BT-Drucksache 17/12090

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU und FDP - Drucksachen 17/11513, 17/12086 - Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme

Vom 16. Januar 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/12090
17. Wahlperiode 16. 01. 2013

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Jörn Wunderlich, Diana Golze, Matthias W.
Birkwald, Heidrun Dittrich, Klaus Ernst, Katja Kipping, Jutta Krellmann, Yvonne
Ploetz, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Senger-Schäfer, Kathrin Vogler, Harald Weinberg,
Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU
und FDP
– Drucksachen 17/11513, 17/12086 –

Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in
eine ärztliche Zwangsmaßnahme

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Aufenthalt und die Behandlung in einer Klinik ist für viele Menschen mit
psychischen Erkrankungen heilsam. Sie erhalten unter fachkundiger Hilfe die
Möglichkeit, sich konstruktiv mit den Symptomen und Ursachen von belasten-
den Empfindungen und Wahrnehmungen auseinanderzusetzen. Durch einen
Aufenthalt kann unter Umständen auch Distanz zu den auslösenden Faktoren
hergestellt werden. Unbestritten ist die Psychiatrie in den letzten 40 Jahren
menschlicher und patientenorientierter geworden. Viele Behandlungsmethoden
wurden infrage gestellt und im Laufe der Zeit ersetzt, andere haben sich be-
währt und wurden beibehalten. Dieser Weg sollte weiter verfolgt werden und
die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und des Bundes-
gerichtshofs (BGH) in den Jahren 2011 und 2012 zur Zwangsbehandlung soll-
ten zum Anlass genommen werden, erneut Gepflogenheiten unvoreingenom-
men und ergebnisoffen auf den Prüfstand zu stellen.

Bei Patientinnen und Patienten, denen Einwilligungsunfähigkeit sowie Selbst-
oder Fremdgefährdung unterstellt wird, kommt in Deutschland häufig die
Fixierung (Anschnallen an das Bett unter weitgehender Beraubung jeder Bewe-
gungsmöglichkeit) bei gleichzeitiger Gabe von starken Psychopharmaka (meist
Neuroleptikum plus Tranquilizer) zum Einsatz. Beide Behandlungen können

Menschen in akuten psychischen Krisen möglicherweise helfen. Wenn sie
zwangsweise erfolgen, sind sie jedoch für viele Betroffene mit großen Ängsten
und dem Gefühl der Ohnmacht und Würdelosigkeit verbunden und können
unter Umständen die Krise verschärfen. Auch im Nachhinein werden sie oft als
extrem traumatisierend und belastender als die Ursprungserkrankung selbst be-
schrieben.

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II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

zur Reduzierung von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie mindestens Fol-
gendes zu regeln bzw. zu initiieren:

1. Ausbau ambulanter Hilfesysteme und Home-Treatment-Angebote mit dem
Ziel, die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern, schnelle Hilfe in
Krisensituation zu gewährleisten und die Zahl der stationären Aufenthalte zu
reduzieren.

2. Evaluierte Modellversuche mit weniger eingreifenden Methoden sind zu ini-
tiieren. Ebenso sollte die Beteiligung von Vertreterinnen und Vertretern von
Selbsthilfegruppen im Klinikalltag erprobt werden.

3. Der Umfang des Einsatzes von Zwang bei der Unterbringung sowie bei
medizinischen und nichtmedizinischen Behandlungsschritten ist flächen-
deckend statistisch zu ermitteln und die Ergebnisse sind der Öffentlichkeit
zugänglich zu machen.

4. Die gesundheitlichen Folgen von Zwangsmaßnahmen und Behandlungs-
alternativen sind soweit möglich klinisch zu untersuchen und darauf folgend
einer Nutzenbewertung zu unterziehen. Es sollte gesetzlich klargestellt wer-
den, inwieweit der bislang bei der Bewertung von Behandlungsmethoden
verwendete Nutzenbegriff Anwendung finden kann.

5. Die sich aus den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts ergebenden
Anforderungen sind klarer gesetzlich zu definieren, damit vor der Zwangs-
behandlung der „ernsthafte, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Aus-
übung unzulässigen Drucks unternommene Versuch“, eine „auf Vertrauen
gründende Zustimmung“ zu erreichen, bewirkt wird.

