung) oder ganz gestrichen worden (etwa: El-
terngeld oder Rentenbeiträge für SGB-II-Leistungsberechtigte). Auf diese
Art und Weise wird Armut und soziale Ausgrenzung befördert und nicht be-
kämpft.

II. Der Deutsche Bundestag übernimmt die Verantwortung für die regelmäßige
Erstellung eines Armuts- und Reichtumsberichts für die Bundesrepublik
Deutschland von der Bundesregierung.

III. Einsetzung einer unabhängigen Kommission

a) Der Deutsche Bundestag beruft zu Beginn jeder neuen Legislaturperiode
eine Kommission aus unabhängiger Wissenschaft, Gewerkschaften, Verbän-
den sowie Interessenvertretungen der von Armut und sozialer Ausgrenzung
betroffenen Personen ein, um eine wissenschaftlich fundierte und kritische
Bestandsaufnahme der sozialen Wirklichkeit in Deutschland zu erarbeiten.

b) Die Kommission erhält ein eigenständiges Büro sowie ein eigenes Budget,
um Gutachten und Expertisen in Auftrag zu geben. Alle Dokumente werden
zeitnah öffentlich gemacht.

c) Die Kommission stellt sicher, dass die Kernindikatoren zu Armut und
Reichtum auch in zukünftigen Berichten beibehalten und ggf. ergänzt wer-
den, um die langfristige Entwicklung darzustellen. Die gängige Konvention
zur Definition von Armutsrisiko wird beibehalten. Die Verteilung des gesell-
schaftlichen Reichtums wird im Einklang mit dem Berichtstitel stärker in
das Zentrum der Berichterstattung gerückt. Ursachen für die ungleiche Ver-

teilung werden sowohl für die Primär- als auch für die Sekundärverteilung
analysiert, d. h. die funktionale Verteilung auf Kapital und Arbeit durch die

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/12709

Tarifpolitik wird ebenso untersucht, wie die Umverteilung des gesellschaft-
lichen Reichtums durch das Steuer-, Abgaben- und Sozialsystem.

d) Die Kommission intensiviert die Erforschung des Reichtums. Analysiert
werden sollen insbesondere a) die Entstehung, b) die konkrete Verwendung
und c) die Auswirkungen von Reichtum auf die wirtschaftlichen und sozialen
Macht- und Herrschaftsverhältnisse.

e) Die Kommission kombiniert die Analyse der sozialen Ungleichheit mit kon-
kreten Vorschlägen für Maßnahmen zur Reduktion der gesellschaftlichen
Ungleichheit und zur Vermeidung und Bekämpfung von Armut und sozialer
Ausgrenzung. Die Reduktion der Armutsrisikoquote wird als Ziel vorge-
geben und als Indikator für sozialpolitischen Erfolg herangezogen.

IV. Der Deutsche Bundestag erarbeitet auf Grundlage der Empfehlungen der
Kommission ein Programm zur Bekämpfung von Armut und sozialer
Ungleichheit.

Berlin, den 13. März 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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