BT-Drucksache 17/1238

Solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung in Gesundheit und Pflege einführen

Vom 25. März 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1238
17. Wahlperiode 25. 03. 2010

Antrag
der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Kathrin Senger-Schäfer, Harald Weinberg,
Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich, Klaus Ernst, Diana Golze, Inge Höger,
Katja Kipping, Jutta Krellmann, Cornelia Möhring, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Vogler,
Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung in Gesundheit und Pflege
einführen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Grundprinzipien der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung von
solidarischer und paritätischer Finanzierung haben sich bewährt und sind in der
Bevölkerung breit akzeptiert.

Der Um- und Abbau des Sozialstaats hat allerdings deutliche Spuren in der
Krankenversicherung hinterlassen. Seit Mitte der 1970er-Jahre steht die soge-
nannte Kostendämpfung im Mittelpunkt der Gesundheitspolitik. Ziel ist es vor
allem, die Arbeitgeber auf Kosten der Versicherten sowie der Patientinnen und
Patienten zu entlasten. Die Folge: Die Finanzierung des Gesundheitssystems
wird immer ungerechter.

CDU, CSU und SPD legten 2007 die Grundlage für die Erhebung von Zusatz-
beiträgen. Millionen von Versicherten müssen inzwischen einen Zusatzbeitrag
von pauschal 8 Euro oder bis zu 37,50 Euro pro Monat zahlen. SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hatten bereits 2004 einen Sonderbeitrag von
0,9 Prozentpunkten beschlossen sowie die Praxisgebühr eingeführt und Zuzah-
lungen erhöht. Belastungen ergaben sich darüber hinaus aus massiven Leis-
tungskürzungen bzw. - ausschlüssen, wie z. B. bei verschreibungsfreien Arznei-
mitteln, Brillen, Entbindungsgeld, Sterbegeld und künstlicher Befruchtung.
Patientinnen und Patienten müssen diese größtenteils alleine zahlen. Die Arbeit-
geber werden dagegen geschont.

Die Pflegeversicherung wurde 1995 pro forma mit paritätischer Finanzierung
eingerichtet, aber de facto finanzieren seit Anbeginn die Beschäftigten die Pfle-
geversicherung fast allein. Zur Entlastung der Arbeitgeber schafften CDU, CSU
und FDP mit Ausnahme Sachsens einen bundesweiten Feiertag ab. Am Beispiel
Sachsen sieht man das Ergebnis deutlich. Dort zahlen die Versicherten mehr als

das Dreifache des Arbeitgeberbeitrags. Außerdem wurde für Mitglieder ohne
Kinder der Beitragssatz bundesweit um weitere 0,25 Prozentpunkte erhöht.

Der soziale Ausgleich zwischen gut und weniger gut Verdienenden hört in der
Kranken- und Pflegeversicherung an der Beitragsbemessungsgrenze auf. Die
wirklichen Gutverdiener werden dadurch geschont. Der Teil des Einkommens,
der derzeit über 3 750 Euro pro Monat liegt, wird bei der Beitragsberechnung
nicht berücksichtigt. Ganz aus der Solidarität verabschieden können sich abhän-

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gig Beschäftigte, deren Einkommen drei Jahre lang über der Versicherungs-
pflichtgrenze in Höhe von derzeit 4 162,50 Euro pro Monat liegt, und eine pri-
vate Kranken- und Pflegeversicherung abschließen. Das in Europa einzigartige
Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenvollversicherung ist will-
kürlich und ungerecht. Gerade diejenigen, die für die Solidarität wichtig wären,
sichern in diesem System nur ihr eigenes Krankheitsrisiko ab.

Die Einnahmen der Kranken- und Pflegeversicherung bleiben durch Arbeits-
losigkeit, den Ausbau des Niedriglohnsektors und ausbleibende Lohnzuwächse
hinter den Ausgaben und auch hinter der Entwicklung der Volkswirtschaft zu-
rück. Die Wirtschaftskrise lässt diese Einnahmen weiter schrumpfen. Zugleich
hat sich die Einkommensstruktur in der Bundesrepublik Deutschland verändert.
Die Bedeutung anderer Einkommensarten wächst. Auf die relativ schnell wach-
senden Kapitalerträge, wie Zinsen und Aktiengewinne, müssen bislang fast
keine Beiträge gezahlt werden. So wird das Ausgabenwachstum allein von den
Beschäftigten geschultert. Das ist unsolidarisch und wird den veränderten volks-
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht gerecht.