6. Die angemessene Einbeziehung und Anhörung von Betroffenenvertreterin-
nen und -vertretern bei der Konzeption und Umsetzung von gesetzgeberi-
schen Schritten, aber auch bei Entscheidungen der Selbstverwaltung und der
Fachgesellschaften ist im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention (Arti-
kel 4 Absatz 3) sicherzustellen. Die Beteiligung von Betroffenen bei der
Erstellung der S2-Leitlinie „Therapeutische Maßnahmen bei aggressivem
Verhalten in der Psychiatrie und Psychotherapie“ ist ein erster, aber keines-
falls ausreichender Schritt.

7. Jede Patientin und jeder Patient, bei der/dem der begründete Verdacht be-
steht, dass sie/er im Sinne des Gesetzentwurfs einwilligungsunfähig und be-
handlungsbedürftig werden könnte, muss in jedem Fall auf die Optionen der
Patientenverfügung, der Vorsorgevollmacht sowie der Behandlungsver-
einbarung hingewiesen und deren Möglichkeiten und Grenzen erläutert wer-
den. Das gilt in jedem Fall, falls bereits eine Zwangsbehandlung oder -ein-
weisung erfolgt war. Zusätzlich ist durch die Behandelnden auf die Möglich-
keit einer Beratung durch die Unabhängige Patientenberatung Deutschland
(UPD) hinzuweisen.

8. Im Sinne vergleichbarer Lebensbedingungen sollte die Bundesregierung im
Zuge der ohnehin notwendig werdenden Novellierung der 16 Psychisch-
Kranken-Gesetze der Länder in Zusammenarbeit mit den Landesregierun-
gen darauf hinwirken, eine weitgehende Angleichung beim Unterbringungs-
recht zu erzielen.

9. Die Bundesregierung wird aufgefordert einen Gesetzentwurf vorzulegen,
der die Einführung der fallpauschalenbasierten Honorierung auf psychiatri-
schen Stationen zurücknimmt.

Berlin, den 15. Januar 2013
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/12090

Begründung

Der Krankheitsbegriff ist im psychischen Bereich besonders schwierig. Es gibt
keine gesetzliche Definition von Krankheit. Der BGH definierte sie 1958 als
„jede Störung der normalen Beschaffenheit oder der normalen Tätigkeit des
Körpers, die geheilt, d. h. beseitigt oder gelindert werden kann.“ Sozialrechtlich
ist Krankheit ein „regelwidriger körperlicher, geistiger oder seelischer Zustand,
der Arbeitsunfähigkeit oder Behandlung oder beides nötig macht“ (Bundessozial-
gericht 1972). Beide Definitionen zielen also auf die Abweichung von einer
Norm als Gradmesser für Krankheit ab. Glücklicherweise hat sich die Akzep-
tanz psychischer Vielfalt in den letzten 40 Jahren sehr erhöht. Anderssein und
unterschiedliche Lebensweisen werden nicht mehr als krankhaft wahrgenom-
men. So wurde Homosexualität noch bis in die 1970er-Jahre als Krankheit dia-
gnostiziert, Transsexualität allerdings wird bis heute als Geschlechtsidentitäts-
störung pathologisiert, in Frankreich etwa wurde auch das bereits überwunden.

Der individuelle Leidensdruck ist es vor allem, der ein Charaktermerkmal zur
Krankheit macht und die Heilung – auch im Sinne von Linderung – ist alleinige
Rechtfertigung für eine medizinische Behandlung. Das erkennt prinzipiell auch
der vorliegende Gesetzentwurf an, der eine ärztliche Zwangsmaßnahme nur
zulässt, wenn sie „zum Wohle des Betreuten erforderlich ist“ und „der zu
erwartende Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme die zu erwartenden Beein-
trächtigungen deutlich überwiegt“. Das verfassungsrechtlich anerkannte Recht
zu Krankheit gilt insbesondere auch für psychische Erkrankungen, deren Defini-
tion häufig auch eine normative Komponente besitzt. Es muss daher sicherge-
stellt sein, dass eine Zwangsbehandlung niemals einen erzieherischen Charakter
hin zu gesellschaftlicher Konformität bekommt.

