BT-Drucksache 17/122

Deutschland atomwaffenfrei - Bei der Abrüstung der Atomwaffen vorangehen

Vom 2. Dezember 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 17/122
17. Wahlperiode 02. 12. 2009

Antrag
der Abgeordneten Agnes Malczak, Omid Nouripour, Katja Keul, Tom Koenigs,
Ulrike Höfken, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Viola von Cramon-
Taubadel, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, Ute Koczy, Jerzy Montag, Kerstin Müller
(Köln), Tabea Rößner, Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof
Schmidt, Hans-Christian Ströbele, Josef Philip Winkler und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Deutschland atomwaffenfrei – Bei der Abrüstung der Atomwaffen vorangehen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Es besteht die Chance auf einen internationalen Abrüstungsprozess. Die
Verleihung des Friedensnobelpreises an den US-Präsidenten Barack Obama
und seine Worte bei der historischen Rede in Prag sind Zeichen für einen
Paradigmenwechsel. Der Präsident der größten Atommacht der Welt unter-
stützt die Vision einer atomwaffenfreien Welt und ist bereit konkrete Schritte
zur Reduzierung seines Atomwaffenarsenals einzuleiten. Diese Chance
muss genutzt werden. Entweder es gelingt, die Logik der nuklearen Ab-
schreckung zu überwinden und die nukleare Abrüstung wiederzubeleben,
oder wir laufen Gefahr, dass die Weiterverbreitung von Atomwaffen unum-
kehrbar und unkontrollierbar wird. Wir brauchen rasch sichtbare und prakti-
sche Schritte für eine atomwaffenfreie Zukunft in Deutschland, Europa und
der Welt.

2. Nukleare Abrüstung und sicherheitspolitisches Umdenken beginnen zu
Hause. Nur wer selbst bereit ist, ohne den Schutz von Atomwaffen zu leben,
kann von anderen verlangen, dass sie dies auch tun. Deshalb muss die Bun-
desregierung den Weg für ein atomwaffenfreies Deutschland, ein Deutsch-
land ohne nukleare Teilhabe und ohne Atomwaffen endlich frei machen.

Die Ankündigung im Koalitionsvertrag der Bundesregierung, dass die in
Deutschland verbliebenen US-Atomwaffen noch in dieser Legislaturperiode
abgezogen werden sollen, ist daher mit Leben zu füllen. Die Atomwaffen be-
finden sich auf dem einzigen Atomwaffenstandort in Deutschland, dem
Fliegerhorst Büchel (Rheinland-Pfalz). Ein schnelles und unverzügliches
Handeln ist hier erforderlich. Insbesondere da die USA eine Modernisierung
ihrer Atomwaffen erwägt.
3. Die Stationierung von Atomwaffen in Deutschland ist ein Sicherheitsrisiko.
Nach einem Untersuchungsbericht der US-Luftwaffe haben die Atomwaf-
fenlager in Europa erhebliche Sicherheitsmängel. Eine weitere Inkaufnahme
des Risikos, dass es zu einem terroristischen, technischen oder versehent-
lichen Atomwaffenzwischenfall in Deutschland kommt, ist unverantwort-
lich.

Drucksache 17/122 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

4. Mehr als 75 Prozent der Bundesbürger sprechen sich für einen Abzug der
Atomwaffen aus Deutschland aus. Mit der Kampagne „unsere zukunft –
atomwaffenfrei“ fordert ein Zusammenschluss von 50 unabhängigen Orga-
nisationen einen wegweisenden Beitrag Deutschlands zu einer atomwaffen-
freien Welt. Vom Deutschen Bundestag und der Bundesregierung werden
nicht allgemeine Bekenntnisse, sondern konkrete Schritte in eine atomwaf-
fenfreie Zukunft gefragt.

Der Deutsche Bundestag begrüßt und unterstützt die in der 15. Legislatur-
periode getroffene Entscheidung der damaligen Bundesregierung, keine
neuen nuklearwaffenfähigen Trägersysteme zu beschaffen und damit die ak-
tive nukleare Teilhabe perspektivisch zu beenden. Der Deutsche Bundestag
sieht in einem schnellstmöglichen Ausstieg der Bundeswehr aus der aktiven
nuklearen Teilhabe einen wichtigen Beitrag, um

● den vollständigen Abzug der Atomwaffen aus Deutschland und Europa zu
ermöglichen,

● mittels dieser vertrauensbildenden Vorleistung eine Wiederbelebung der
Verhandlungen zur überprüfbaren Vernichtung und Begrenzung aller sub-
strategischer Atomwaffen zu befördern,

● innerhalb der NATO und auf eine Änderung der Nuklearstrategie des
Bündnisses in die Wege zu leiten,

● gegenüber anderen Nichtkernwaffenstaaten mit größerer Glaubwürdigkeit
für einen Verzicht auf Nuklearwaffen werben zu können,

● Impulse zur weiteren nuklearen Abrüstung, vor allem für eine erfolgreiche
Überprüfungskonferenz 2010 – zum Nichtweiterverbreitungsvertrag zu
geben,

