BT-Drucksache 17/12184

EU-weite Regelungen zur Durchführung von klinischen Prüfungen mit Humanarzneimitteln; Schutz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sicherstellen hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i.V.m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union

Vom 30. Januar 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/12184 (neu)
17. Wahlperiode 30. 01. 2013

Antrag
der Abgeordneten Kathrin Vogler, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
Dr. Martina Bunge, Heidrun Dittrich, Klaus Ernst, Katja Kipping, Jutta Krellmann,
Yvonne Ploetz, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Senger-Schäfer, Harald Weinberg,
Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

EU-weite Regelungen zur Durchführung von klinischen Prüfungen mit Human-
arzneimitteln – Schutz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sicherstellen

hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit
von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Europäische Kommission hat am 17. Juli 2012 den Vorschlag einer „Verord-
nung des Europäischen Parlaments und des Rates über klinische Prüfungen mit
Humanarzneimitteln und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/20/EG“ (Rats-
dokument 12751/12) vorgelegt. Mit dem in allen EU-Mitgliedstaaten einheitlich
geltenden Rechtsrahmen soll eine durchgängige Harmonisierung der Anforde-
rungen an klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln erreicht werden, die bis-
her wegen der in den Mitgliedstaaten unterschiedlichen Umsetzung der bislang
geltenden Richtlinie 2001/20/EG und mitgeltender Richtlinien nicht vorliegt.
Dies hat insbesondere Bedeutung bei der Durchführung einer klinischen Prü-
fung in mehr als einem Mitgliedstaat (multinationale klinische Prüfung).

In Deutschland wurde die Richtlinie 2001/20/EG im Jahr 2004 mit dem Zwölf-
ten Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes und der Verordnung über die
Anwendung der Guten Klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen
Prüfungen mit Arzneimitteln zur Anwendung am Menschen (GCP-Verordnung)
in nationales Recht umgesetzt.

Dabei hat der Gesetzgeber von seinem Umsetzungsspielraum Gebrauch ge-
macht. Zum Beispiel hat er für besonders vulnerable Patientengruppen wie Min-

derjährige oder nicht einwilligungsfähige Erwachsene Grenzen eingezogen.
Eine Teilnahme Minderjähriger an klinischen Prüfungen, für die kein eigener
Nutzen, sondern nur ein Gruppennutzen erwartet wird, ist insbesondere nur dann
möglich, wenn damit nur minimale Risiken und minimale Belastungen einher-
gehen. Das Zusammenwirken der federführenden mit den anderen beteiligten
Ethikkommissionen am Genehmigungsverfahren wurde konkret ausgestaltet

Drucksache 17/12184 (neu) – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

und festgelegt, dass die Aufklärung und Behandlung der Prüfungsteilnehme-
rinnen und Prüfungsteilnehmer durch eine Ärztin/einen Arzt zu erfolgen hat.

Somit besteht in Deutschland seit August 2004 eine auf dem europäischen
Rechtsrahmen gegründete Regelung, die sich sowohl hinsichtlich des Schutzes
von Teilnehmerinnen und Teilnehmern an klinischen Prüfungen als auch aus der
Sicht der Sponsoren klinischer Arzneimittelforschung insgesamt bewährt hat.
Nicht zuletzt haben die deutschen Regelungen keineswegs zu einem Rückgang
klinischer Arzneimittelprüfungen in Deutschland geführt. Die von der Europäi-
schen Kommission zur Begründung der Neuregelungen gemachte Aussage ist
auf die deutsche Situation nicht übertragbar. Deutschland ist seit der europawei-
ten Umsetzung der Richtlinie 2001/20/EG einer derjenigen Mitgliedstaaten mit
den meisten Anträgen auf Genehmigung einer klinischen Prüfung. Ein Grund
dafür dürften die in Deutschland gut etablierten Verfahren bei den zuständigen
Bundesoberbehörden und den Ethikkommissionen sein. Der Deutsche Bundes-
tag fordert ausdrücklich, dass der Verordnungsvorschlag der Kommission auch
in Zukunft ausreichend praktikable Regelungen für die klinischen Prüfungen
vorsieht.

Der Deutsche Bundestag betont die besondere Bedeutung klinischer Forschung
in der Europäischen Union (EU) im Hinblick auf die Entwicklung neuer Arznei-
mittel und die weitere Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten von Krank-
heiten.

Der Deutsche Bundestag anerkennt das Ziel des Verordnungsvorschlags im Hin-
blick auf eine weitere Vereinheitlichung der klinischen Prüfung in der EU, ins-
besondere indem die Einreichungs- und Bewertungsverfahren der Anträge EU-
weit harmonisiert und damit die Attraktivität der EU als Forschungsstandort
gesteigert wird. Dies gilt auch für die Aufnahme risikoadaptierter Aspekte in die
Verordnung, mit der für klinische Prüfungen mit geringfügigen Interventionen
und mit bereits zugelassenen Prüfarzneimitteln bessere Prüfungsbedingungen
geschaffen werden, die insbesondere von nichtkommerziellen Forschern gefor-
dert werden.

