BT-Drucksache 17/11665

Aktionsplan Soziale Sicherung - Ein Beitrag zur weltweiten sozialen Wende

Vom 28. November 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11665
17. Wahlperiode 28. 11. 2012

Antrag
der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Markus Kurth,
Beate Müller-Gemmeke, Ute Koczy, Thilo Hoppe, Volker Beck (Köln), Marieluise
Beck (Bremen), Agnes Brugger, Viola von Cramon-Taubadel, Katja Keul,
Sven-Christian Kindler, Tom Koenigs, Kerstin Müller (Köln), Omid Nouripour,
Lisa Paus, Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin, Elisabeth Scharfenberg,
Dr. Frithjof Schmidt, Dr. Harald Terpe, Beate Walter-Rosenheimer und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Aktionsplan Soziale Sicherung – Ein Beitrag zur weltweiten sozialen Wende

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die soziale Kluft zwischen Arm und Reich wird in fast allen Ländern der Erde
zusehends größer. Reiche werden reicher, Arme ärmer. Obwohl fast alle Ent-
wicklungs- und Schwellenländer ein beachtliches Wirtschaftswachstum ver-
zeichnen, profitiert der Großteil der Menschen davon nicht. Deshalb ist eine
weltweite soziale Wende zwingend erforderlich, die Teil der sozial-ökolo-
gischen Transformation sein muss.

Zentraler Bestandteil der sozialen Wende muss die Verwirklichung der im Sozial-
pakt der Vereinten Nationen (VN) von 1966 völkerrechtlich festgeschriebenen
Grundsätze sein: das Recht auf faire, sichere und gesunde Arbeitsbedingungen,
das Recht auf angemessenen, den Lebensunterhalt sichernden Lohn, das Verbot
von Kinderarbeit, das Recht zur Mitbestimmung und zur Bildung von Gewerk-
schaften, außerdem das Recht auf soziale Sicherheit, auch im Alter, einen men-
schenwürdigen Lebensstandard, die Absicherung im Krankheitsfall und das
Recht, vor Hunger geschützt zu sein.

Ein wichtiges Element dieser sozialen Wende ist der weltweite Aufbau sozialer
Sicherungssysteme, denn immer noch haben etwa 80 Prozent der Weltbevölke-
rung keine angemessene soziale Absicherung.

Die negativen Auswirkungen bei fehlender sozialer Sicherung sind vielfältig:
Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) fallen jährlich ca. 100
Millionen Menschen dauerhaft in Armut, da sie für den Krankheitsfall nicht ab-
gesichert sind und so die direkten Behandlungskosten oder indirekte Kosten,
z. B. für den Transport aus eigener Tasche (out of pocket) zahlen müssen. Ge-

rade der Zugang zu Gesundheitsdiensten und Medikamenten kann nur durch
eine solidarische Finanzierung garantiert werden. Auch in anderen Bereichen
ist fehlende Absicherung für viele Menschen verheerend. Vielen Familien
droht, etwa bei Verlust der Arbeit, ein Leben auf der Straße. Auf dem Land
droht bei Ernteausfällen Hunger. Nachhaltige Entwicklung und die Einhaltung
der Menschenrechte sind nicht ohne Solidarität möglich und brauchen starke,
soziale Sicherungssysteme.

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Dieser systemische Ansatz ist auch Teil der derzeitigen Debatte über die Ziele
nach dem Auslaufen der Millennium Development Goals (MDGs) 2015. So
fordert die WHO, dass ihr von vielen Nichtregierungsorganisationen (NGOs)
weltweit unterstütztes Konzept der „Universal Health Coverage“ als Teil der
neu zu entwickelnden „Sustainable Development Goals“ (SDGs) mit aufge-
nommen wird. Auch in anderen internationalen Organisationen wird darüber
nachgedacht, in welcher Form soziale Sicherungssysteme nach dem Auslaufen
der MDGs prominent in den Zielekanon der internationalen Gemeinschaft auf-
genommen werden können.

Besonders wichtig sind soziale Sicherungssysteme für die Ärmsten und beson-
ders vulnerable Gruppen wie chronisch Kranke, Menschen mit Behinderung,
Ältere, Alleinerziehende, Frauen und Kinder. Herausforderungen ergeben sich
bei der Einbeziehung von Menschen außerhalb des formellen Arbeitsmarktes.
Der Anteil informell Beschäftigter beträgt in Entwicklungsländern teilweise bis
zu 80 Prozent. Besonders die Lebensbedingungen von Frauen lassen sich durch
soziale Sicherungssysteme deutlich verbessern und ihre Potentiale, Entwick-
lung voranzutreiben, besser ausschöpfen.