Aussagefähige Studien zu den Wirkungen von Zwangsmaßnahmen sind leider
Mangelware. Weder wurde der Nutzen solcher Behandlungen erwiesen, noch
wurden die traumatisierenden Wirkungen von Zwangsmaßnahmen bei Patien-
tinnen und Patienten überhaupt hinreichend untersucht. Es muss alles Vertret-
bare getan werden, um die Folgen von Zwangsbehandlung für die Betroffenen
zu erforschen und die gewonnenen Erkenntnisse dann auch umzusetzen. Es ist
momentan unklar, auf welcher Grundlage die aus dem Gesetzentwurf zitierten
Anforderungen, vor allem hinsichtlich des Nutzens der Behandlung, überhaupt
erfüllbar sind. Erforderlich ist eine klare Definition des Begriffs „Nutzen“ in
der psychiatrischen (Zwangs-)Behandlung. Bekannte und insbesondere lang-
zeitige Nebenwirkungen von Psychopharmaka sind bei der Nutzenbewertung
einer Zwangsmedikation besonders zu berücksichtigen.

Ein so erheblicher Eingriff in die Grundrechte wie in der Zwangsbehandlung
darf keinesfalls willkürlich erfolgen, sondern muss – soweit er überhaupt ge-
rechtfertigt werden kann – auf evidenzbasierten Maßgaben zum Nutzen für den
einzelnen Patienten/die einzelne Patientin beruhen. Doch die Wahrscheinlich-
keit, zwangsbehandelt zu werden, variiert extrem von Klinik zu Klinik, von
Bundesland zu Bundesland und Staat zu Staat. So liegt bei einer Befragung in
überwiegend baden-württembergischen Psychiatrien der Anteil zwangsbehan-
delter Menschen zwischen 2,2 Prozent und 28,2 Prozent der jeweils behandelten
Patientinnen und Patienten (Dr. Martin Zinkler, Qualitätsmessung in der statio-
nären psychiatrischen Versorgung: Die Rolle von freiheitseinschränkenden
Zwangsmaßnahmen, Vortrag vom 9. Mai 2012). Die Antwort der Bundesregie-
rung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. (Bundestagsdrucksache
17/10712) erbrachte, dass die Wahrscheinlichkeit, nach Landesrecht zwangsein-
gewiesen zu werden, in Bremen etwa zehn Mal höher ist als in Sachsen. Auch
im europäischen Maßstab gibt es riesige Unterschiede. Der Anteil der Zwangs-
einweisungen von allen Einweisungen aufgrund von ärztlichen Attesten oder
richterlichen Beschlüssen liegt in Deutschland bei 18 Prozent, in Portugal bei

3 Prozent und in Schweden bei 30 Prozent, wie der von der EU-Kommission

Drucksache 17/12090 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

finanzierte Forschungsverbund Eunomia (www.eunomia-study.net) herausfand.
Doch die Datenlage ist insgesamt katastrophal. Die Bundesregierung konnte
keinerlei Zahlen beibringen, die Aufschluss darüber geben könnten, welche
Zwangsmaßnahme wie häufig in welcher Region und bei welcher Diagnose
durchgeführt wird. Das widerspricht auch der UN-Behindertenrechtskonven-
tion, die in Artikel 31 ausdrücklich zur „Sammlung geeigneter Informationen,
einschließlich statistischer Angaben und Forschungsdaten, die ihnen ermög-
lichen, politische Konzepte zur Durchführung dieses Übereinkommens auszu-
arbeiten und umzusetzen“ verpflichtet. Der vorliegende Gesetzentwurf leistet
nichts, um diesen Missstand zu beheben.

Der Gesetzentwurf lässt ebenfalls Strategien vermissen, die geeignet sind, die
Zahl und Schwere von Zwangsmaßnahmen zu minimieren. Im Gegenteil: Laut
Gesetzesbegründung soll „eine den Anforderungen der höchstrichterlichen
Rechtsprechung entsprechende Regelung geschaffen werden, mit der die bis zu
den jüngsten Beschlüssen des Bundesgerichtshofs bestehende Rechtslage mög-
lichst nah abgebildet wird.“ Die neuen Regelungen sollen also den richterlichen
und damit grundrechtlichen Anforderungen genügen, sonst aber möglichst we-
nig ändern.