Das im Kommissionsvorschlag gewählte Rechtsinstrument einer Verordnung,
die aufgrund ihrer EU-weiten und verbindlichen Geltung gleiche Voraussetzun-
gen an die Durchführung klinischer Arzneimittelprüfungen festlegt, wird grund-
sätzlich als sachgerecht anerkannt. Jedoch weist der Verordnungsvorschlag
erhebliche Mängel auf, die in dem weiteren europäischen Gesetzgebungsverfah-
ren behoben werden müssen. Dies betrifft insbesondere:

1. Die Regelungen zum Schutz der Prüfungsteilnehmerinnen und Prüfungsteil-
nehmer: Der Verordnungsvorschlag reduziert den Schutz von Minderjähri-
gen bei gruppennütziger Forschung und bei Personen in Notfallsituationen.
Der Widerspruch von widerspruchsfähigen Minderjährigen und erwachsenen
Nichteinwilligungsfähigen gegen die Teilnahme oder Fortsetzung einer Arz-
neimittelprüfung muss nicht beachtet werden. Eine Öffnungsklausel, um die
Schutzvorkehrungen für besonders vulnerable Personengruppen an die unter-
schiedlichen mitgliedstaatlichen Anforderungen anzupassen, ist ebenfalls
nicht vorgesehen. Eine Instrumentalisierung von Patientinnen und Patienten
wäre nicht mit den Grundrechten der Europäischen Menschenrechtskonven-
tion sowie der Charta der Grundrechte der EU vereinbar.

2. Die fehlende Berücksichtigung von Ethikkommissionen bei der Bewertung
von Anträgen auf Genehmigung klinischer Prüfungen und wesentlicher
Änderungen: Der Verordnungsvorschlag sieht nicht länger das zustimmende
Votum einer unabhängigen, interdisziplinär besetzten Ethikkommission ver-
pflichtend vor. Somit muss das geplante Forschungsvorhaben nicht zwingend
vor seinem Beginn einer von der Zulassungsbehörde unabhängigen Einrich-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/12184 (neu)

tung zur Beratung und Zustimmung vorgelegt werden. Die vorgesehenen
Prüfzeiträume reichen für eine angemessene Bewertung der Risiken und Be-
lastungen für Prüfungsteilnehmerinnen und Prüfungsteilnehmer, des wissen-
schaftlichen Nutzens und der weiteren Voraussetzungen für eine Genehmi-
gung nicht aus.

3. Das Verfahren zur Auswahl des berichterstattenden Mitgliedstaates und der
Zusammenarbeit der betroffenen Mitgliedstaaten, in denen die klinische Prü-
fung stattfindet, bei der Bewertung von Anträgen zur Genehmigung klini-
scher Prüfungen: Nach dem Verordnungsvorschlag bestimmt allein der Spon-
sor den berichterstattenden Mitgliedstaat. Die Einbeziehung der betroffenen
Mitgliedstaaten in den Genehmigungsprozess ist insgesamt nicht ausrei-
chend.

4. Die Regelungen zum Entschädigungsmechanismus: Die Mitgliedstaaten sind
zur Einrichtung eines nationalen Entschädigungsmechanismus verpflichtet.
Die Inanspruchnahme des Entschädigungsmechanismus ist auch für kom-
merzielle Sponsoren kostenfrei, wenn die klinische Prüfung nicht zur Zulas-
sung vorgesehen ist.

5. Die Ausnahmen für bestimmte schwerwiegende unerwartete Ereignisse aus
der Meldepflicht: Dies verzerrt das Risikoprofil der klinischen Prüfung und
führt gegebenenfalls zu Fehleinschätzungen der Risiken.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

sich bei den EU-Verhandlungen des Vorschlags für eine Verordnung des Euro-
päischen Parlaments und des Rates über klinische Prüfungen mit Humanarznei-
mitteln und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/20/EG für folgende Änderungen
einzusetzen:

1. Das in Deutschland bestehende und grundrechtlich gebotene Schutzniveau
für Prüfungsteilnehmerinnen und -teilnehmer muss in den Verordnungsvor-
schlag aufgenommen werden, insbesondere auch für Minderjährige sowie für
nicht einwilligungsfähige erwachsene Patientinnen und Patienten; zumindest
muss den Mitgliedstaaten in der Verordnung die Möglichkeit eingeräumt
werden, strengere Schutzregelungen in den nationalen Gesetzen vorzusehen:

a) Die klinische Prüfung darf nur begonnen werden, wenn die vorhersehba-
ren Risiken und Belastungen für die Prüfungsteilnehmerinnen und -teil-
nehmer ärztlich vertretbar sind.

b) Die Aufklärung der Prüfungsteilnehmerinnen und -teilnehmer sowie ihre
Behandlung müssen durch eine Ärztin/einen Arzt erfolgen.

c) Bei gruppennütziger Forschung an kranken Kindern dürfen nur minimale
Risiken und minimale Belastungen (absolute und nicht relative Schranke)
erlaubt sein.

d) Minderjährige und nicht einwilligungsfähige Erwachsene, die in der Lage
sind, sich eine Meinung zu bilden und die ihnen gegebenen Informationen
zu beurteilen, müssen in die Entscheidungsfindung über die Teilnahme an
einer Arzneimittelstudie einbezogen werden. Sofern Minderjährige be-
reits einwilligungsfähig sind, ist neben der Einwilligung ihres gesetz-
lichen Vertreters auch ihre eigene Einwilligung notwendig; falls sie ledig-
lich widerspruchsfähig sind, ist ihre Teilnahme nur möglich, wenn sie nicht
widersprechen.

e) Bei Forschung an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen und an Per-
sonen in Notfallsituationen ist ein direkter individueller Nutzen vorauszu-

setzen.