Das Solidarsystem ist nicht am Ende. Im Gegenteil. Es muss endlich gerecht
ausgestaltet werden. Erforderlich ist ein Konzept, das eine dauerhaft stabile Fi-
nanzierungsgrundlage für die Kranken- und Pflegeversicherung schafft und das
Solidarprinzip stärkt. Alle in Deutschland lebenden Menschen müssen hierfür
nach ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit herangezogen werden. Kleine und
mittlere Einkommen würden dadurch spürbar entlastet, während hohe Einkom-
men stärker herangezogen würden. So wäre in der Krankenversicherung ein
Beitragssatz von etwa 10 Prozent, also je 5 Prozent für die Arbeitgeber und
5 Prozent für die Beschäftigten bzw. Rentnerinnen und Rentner, möglich, und
zwar ohne Praxisgebühr und andere Zuzahlungen. Mit einer solidarischen Bür-
gerinnen- und Bürgerversicherung lassen sich die Lasten gerecht auf alle Schul-
tern verteilen und die Finanzierung des Gesundheits- und Pflegesystems könnte
fit für die Zukunft gemacht werden.

Die von CDU, CSU und FDP geplante Kopfpauschale löst dagegen kein einzi-
ges Problem, sondern schafft nur neue. Alle sollen künftig den gleichen Beitrag
zahlen – voraussichtlich zwischen 140 und 200 Euro monatlich – unabhängig
vom Einkommen. Im Klartext bedeutet das: Menschen mit hohem Einkommen
zahlen weniger, Menschen mit geringem Einkommen zahlen mehr als bisher.
Wer wenig Geld hat, kann sich die Krankenversicherung kaum mehr leisten. Der
vage angekündigte „Sozialausgleich“ ist keine Lösung. Erstens würden Men-
schen mit geringem Einkommen damit zu Bittstellern beim Staat und einer
ähnlichen Stigmatisierung ausgesetzt, wie sie von ALG-II-Beziehenden derzeit
häufig beklagt wird. Es darf bezweifelt werden, ob ein Sozialausgleich auto-
matisch, also ohne eigenen Antrag und zudem zeitgleich mit der Fälligkeit der
Kassenbeiträge, gezahlt wird. Zweitens wären für den „Sozialausgleich“ bis zu
40 Mrd. Euro Steuermittel erforderlich. Damit durch zusätzlich erforderliche
Steuern nicht diejenigen belastet werden, für die der „Sozialausgleich“ gedacht
ist, müssten Steuern für Reiche massiv erhöht werden. Ein solches Vorhaben der
derzeitigen Koalition ist jedoch nicht bekannt. Drittens gibt es seit diesem Jahr
mit dem Bürgerentlastungsgesetz bereits einen negativen Sozialausgleich. Kran-
kenversicherungsbeiträge können nun von der Steuer abgesetzt werden. Wer ein
hohes Einkommen hat, zahlt hohe Steuern und kann mit dieser Regelung viel
Geld sparen. Wer keine Steuern zahlen muss, spart auch nichts. Dies hätte in
Kombination mit der Kopfpauschale zur Folge, dass der Chef sogar in Euro
weniger für seine Krankenversicherung zahlt als seine Sekretärin.

Die Einführung der Kopfpauschale in kleinen Schritten, wie sie der Bundes-
minister für Gesundheit ankündigt, ist in keiner Weise besser als die sofortige

Einführung der Kopfpauschale. Ob man ein solidarisches System sofort oder
stückchenweise zerstört – das Ergebnis ist das gleiche.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1238

CDU, CSU und FDP planen, den bewährten Grundsatz der paritätischen Finan-
zierung, also dass Arbeitgeber und Beschäftigte sich den Beitragssatz hälftig
teilen, endgültig abzuschaffen. Die Regierung will den Beitrag der Arbeitgeber
zur Krankenversicherung einfrieren. Kostensteigerungen müssten dann alleine
die Versicherten zahlen. Auch in der Pflege sollen die Arbeitgeber weiter entlas-
tet werden. Das bisherige Umlageverfahren soll durch eine verpflichtende, indi-
vidualisierte Kapitaldeckung ergänzt werden. Dieses Vorhaben zielt im Kern
darauf, das Pflegerisiko zu privatisieren. Die Rechnung zahlen die Versicherten.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

umgehend einen Gesetzentwurf für die Einführung einer solidarischen Bür-
gerinnen- und Bürgerversicherung in der gesetzlichen Kranken- und Pflegever-
sicherung vorzulegen.

Der Gesetzentwurf muss die nachfolgend genannten Leitlinien umsetzen:

1. Qualitativ hochwertige Gesundheits- und Pflegeversorgung

Die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung garantiert für alle Men-
schen eine umfassende, zuzahlungsfreie Gesundheitsversorgung unabhängig
vom Wohnort, Einkommen, Alter, Geschlecht oder Aufenthaltsstatus. Sämtliche
erforderliche Leistungen werden zur Verfügung gestellt und der medizinische
Fortschritt wird einbezogen. Besondere Bedarfe für Menschen mit Behinderun-
gen und chronischen Erkrankungen sind zu gewährleisten. Die Patientinnen und
Patienten erhalten die Leistungen unmittelbar, das heißt, sie müssen nicht im
Voraus für ihre Behandlung bezahlen (Sachleistungsprinzip). Für alle Kranken-
kassen gibt es einen einheitlichen Leistungskatalog.