Systeme sozialer Sicherung können Vertrauen zwischen der Bevölkerung und
ihrer Regierung schaffen und politischen Systemen damit Legitimität verleihen.
Gleichzeitig können sie Verteilungskonflikte zwischen sozialen Gruppen ab-
mildern. Damit können sie einen wesentlichen Beitrag zur gesellschaftlichen
und politischen Stabilität leisten. Sie sind ein essentieller Beitrag zur Konflikt-
prävention, da ein zunehmendes Auseinanderklaffen der „sozialen Schere“ Un-
gerechtigkeiten vergrößert und ein hohes Kriminalitäts- und Konfliktpotential
mit sich bringt, wie in vielen Ländern zu beobachten ist. Der Auf- und Ausbau
sozialer Sicherungssysteme ist damit elementar, sowohl für etablierte Staaten
als auch für solche, die sich im Staatsbildungsprozess befinden. Eine solche so-
ziale Grundsicherung fungiert zudem als wirtschaftspolitischer Stabilisator und
hat damit auch eine häufig vernachlässigte wirtschaftliche Investitionsfunktion.

Weltweit ist derzeit eine Renaissance der Sozialpolitik zu erkennen. Es besteht
nun die Chance, das Thema Soziale Sicherung prominent auf die globale
Agenda zu setzen. Dazu muss sich die Bundesregierung zu einer Reihe grund-
legender Prinzipien bekennen und einen konkreten Aktionsplan entwickeln, der
die folgenden Elemente umfasst.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

sich klar zu den folgenden, übergeordneten Prinzipien zu bekennen und

1. den weltweiten Aufbau menschenrechtsbasierter, solidarischer, universeller,
öffentlich organisierter sozialer Sicherungssysteme zu fördern und sich da-
bei am von der International Labour Organization (ILO) vorgeschlagenen
„Social Protection Floor“ zu orientieren;

2. arme und vulnerable Gruppen und Menschen außerhalb des formellen Be-
schäftigungssektors ins Zentrum der Bemühungen zu stellen, ohne dabei den
Anspruch aufzugeben, mittelfristig alle Bevölkerungsgruppen einzubezie-
hen;

3. private Initiativen zum Aufbau sozialer Sicherungssysteme mit öffentlichen
Mitteln zu fördern, wenn sie 1. klar gemeinnützig orientiert, z. B. genossen-
schaftlich organisiert sind, sich 2. innerhalb strenger staatlicher Regularien
bewegen und 3. keine Parallelstruktur zu solidarisch und öffentlich organi-
sierten Sicherungssystemen aufbauen;

4. neben der Förderung von bedarfsgeprüften und konditionierten Sozialtrans-
fersystemen in Entwicklungs- und Schwellenländern auch die Förderung

von Modellprojekten zu bedingungslosen und universellen Sozialtransfers
zu prüfen;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/11665

5. primär die Überwindung der Fragmentierung der Sicherungssysteme, die
Ausweitung des Leistungskataloges und die Erhöhung des Deckungsgrades
mit dem Ziel universeller Absicherung zu unterstützen;

in der bilateralen Zusammenarbeit

6. wie bereits in der letzten Legislaturperiode des Deutschen Bundestages
2008 fraktionsübergreifend beschlossen, das Thema Soziale Sicherung als
einen Schwerpunkt der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit (EZ) des
Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
(BMZ) zu verankern;

7. die Anzahl der im BMZ mit dem Thema Soziale Sicherung befassten Refe-
rentinnen/Referenten deutlich zu steigern, um dem Anspruch, einen
Schwerpunkt im Bereich Soziale Sicherung zu setzen, gerecht zu werden
und dazu entsprechende Umschichtungen im Hause vorzunehmen;

8. die Zielgröße Soziale Sicherung wieder einzuführen und jährlich mindes-
tens 100 Mio. Euro zur Verfügung zu stellen (sowohl für bilaterale als auch
multilaterale Projekte);

9. den Durchführungsorganisationen KfW Bankengruppe und Deutsche Ge-
sellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH durch länger-
fristige Zusagen Planungssicherheit zu geben, um den Aufbau weiterer
Programme und die Entwicklung neuer innovativer Ansätze zu ermög-
lichen;