Dabei sind psychiatrische Zwangsbehandlungen, insbesondere die nach dem
BGH-Beschluss untersagte Zwangsmedikation, nicht alternativlos. Dr. Martin
Zinkler, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
Heidenheim, hat in einem Brief an das Bundesministerium der Justiz (veröffent-
licht u. a. in Psychosoziale Umschau 01/2013) seine Erfahrungen seit dem
gerichtlichen Verbot von Zwangsbehandlungen beschrieben. Demnach hätten
sich „in der Behandlung neue Möglichkeiten zur vertrauensvollen Zusammen-
arbeit zwischen Patienten und Behandlungsteam ergeben. […] Die Behand-
lungsfälle in diesem Zeitraum, bei denen früher ein Antrag auf Zwangsbehand-
lung gestellt worden wäre, konnten durch geduldiges Verhandeln, »Dabei-Sein«,
im Gespräch bleiben, mit Patienten, Angehörigen und Betreuern ohne größere
Zwischenfälle zu einer einvernehmlichen Behandlung gebracht werden.“ Nach
seiner Erfahrung hätte „sich durch die fehlende gesetzliche Grundlage zur
Zwangsbehandlung keine nachteilige Situation ergeben – im Gegenteil: Wir
sagen unseren zwangsweise eingewiesenen Patienten, dass sie nicht gegen ihren
Willen medikamentös behandelt werden, und das nimmt der Unterbringung
schon einen Teil der Bedrohung.“

Für die Abwendung einer Fremdgefährdung ist die Unterbringung auf einer
psychiatrischen Station in der Regel ausreichend. Haben Betroffene in einer
Patientenverfügung festgelegt, dass sie einer Fixierung oder Zwangsmedikation
widersprechen, müssen psychische Krisensituationen ohnehin auch anders ge-
löst oder wenigstens überstanden werden. In Großbritannien ist die Fixierung
am Bett inzwischen verboten. Bei akuten Krisen werden die Betroffenen statt-
dessen vom Betreuungspersonal festgehalten und daran gehindert, sich oder an-
deren zu schaden. Es wird berichtet, dass diese Praxis von den Patientinnen und
Patienten als weniger belastend empfunden wird, aber auch dazu fehlen valide
Zahlen. Sogenannte weiche Räume, also Zimmer, die angenehm eingerichtet
und nicht abgeschlossen werden und wo je nach Bedarf mit oder ohne Hilfe die
schwierigen Stunden verbracht werden können, werden vielerorts bereits an-
geboten. Auch das Einsperren in reizarme Räume könnte eine weniger ein-
greifende Alternative darstellen. Dabei überwacht eine Person von außen den
Zustand der Patientin oder des Patienten, so dass bei akuter Selbstgefährdung
schnell reagiert werden kann. Das Personal sollte grundsätzlich ausreichend in
Methoden der Deeskalation geschult sein. Auch mit dem Konzept der offenen
Türen wurden positive Erfahrungen gemacht. Zum Teil scheint die – auch ener-
gische – Ablehnung von Zwang diesen wiederum hervorzurufen. Es erfordert

wohl weitere Untersuchungen, wie der Spirale aus Zwang und Gegenwehr er-
folgreich entgegengewirkt werden kann. Die genannte Eunomia-Studie scheint

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/12090

jedenfalls zu belegen, dass die Behandlungserfolge größer sind, wenn kein
Zwang angewandt wird. Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
(DGSP) meint sogar: „Die nun notwendige Zielstellung, die Orientierung an ei-
nem nachweisbaren Nutzen, sowie die Anforderungen an Überwachung und
Dokumentation stärken nicht nur die Rechtsstellung von Menschen mit psychi-
schen Erkrankungen/seelischen Behinderungen. Sie sind auch in der Lage, die
Qualität psychiatrischer Behandlung insgesamt positiv zu entwickeln.“

Viele der Alternativen zum Fixieren und Alleinlassen – durchschnittlich soll
die Zeit in Bewegungslosigkeit etwa sieben Stunden betragen – erfordern mehr
Personal. Insbesondere das Festhalten verlangt mindestens vier Personen. Die
Personalsituation in deutschen Kliniken, auch auf psychiatrischen Stationen,
lässt eine solche Betreuung meist gar nicht zu. Die Übertragung des fallbezoge-
nen Honorarsystems auch auf die Psychiatrien wird diese Situation verschärfen,
insbesondere, da Untersuchungen in der Praxis darauf hindeuten, dass sich die
Verweildauer ohne Zwangsmedikation verlängern könnte (siehe zitierter Brief
von Dr. Martin Zinkler).