In der Pflege/Assistenz gewährleistet die solidarische Bürgerinnen- und Bürger-
versicherung eine qualitativ hochwertige Versorgung und eröffnet den finanziel-
len Spielraum für die dringend notwendigen Leistungsverbesserungen. Der
Pflegebegriff muss, entsprechend den Empfehlungen des Beirats zur Überprü-
fung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs vom Januar 2009, neu definiert sowie die
Leistungen deutlich angehoben und jährlich angepasst werden.

2. Eigenständiger Versicherungsanspruch

Jeder Mensch erhält ab Geburt einen eigenständigen Kranken- und Pflegever-
sicherungsanspruch, so dass niemand mehr in Abhängigkeit zu anderen Men-
schen steht. Personen ohne eigene Einkünfte sind in der solidarischen Bürgerin-
nen- und Bürgerversicherung beitragsfrei versichert.

3. Versichertenkreis ausweiten

Alle Menschen, die in Deutschland leben, werden Mitglied der solidarischen
Bürgerinnen- und Bürgerversicherung. Die Pflichtversicherungsgrenze wird ab-
geschafft, so dass sich keiner mehr der Solidarität der Bürgerinnen- und Bürger-
versicherung entziehen kann. Auch Politikerinnen und Politiker, Selbständige,
Beamtinnen und Beamte sowie andere bisher privat Versicherte werden ein-
bezogen. Für Beamtinnen und Beamte muss eine den abhängig Beschäftigten
entsprechende paritätische Beteiligung des Arbeitgebers statt der Beihilfe
geschaffen werden. Eine zeitlich befristete Übergangsregelung für bestehende
private Versicherungsverträge ist zu gewährleisten.

4. Gerechte Finanzierung

Alle zahlen nach ihrer individuellen finanziellen Leistungsfähigkeit in die soli-
darische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung ein. Grundsätzlich werden alle

Einkommen aus unselbständiger und selbständiger Arbeit sowie alle Einkom-
mensarten wie Kapital-, Miet- und Pachterträge bei der Bemessung des Beitrags

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zu Grunde gelegt. Damit Menschen mit geringen Einkommen finanziell nicht zu
stark belastet werden, ist die Einführung von Freigrenzen zu prüfen. Die Bei-
tragsbemessungsgrenze ist sofort auf die Höhe der Beitragsbemessungsgrenze
der gesetzlichen Rentenversicherung (West) anzuheben und perspektivisch ab-
zuschaffen. Damit gilt: Starke Schultern müssen mehr tragen. Alle anderen wer-
den entlastet.

5. Paritätische Finanzierung wiederherstellen

Die Arbeitgeber tragen die Hälfte der Krankenversicherungsbeiträge auf Löhne
und Gehälter ihrer Beschäftigten. Praxisgebühr und andere Zuzahlungen sowie
Zusatz- und Sonderbeiträge werden abgeschafft. Zur Herstellung der paritä-
tischen Finanzierung in der Pflegeversicherung wird der zur Entlastung der Ar-
beitgeber abgeschaffte Feiertag wieder eingeführt oder eine andere Maßnahme
ergriffen, welche die Parität zwischen Beschäftigten und Arbeitgebern herstellt.
Für Sachsen ist aufgrund der Beibehaltung des Buß- und Bettages eine Sonder-
regelung nötig. Rentnerinnen und Rentner zahlen in der Pflegeversicherung
künftig nur den halben Beitragssatz, die andere Hälfte wird von der Rentenver-
sicherung getragen.

6. Allgemeiner Beitragssatz

Wegen der nahezu gleichen Leistungen gilt ein bundesweit einheitlicher Bei-
tragssatz für alle gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen. In der Pflegever-
sicherung wird der höhere Pflegebeitrag von Mitgliedern ohne Kinder abge-
schafft.

7. Umlageverfahren beibehalten

Die Umlagefinanzierung in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung
hat sich bewährt. Sie ist daher beizubehalten.

8. Finanzausgleich zwischen den Krankenkassen stärken

In der gesetzlichen Krankenversicherung ist der morbiditätsorientierte Risiko-
strukturausgleich (morbi-RSA) so weiterzuentwickeln, dass er zielgenauer wird.
Hierzu ist im Finanzausgleich die unterschiedliche Erkrankungsschwere und
- häufigkeit ihrer Mitglieder möglichst umfassend zu berücksichtigen. Es darf
nicht sein, dass Krankenkassen wegen der Art der Erkrankung ihrer Versicherten
weiterhin ungerechtfertigt belastet sind und andere ungerechtfertigt mehr er-
halten.

9. Private Kranken- und Pflegeversicherung

Das Nebeneinander von gesetzlicher und privater Kranken- und Pflegeversiche-
rung wird beendet. Die gesetzliche Krankenversicherung bietet alle medizinisch
erforderlichen Leistungen an. Die Rolle der privaten Kranken- und Pflegever-
sicherung wird auf Zusatzleistungen beschränkt.

Berlin, den 25. März 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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