● Risiken eines terroristischen, technischen oder versehentlich verursachten
Atomwaffenzwischenfalls in Deutschland zu beseitigen,

● den erheblichen Aufwand und die signifikanten Kosten im Zusammen-
hang mit der aktiven nuklearen Teilhabe zu sparen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Bereitstellung von Bundeswehrpiloten und Jagdbombern zum Atomwaf-
feneinsatz unverzüglich einzustellen und die Bundeswehr schnellstmöglich
und ersatzlos von der Aufgabe der aktiven nuklearen Teilhabe zu befreien,

2. sich gegenüber den USA und anderen Bündnispartnern in der NATO

● für ein atomwaffenfreies Deutschland einzusetzen und den Weg für den
Abzug der verbliebenen US-Atomwaffen frei zu machen,

● für den sofortigen Abzug der Atomwaffen aus Büchel einzusetzen und
hierüber unverzüglich Gespräche aufzunehmen,

● für einen weiteren und vollständigen Abbau der US-amerikanischen
Atomwaffen in Europa mit Nachdruck zu werben,

● dafür einzusetzen, dass es im Zuge der Überarbeitung der NATO-Strategie
zu einer raschen Entnuklearisierung und weiteren und nuklearen Abrüs-
tung des Bündnisses kommt,

● dafür einzusetzen, dass die Politik der nuklearen Abschreckung – u. a.
durch den Verzicht auf die nukleare Ersteinsatzoption und die Drohung
eines Atomwaffeneinsatzes gegen Nichtatomwaffenstaaten – überwunden
wird,

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/122

3. sich im Vorfeld der NVV-Überprüfungskonferenz 2010 mit Nachdruck dafür
einzusetzen, dass es im Bereich der substrategischen und strategischen
Atomwaffen – insbesondere von Seiten der USA und Russlands – zu über-
prüfbaren, weitreichenden und unumkehrbaren Abrüstungsschritten kommt,
die in absehbarer Zeit zu einer atomwaffenfreien Zukunft führen,

4. sich an der Ausarbeitung einer Nuklearwaffenkonvention zur Ächtung der
Atomwaffen konstruktiv zu beteiligen.

Berlin, den 2. Dezember 2009

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung
1. Die Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag zum Ziel der nuklearen

Abrüstung bekannt. Dieses Versprechen muss in den kommenden Jahren
durch aktive Beiträge Deutschlands in die Tat umgesetzt werden.

Während die Grünen vor 30 Jahren für ihre Forderung nach einer atomwaffen-
freien Welt in Ost und West belächelt wurden, ist „Global Zero“ derzeit in al-
ler Munde. Wenn jene, die die rot-grüne Bundesregierung 1998 noch dafür
kritisiert haben, dass sie sich in der NATO für einen Verzicht auf den Erstein-
satz von Atomwaffen einsetzte, ihre Position inzwischen korrigiert haben,
dann ist das zu begrüßen. Die rot-grüne Bundesregierung hat 2005 im Umfeld
der NVV-Überprüfungskonferenz ihre Bereitschaft erklärt, einen Abzug der
US-Atomwaffen aus Deutschland zu befürworten. Die Regierung der großen
Koalition hat 2006 im „Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur
Zukunft der Bundeswehr“ ihr Festhalten an der nuklearen Teilhabe Deutsch-
lands bekräftigt. Das war ein friedens- und abrüstungspolitischer Rückschritt.
Sie begründete dies mit Bündnissolidarität, fairer Lastenteilung und der Not-
wendigkeit, an einer glaubwürdigen nuklearen Abschreckung festhalten zu
müssen.

Mit dieser Haltung entwertete die damalige Bundesregierung ihre abrüstungs-
politischen Bekenntnisse. Gleichzeitig behinderte sie mit einem Beharren auf
der nuklearen Teilhabe und einer Stationierung von Atomwaffen in Deutsch-
land, dass von Deutschland ein wichtiges abrüstungspolitisches Signal aus-
geht. Mit der neuen US-Administration gibt es ungleich größere Chancen, bei
der nuklearen Abrüstung deutliche Fortschritte zu machen. Deutschland muss
in der Atomwaffenfrage abrüstungspolitischer Motor und nicht Bremser sein.
Es gibt in Deutschland eine breite Mehrheit für ein atomwaffenfreies
Deutschland und einseitige nukleare Abrüstungsschritte. Dies muss sich in
der Politik der Regierungskoalition widerspiegeln.