Im Vorfeld sollten ambulante Maßnahmen die Häufigkeit von Zwangsein-
weisungen und -behandlungen verringern. Das Angebot von Beratung und Bei-
stand in psychischen Krisensituationen muss flächendeckend vorhanden sein.
Oftmals können Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort die Betroffenen be-
reits „auffangen“ und eine selbstbestimmte Entscheidung über eine stationäre
Aufnahme ermöglichen. Das Konzept des Home Treatment (Versorgung von
akut psychiatrischen Patientinnen und Patienten in ihrem Zuhause) wird in
vielen Ländern Europas bei chronisch psychisch Erkrankten mit Erfolg ange-
wendet. Es ist der stationären Unterbringung therapeutisch (mindestens) nicht
unterlegen, wird aber von den Betroffenen deutlich positiver gewertet (Becker,
Hoffmann, Puschner, Weinmann: Versorgungsmodelle in Psychiatrie und Psy-
chotherapie). Es gibt auch in Deutschland bereits erfolgreich arbeitende Home-
Treatment-Initiativen. Diese Entwicklung sollte auch mit Mitteln der gesetz-
lichen Krankenversicherung gefördert und evaluiert werden. Nicht zuletzt sind
durch die Reduktion stationärer Aufenthalte gegebenenfalls auch Kostenmin-
derungen möglich.

Psychisch Erkrankte sind Menschen mit Behinderungen im Sinne der UN-
Behindertenrechtskonvention. Die Konvention kennt den Begriff der Einwil-
ligungsunfähigkeit nicht. Vielmehr geht das dort vertretene Fähigkeitsprinzip
davon aus, dass den Betroffenen eine selbstbestimmte Entscheidung über eine
Behandlung ermöglicht werden sollte. Dieser Ansatz spiegelt sich im vorliegen-
den Gesetzentwurf nicht ausreichend wider, obwohl sich Deutschland zur Um-
setzung der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet hat. Vielmehr ermög-
licht er in erster Linie weiterhin eine ärztliche/richterliche Entscheidung über
den natürlichen Willen der Betroffenen hinweg. Selbst wenn das ausnahmsweise
unumgänglich sein sollte, kann auch diesbezüglich der Grundrichtung des Ge-
setzentwurfs nicht gefolgt werden. Stattdessen sollten alle Wege zu einer selbst-
bestimmten Entscheidung der Patientin bzw. des Patienten oder zumindest zu
einer auf Vertrauen begründeten Zusammenarbeit mit den Behandelnden ver-
sucht werden. Auch dieser Ansatz, der ausdrücklich vom Bundesverfassungs-
gericht gefordert wird, ist im Gesetzentwurf nicht ausreichend umgesetzt (ver-
gleiche Stellungnahme der Monitoringstelle zur UN-Behindertenrechtkonven-
tion zum Gesetzentwurf).

Nach Ansicht von Expertinnen und Experten wird der Gesetzentwurf auch wei-
teren Anforderungen des BVerfG nicht hinreichend gerecht. Der Betreuungs-
gerichtstag e. V. schreibt etwa: „Nach dem Entwurf besteht die Gefahr, dass ein
vorläufiger Betreuer durch einstweilige Anordnung bestellt wird und durch

weitere einstweilige Anordnungen die Unterbringung und die ärztliche
Zwangsmaßnahme allein auf der Grundlage eines ärztlichen Zeugnisses des be-

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handelnden Arztes und womöglich auch ohne Anhörung des Betroffenen ge-
nehmigt werden. Dies widerspricht den Vorgaben des BVerfG und den Grund-
sätzen des Betreuungsrechts.“

Das ursprünglich geplante parlamentarische Schnellverfahren – per Ände-
rungsantrag in letzter Minute zu einem sachfremden Gesetz – konnte zwar ver-
hindert und ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren mit einer öffentlichen
Anhörung durchgesetzt werden. Dennoch wird den in der UN-Behinderten-
rechtskonvention geforderten Partizipationsrechten der Betroffenen nicht aus-
reichend genüge getan. Unbedingt erforderlich sind auch weitere Daten und
Studien. Und nicht zuletzt wird eine ergebnisoffene und breite gesellschaftliche
Debatte unter Einbeziehung aller Beteiligten darüber gebraucht, wie in der
psychiatrischen Praxis ein Höchstmaß an freiwilliger, informierter, gegebenen-
falls auch assistierter Entscheidung der Patientinnen und Patienten erreicht
werden kann.

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