Drucksache 17/12184 (neu) – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

2. Unabhängige, interdisziplinär besetzte Ethikkommissionen müssen weiter-
hin in das Genehmigungsverfahren (Erstgenehmigung, nachträgliche Ein-
beziehung von Mitgliedstaaten und bei wesentlichen Änderungen) einbe-
zogen werden. Dabei darf die Genehmigung nur erteilt werden, wenn die
Ethikkommission die im Antrag enthaltenen ethischen Aspekte, insbeson-
dere die Anforderungen zum Schutz der Prüfungsteilnehmerinnen und -teil-
nehmer und die ärztliche Vertretbarkeit der klinischen Prüfung zustimmend
bewertet hat.

3. Der berichterstattende Mitgliedstaat wird nach einem festgelegten, nach-
vollziehbaren und transparenten Verfahren bestimmt und nicht der Wahl des
Sponsors überlassen.

4. Falls der Sponsor einer klinischen Prüfung nicht in der EU niedergelassen
ist, hat er einen gesetzlichen Vertreter mit Sitz in einem Mitgliedstaat der
EU zu bestimmen.

5. Prüfplan und Prüferinformation sollten vom Sponsor bei allen betroffenen
Mitgliedstaaten möglichst in englischer Sprache eingereicht werden, damit
eine EU-weit einheitliche Fassung dieser (auch für die spätere Über-
wachung) wesentlichen Unterlagen vorhanden ist, die als Grundlage des
Genehmigungsbescheids zu sehen sind.

6. Das Verfahren zur Genehmigung einer multinationalen klinischen Prüfung
muss die betroffenen Mitgliedstaaten ausreichend einbeziehen. Dies betrifft
ihre rechtzeitige und zeitlich ausreichende Beteiligung bei der Erstellung
des Bewertungsberichts durch den berichterstattenden Mitgliedstaat und
eine ausreichende Berücksichtigung ihrer relevanten Einwände. Insofern
sollte im Wesentlichen auf Elemente des derzeit freiwilligen Harmonisie-
rungsverfahrens abgestellt werden.

7. Es sind praktikable Fristen zur Entscheidung über die Genehmigung einer
klinischen Prüfung, insbesondere auch für die Erstellung der Bewertungs-
berichte vorzusehen, die eine intensive Prüfung der vom Sponsor einge-
reichten Unterlagen ermöglichen.

8. Es soll keine Verschiebung bei der Nutzen-Risiko-Abwägung zwischen
individuellem Nutzen und dem Nutzen für die öffentliche Gesundheit zu
Lasten der Prüfungsteilnehmerinnen und -teilnehmer geben.

9. Die Einrichtung eines nationalen Entschädigungsmechanismus wird nicht
verbindlich vorgeschrieben, sondern den Mitgliedstaaten ein Spielraum für
die Ausgestaltung der versicherungsrechtlichen Absicherung der Proban-
dinnen und Probanden eingeräumt.

10. Die Ausnahme von bestimmten schwerwiegenden unerwarteten Ereignis-
sen aus der Meldepflicht wird gestrichen. Schwerwiegende unerwünschte
Ereignisse, die während der klinischen Prüfung auftreten, sind ausnahmslos
zu melden.

11. Aus der Definition „klinische Studie“ bzw. „klinische Prüfung“ eines Arz-
neimittels muss deutlich werden, dass alle Phasen der klinischen Prüfung
mit gesunden und kranken Teilnehmerinnen und Teilnehmern umfasst
werden.

12. Die Definition der „minimalinterventionellen klinischen Prüfung“ wird so
gefasst, dass hierunter ausschließlich Behandlungen mit im betroffenen
Mitgliedstaat für dieses Anwendungsgebiet zugelassenen Arzneimitteln
fallen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/12184 (neu)

13. Das Inkrafttreten der Verordnung, über das die gesamte Kommunikation
zwischen Sponsor und Behörden erfolgen soll, muss an die Funktionalität
des EU-Portals geknüpft werden.

14. Die Angaben im Anhang I Nummer 59 des Verordnungsvorschlages müs-
sen dahingehend ergänzt werden, dass die zur Bewertung der Prüfstellen-
eignung notwendigen Einzelangaben und Unterlagen zur räumlichen, per-
sonellen, apparativen und notfallmedizinischen Ausstattung vom Sponsor
einzureichen sind.

Berlin, den 30. Januar 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.