2. Mit ihren aufsehenerregenden Beiträgen „A World Free of Nuclear Weap-
ons“ (Wall Street Journal, 4. Januar 2007) und „Toward a Nuclear-Free
World“ (Wall Street Journal, 15. Januar 2008) haben sich erfahrene außen-
politische Experten wie George Shultz, William Perry, Henry Kissinger und
Sam Nunn von der nuklearen Abschreckungspolitik verabschiedet und dafür
plädiert, praktische Schritt in eine atomwaffenfreie Zukunft zu gehen. Ange-
sichts der Einsicht, dass wir an der Schwelle zu einem neuen Atomzeitalter
stehen, in dem die Weiterverbreitung von Atomwaffen mit all ihren existen-
ziellen Risiken – trotz diverser neuer Instrumente – kaum noch unter Kon-
trolle zu halten ist, sehen sie den einzigen vernünftigen Ausweg in der Be-
seitigung aller Atomwaffen.
Dies ist nicht nur eine späte Genugtuung für jene Menschen in Ost und West,
die in Kirchenräumen, auf der Straße oder in Parlamenten seit Jahrzehnten vor

Drucksache 17/122 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
den verhängnisvollen Folgen der Logik der nuklearen Abschreckung gewarnt
und für deren Abschaffung gestritten haben. Die Shultz-Gruppe (auch „Gang
of 4“ genannt) hat die politische Diskussion und abrüstungspolitische Pro-
grammatik von US-Präsident Barack Obama nachhaltig beeinflusst. Die Vi-
sion einer atomwaffenfreien Welt und praktische Schritte zur nuklearen Ab-
rüstung und effizienten nuklearen Nichtweiterverbreitung werden offiziell
angekündigt. Dies ist eine große historische Chance, die im Vorfeld der NVV-
Überprüfungskonferenz 2010 genutzt werden muss.

3. Bei der Wiederbelebung der nuklearen Abrüstung sind vor allem – aber
nicht nur – die Atomwaffenstaaten gefragt. Die Logik der nuklearen Ab-
schreckung ist nach wie vor Teil einer NATO-Strategie, die weder vor dem
Ersteinsatz noch vor dem Einsatz gegen Nichtatomwaffenstaaten zurück-
schreckt, und die dringend geändert werden muss. Ein wesentlicher Baustein
ist die Beendigung der nuklearen Teilhabe und der Abzug der US-Atomwaf-
fen aus Mitteleuropa.

4. Fast 20 Jahre nach Ende des Kalten Krieges lagern immer noch US-amerika-
nische Atomwaffen in Deutschland und Europa. Der Untersuchungsbericht
der US-Luftwaffe („Blue Ribbon Review of Nuclear Weapons Policies and
Procedures“) vom Februar 2008 kommt zu dem Ergebnis, dass es in
Deutschland und in den übrigen Stationierungsländern erhebliche Sicher-
heitsmängel gibt. Jede einzelne dieser Atomwaffen hat die Zerstörungskraft
von mehreren Hiroshima-Bomben. Nähere Angaben werden geheim gehal-
ten. Nachdem 2004/2005 die auf der US-Airbase in Ramstein gelagerten
Atombomben – vermutlich dauerhaft – ausgeflogen wurden, ist der Flieger-
horst Büchel der einzige Atomwaffenstandort in Deutschland. Hier sollen
sich noch ca. 20 Atombomben befinden. Diese Atomwaffen sollen im Ernst-
fall von der Bundeswehr eingesetzt werden. TORNADO-Piloten des Jagd-
bombergeschwaders 33 bereiten sich heute noch darauf vor.

5. Taktische oder substrategische Atomwaffen unterliegen bisher keiner über-
prüfbaren Abrüstungs- oder Rüstungskontrollverpflichtung. Ihre weitere Re-
duzierung und vollständige Beseitigung ist insbesondere vor dem Hinter-
grund der Gefahr, dass diese, zum Teil überalterten Waffen durch Diebstahl
in falsche Hände gelangen könnten, von eminenter Bedeutung. Experten ge-
hen davon aus, dass die USA etwa 500 substrategische Atomwaffen für einen
kurzfristigen Einsatz bereithalten und weitere 800 in Reserve haben. Schät-
zungen zufolge hat Russland ca. 3 000 taktische Atomwaffen im Bestand.

6. In den USA gibt es seit geraumer Zeit Stimmen, die für eine völlige Abrüstung
dieser Waffen plädieren. Andere wollen deren Modernisierung. Im Haushalts-
jahr 2010 sollen mindestens 32,5 Mio. US-Dollar investiert werden, um zu
untersuchen, wie atomare Fliegerbomben des Typs B61 modernisiert werden
können. Waffen dieses Typs lagern im Rahmen der nuklearen Teilhabe der
NATO auch in Büchel beim Jagdbombergeschwader 33 der Luftwaffe. Sollte
die US-Regierung in ihrem Anfang 2010 fälligen Bericht zur Zukunftsplanung
des US-Nuklearwaffenpotentials, dem Nuclear Posture Review, bestätigen,
dass eine neue Bombe erforderlich ist, sollen weitere 15 Mio. US-Dollar ver-
fügbar werden. Wenn zunächst auch nur die Möglichkeit zur Modernisierung
der nichtnuklearen Komponenten untersucht wird, wie zum Beispiel eine Er-
neuerung der Waffenelektronik, stehen auch Entscheidungen über eine even-
tuelle Modernisierung der nuklearen Komponenten an. Die US-Abgeordneten
werden sich vor Untersuchungen diesbezüglich erneut mit diesem Vorhaben
befassen. Deshalb muss die Bundesregierung hier unverzüglich handeln und
die Vereinbarung des Koalitionsvertrages, die Lagerung aller Atomwaffen in
Deutschland zu beenden, zügig umsetzen.

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