10. gemeinsam mit den Durchführungsorganisationen einheitliche Standards
für die Absicherung ihrer lokalen Mitarbeiterinnen/Mitarbeiter auszuarbei-
ten, um weltweit beispielgebend voranzugehen;

in der europäischen Zusammenarbeit

11. soziale Sicherung in einem zweigleisigen Ansatz (twin track approach) so-
wohl als eigenständigen Sektoransatz als auch als Querschnittsthema zu
etablieren, das in Fragen der Arbeitsmarktpolitik und Beschäftigungsförde-
rung, der Ernährungssicherung, der ländlichen und der Slum-Entwicklung
oder der Frauenförderung stets integriert werden muss;

12. die Koordination des Engagements der EU-Mitgliedstaaten in der Entwick-
lungspolitik und konkret im Bereich Aufbau sozialer Sicherungssysteme
voranzutreiben (zum Beispiel durch die Erstellung einer Übersicht sämtli-
cher Akteure, Einsatzorte und Projekte durch die EU-Kommission), um
eine in Europa abgestimmte Strategie zur Förderung sozialer Sicherungs-
systeme in Entwicklungs- und Schwellenländern zu entwickeln;

13. die Überprüfung der Förderstrukturen und der Qualität der Arbeitsteilung
innerhalb der EU im Rahmen der Fast-Track-Initiative zur Arbeitsteilung
(FTI-DoL) für weitere Länder durchzuführen, um gleich zu Beginn des
zurzeit deutlich steigenden Engagements europäischer Geber für eine gute
Arbeitsteilung in diesem Bereich zu sorgen;

14. gemeinsame EU-Programme, in denen das Engagement der einzelnen EU-
Mitgliedsländer gebündelt werden kann und durch Engagement der Euro-
päischen Kommission ergänzt wird, aufzulegen, um so mittelfristig auch in
diesem Bereich zu einer vergemeinschafteten, europäischen EZ zu kommen;

15. den Aufbau einer Plattform für globale Partnerschaften zu forcieren, wobei
an vorhandenen Ansätzen wie Providing for health (P4H), International
Health Partnership (IHP+) und dem neuen Mechanismus von G20 und
ILO, dem „Social Protection Interagency Board“, angesetzt werden kann;

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in der multilateralen Zusammenarbeit

16. die ILO in ihrer Arbeit, Länder bei der Umsetzung der sozialen Sicherung
zu unterstützen, zu stärken, indem die freiwilligen Mittel deutlich erhöht
und die zusätzlichen zweckgebundenen Mittel transparent und gebündelt
überwiesen werden und indem die Agenda setzende Arbeit der ILO, zum
Beispiel bei der G20, politisch unterstützt wird;

17. die Ergebnisse der „Social Protection Floor (SPF) Advisory Group“ in der
internationalen Debatte stark zu platzieren (die Gruppe hat unter dem Vor-
sitz der früheren chilenischen Präsidenten Michelle Bachelet u. a. konkrete
Vorschläge zur Anpassung des SPF an lokale Gegebenheiten und zur
Schaffung von finanziellen Spielräumen erarbeitet und fordert den ver-
stärkten Einsatz von Budgethilfen);

18. das auf Vorschlag der G20 unter der Führung der Weltbank und der ILO
eingesetzte „Social Protection Interagency Board“ weiter aktiv voranzu-
treiben und zu etablieren, um das Thema Soziale Sicherung als eine Priori-
tät der weiteren EZ global zu verankern;

19. die seit dem G20-Gipfel in Nizza verstärkte Zusammenarbeit der Arbeits-
und Sozialministerinnen/Sozialminister weiter zu intensivieren und einen
besonderen Fokus auf den weltweiten Auf- und Ausbau sozialer Siche-
rungssysteme zu legen;

20. mit der weltweiten Präsenz durch die Botschaften, die KfW Bankengruppe
und die GIZ als Mittler zwischen verschiedenen Entwicklungs- und
Schwellenländern aufzutreten und durch die gezielte Unterstützung von
Dreiecks- und Süd-/Südkooperationen im Bereich sozialer Sicherungs-
systeme Lerneffekte und die konkrete Übertragung guter Systeme zu er-
möglichen;

21. bei den Verhandlungen über die SDGs das Thema Soziale Sicherung
prominent mit einzubeziehen und mit klaren, ehrgeizigen Indikatoren zu
versehen, um damit den Grundstein für die notwendige soziale Wende zu
legen;

22. darauf hinzuwirken, dass der Weltwirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC)
der Vereinten Nationen reformiert und gestärkt wird und dass er die Forde-
rung nach sozialen Sicherungssystemen zu einem Schwerpunkt seiner Ar-
beit macht;

23. darauf hinzuwirken, dass multilaterale Fonds wie etwa der Globale Fonds
zur Bekämpfung von AIDS, Tuberkulose und Malaria (GFATM) die bisher
vor allem vertikal angelegten Programme zu einzelnen Krankheiten ver-
stärkt mit horizontalen Ansätzen, also dem Aufbau von Infrastruktur und
Sozialsystemen verbinden.

Berlin, den 27. November 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Die deutsche Entwicklungspolitik muss einen Schwerpunkt beim Auf- und
Ausbau sozialer Sicherungssysteme in Entwicklungs- und Schwellenländern

setzen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/11665

Es ist ein konkreter Aktionsplan zum Aufbau sozialer Sicherungssysteme in
Entwicklungs- und Schwellenländern notwendig, der die oben genannten For-
derungen und die folgenden Präzisierungen umfassen muss (dies gilt für alle
oben angesprochenen Ebenen; eine besonders wichtige Rolle messen wir künf-
tig der Europäischen Union zu):

• Förderung im Rahmen der Europäischen Union

Gerade im Rahmen der Europäischen Union ist in den vergangenen Jahren ein
verstärkter Fokus auf den Themenbereich Soziale Sicherung gelegt worden.
Die Relevanz der sozialen Sicherung in der europäischen EZ wurde im europä-
ischen Entwicklungsbericht 2010 mit dem Titel „Soziale Sicherung für inklu-
sive Entwicklung“ umfassend aufgezeigt. Soziale Sicherung muss nun vollstän-
dig in die entwicklungspolitische Agenda der EU eingebunden werden. Dafür
bedarf es a) mehr Koordination der EZ der EU-Mitgliedstaaten durch die EU
und b) gleichzeitig einer konkreteren Ausgestaltung der EU-EZ selber. Nur so
lässt sich mehr Kohärenz sicherstellen. Langfristig ist eine Vergemeinschaftung
der EZ aller EU-Mitglieder anzustreben.

a) Die Relevanz von mehr Koordination ist deutlich. Die Unterstützung zum
Beispiel in Afrika konzentriert sich bislang bevorzugt auf eine Handvoll von
Ländern. Äthiopien, Ghana, Kenia, Malawi, Ruanda und Sambia werden
von mehreren, teils von vielen europäischen Staaten unterstützt, andere Län-
der dagegen überhaupt nicht.

b) Darüber hinaus muss die EU-Kommission ihre eigene Strategie zur Förde-
rung sozialer Sicherungssysteme weiter ausarbeiten. Dabei bedarf es kon-
kreter Pläne, wie das Engagement der Mitgliedstaaten mittelfristig in ge-
meinsamen EU-Programmen für entsprechende Länder gebündelt werden
kann, um sich so den Entwicklungsstrategien und Programmzyklen der Part-
nerländer anzupassen. Nur so kann ein abgestimmtes EU-Engagement orga-
nisiert und zugleich die Eigenverantwortung der Partnerländer gefördert
werden. Mittelfristig sollte die Förderung sozialer Sicherung in immer grö-
ßeren Teilen in EU-Programme übergehen.

Die EU-Kommission muss darüber hinaus, wie oben gefordert, den Aufbau
einer Plattform für globale Partnerschaften forcieren, die eine bessere Abstim-
mung der staatlichen Akteure und die Einbeziehung von nichtstaatlichen Akteu-
ren organisiert und sich an zivilgesellschaftliche Organisationen wie Universitä-
ten, Gewerkschaften und NGOs richtet.

Gute Ansätze, wie sie die FTI-DoL auch für den Bereich Soziale Sicherung
hervorgebracht hat, müssen ausgebaut werden. Im Rahmen dieser Initiative
wurden bereits einzelne Länder Prüfungen unterzogen, in denen die Geberland-
schaft im Bereich Soziale Sicherung aufgearbeitet und eine so genannte Frag-
mentierungstabelle erstellt wurde, um daraus Schritte zur Harmonisierung ab-
zuleiten. Diese Ansätze müssen verstärkt werden.

• Multilaterale Zusammenarbeit

Eine ganze Reihe von multilateralen Organisationen und Gruppen befasst sich
mittlerweile schwerpunktmäßig oder als neues politisches Betätigungsfeld mit
dem Aufbau sozialer Sicherungssysteme, mit „inklusivem“ Wachstum und
Umverteilung. Besonders relevant sind dabei die ILO, die WHO, die G20, die
Weltbank und diverse regionale Entwicklungsbanken. Der derzeitige globale
Rückenwind für sozialpolitische Themen muss gestärkt und ausgebaut werden.
Die Weltbank hat ganz aktuell eine neue Strategie zu Arbeit und sozialer Siche-
rung 2012 bis 2020 vorgelegt.
Die ILO hat zur Ausweitung der sozialen Sicherung die „Treppe der Sozialen
Sicherheit“ vorgelegt. Allen Menschen soll ein sozialer Basisschutz (Social Pro-

Drucksache 17/11665 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

tection Floor) garantiert werden, der folgende Standards umfasst: eine Basis-
gesundheitsversorgung, Mindesteinkommensgarantien für Kinder, Unterstüt-
zung für Arme und Arbeitslose und Mindesteinkommensgarantien im Alter und
für Menschen mit Behinderung. Wohlhabendere müssen Teil des solidarischen
Systems werden, können sich darüber hinaus aber anderweitig versichern. Die
WHO stellt in ihrem Konzept zum universellen Zugang zur Gesundheitsversor-
gung drei Ziele auf: den Deckungsgrad erhöhen, den Leistungskatalog auswei-
ten und mittelfristig völlig auf individuelle Zuzahlungen verzichten. Auf diesen
Grundlagen müssen auf die jeweiligen Länder angepasste Systeme entwickelt
werden.

Die G20 hat seit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise die Stärkung von
sozialer Sicherung und Beschäftigung als eine Priorität erkannt. Zur Unterstüt-
zung sozialer Sicherungssysteme hat die Arbeitsgruppe zur Entwicklungspolitik
vorgeschlagen, einen Mechanismus zur Koordinierung der verschiedenen rele-
vanten Organisationen zu etablieren. Ein fast identischer Vorschlag kam von ei-
nem Beratungsgremium der ILO um die frühere chilenische Präsidentin
Michelle Bachelet. Gemeinsam mit der ILO wurde das „Social Protection Inter-
agency Board“ eingerichtet. Dem Vorschlag der G20 zufolge soll der
Mechanismus von ILO und Weltbank geleitet werden und u. a. den Internatio-
nalen Währungsfonds, die United Nations Department of Economic and Social
Affairs, das United Nations Development Programme, UNICEF, die WHO, das
United Nations World Food Programme und die regionalen Entwicklungs-
banken umfassen. Relevante NGOs sollen als Beobachter eingeladen werden.
Ziel ist die globale Etablierung des Themas als eine der Prioritäten der weiteren
EZ. Am 2. und 3. Juli 2012 fand die konstituierende Sitzung des Kreises in New
York statt. Die Bundesregierung muss diesen Prozess aktiv weiter voran treiben.
Darüber hinaus muss die seit dem G20-Gipfel in Nizza verstärkte Zusammenar-
beit der Arbeits- und Sozialminister/-ministerinnen weiter intensiviert werden.

Das klassische Nord-Süd-Denken ist überholt. Gerade in vielen Schwellenlän-
dern wurden in den vergangenen Jahren vielversprechende, moderne Systeme
sozialer Sicherung entwickelt, die zum Beispiel Menschen im informellen Sek-
tor wesentlich besser erreichen als unsere Sozialversicherungssysteme. Aller-
dings haben Länder wie Indien keine Durchführungsorganisationen, die den
Austausch zwischen den Südländern abwickeln könnten. Deutschland muss hier
mit seiner weltweiten Präsenz als Mittler auftreten. Beispielsweise wäre der
Ausbau von Kooperationen zu den Themen Sozialpolitik und Gesundheit denk-
bar. Indien erhält bereits vielfach Anfragen, die es nicht bedienen kann. Ebenso
haben bereits China und Chile Interesse an Kooperationen zum Thema Absiche-
rung alter Menschen angemeldet. Die Bundesregierung muss hier explizit Pro-
gramme auf den Weg bringen, um Dreiecks- und Süd-Süd-Kooperation zu stär-
ken. Dadurch würde gleichzeitig die zentrale Rolle der Bundesrepublik
Deutschland in der globalen Arbeit für „inklusives“ Wachstum gestärkt.

2015 ist das Bezugsjahr der MDGs. Die Debatte darum, welche Ziele anschlie-
ßend eine ähnliche Rolle einnehmen könnten, hat begonnen. Hierbei muss das
Thema Soziale Sicherung an zentraler Stelle mitgedacht werden. Als umfassen-
der Ansatz kann Soziale Sicherung dazu beitragen, unterschiedlichste Lebensri-
siken für die verwundbarsten Gruppen, für Kinder, Frauen, Kranke, Behinderte
oder Alte, systematisch zu minimieren. Der Ansatz beschreibt dabei gleichzei-
tig ein breites, neues Gesellschafts- und Entwicklungskonzept und ganz kon-
krete Handlungsoptionen, um Entwicklung voranzubringen.

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