BT-Drucksache 17/11042

Psychische Belastungen in der Arbeitswelt reduzieren

Vom 17. Oktober 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11042
17. Wahlperiode 17. 10. 2012

Antrag
der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Dr. Martina Bunge,
Diana Golze, Herbert Behrens, Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich,
Werner Dreibus, Klaus Ernst, Katja Kipping, Cornelia Möhring, Yvonne Ploetz,
Dr. Ilja Seifert, Kathrin Senger-Schäfer, Kathrin Vogler, Harald Weinberg,
Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Psychische Belastungen in der Arbeitswelt reduzieren

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Psychische Belastungen nehmen in der Arbeitswelt durch steigenden Leis-
tungsdruck und schlechte Arbeitsbedingungen drastisch zu. Immer mehr Arbeit
muss in der gleichen Zeit erledigt werden. Arbeit am Abend oder am Wochen-
ende, Überstunden und ständige Erreichbarkeit werden zur Normalität. All das
führt zu Stress bei der Arbeit, lässt viele Menschen erschöpfen und krank wer-
den. Burnout ist die neue Volkskrankheit. Es besteht großer Handlungsbedarf.
Konkrete politische Maßnahmen sind notwendig, um die Beschäftigten und
ihre Gesundheit zu schützen.

Es bedarf neuer Antistressregelungen im Arbeitsschutz. Zur Vermeidung von
Gesundheitsgefahren muss sich auch die Gestaltung der Arbeitszeit mehr an
den Bedürfnissen der Beschäftigten orientieren, statt an denen der Unterneh-
men.

Entscheidend ist zudem, dass die Beschäftigten ihre Arbeitsbedingungen stär-
ker mitgestalten können. Stress entsteht hauptsächlich dann, wenn ein hoher
Verantwortungsumfang mit nur einem geringen Handlungsspielraum bei der
Gestaltung des Arbeitsprozesses einhergeht. Es ist daher wichtig, die Mitbe-
stimmungsmöglichkeiten für die Beschäftigten und ihre Interessenvertretungen
deutlich auszubauen, sowohl im Bereich der Arbeitsorganisation als auch bei
wirtschaftlichen Fragen.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat im März 2012 Ergebnisse einer Umfrage
unter Beschäftigten präsentiert, die alarmierend sind. Die Hälfte der Befragten
fühlt sich bei der Arbeit gehetzt. Zwei von drei Beschäftigten geben an, seit
Jahren immer mehr in der gleichen Zeit leisten zu müssen. Diese Zahlen bele-
gen, dass der Leistungsdruck zunimmt und die Arbeit immer mehr verdichtet
wird. Darüber hinaus leisten zwei Drittel der Beschäftigten Überstunden – jede

und jeder Fünfte sogar mehr als zehn Überstunden pro Woche. Es ist eine Ent-
grenzung von Arbeit zu beobachten. Viele Beschäftigte arbeiten häufig in der
Freizeit (15 Prozent), noch mehr müssen oft in der Freizeit erreichbar sein
(27 Prozent). Die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage für psychische und Verhal-
tensstörungen stieg laut Bundesregierung von 33,6 Millionen im Jahr 2001 auf
53,5 Millionen im Jahr 2010.

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Immer mehr Unternehmen verlagern ihr unternehmerisches Risiko auf die Be-
schäftigten. Sie führen gezielt Marktmechanismen in die innerbetriebliche
Organisation ein; einzelne Abteilungen oder Standorte eines Unternehmens tre-
ten in Konkurrenz um die besten Monatsergebnisse. Das Problem betrifft so-
wohl reguläre und tariflich entlohnte als auch unregulierte Arbeitsverhältnisse.
Das Ergebnis ist eine marktzentrierte Produktionsweise, ein Prozess der Ver-
marktlichung. Hierbei spielt der permanente Vergleich über Kennziffern und
Benchmarks eine wichtige Rolle. Viele Unternehmen setzen auf einen Mecha-
nismus der indirekten Steuerung (beispielsweise über Zielvereinbarungen). Die
Frage nach der Wettbewerbsfähigkeit des Betriebes wird zur Frage jedes einzel-
nen Beschäftigten oder einer Gruppe von Beschäftigten und setzt sie unter
Druck.

Aber nicht nur im gewerblichen Bereich, auch bei den sozialen Dienstleistun-
gen oder im öffentlichen Dienst steigen die Anforderungen und der Stress. So
werden beispielsweise in Pflegeeinrichtungen oder in Krankenhäusern alle
Organisations- und Leistungsprozesse, Patientenmerkmale und die täglichen
Versorgungsentscheidungen einer ständigen betriebswirtschaftlichen Prüfung
unterzogen. Doch personenbezogene Dienstleistungen lassen sich als Subjekt-
Subjekt-Beziehungen nicht unbegrenzt automatisieren und rationalisieren. Die
Beschäftigten stehen in einem dauerhaften Spannungsverhältnis zwischen den
ökonomischen Interessen nach niedrigen Kosten und der Anforderung, den
Pflegebedürftigen oder Patienten eine bedarfsgerechte Versorgung zukommen
zu lassen. Durch die Arbeitsverdichtung und die Verknappung der Versor-
gungszeiten sinkt die Pflegequalität. Der innere Konflikt von Berufsethos und
wachsendem Zeitdruck führt zu scheinbar unauflösbaren Konflikten bei den
Beschäftigten, also psychischem Stress.

Weitere gravierende Quellen für psychische Belastungen in der Arbeitswelt
sind die zunehmende materielle Unsicherheit durch Unterbezahlung und un-
sichere Arbeitsverhältnisse. Befristete Verträge oder Leiharbeit verhindern
Sicherheit und Planbarkeit für die Zukunft und stehen bei jungen Beschäftigten
oft einer Familiengründung entgegen. Hinzu kommt, dass der Einsatz von
Leiharbeit oder Werkvertragsarbeit disziplinierend auf die Belegschaften wirkt.
Sie haben beständig vor Augen, wie leicht sie zu ersetzen sind. Das erhöht den
Druck und die Anspannung. Auch monotone Arbeiten, die immer noch für
viele Beschäftigte der Alltag sind, können die Psyche belasten. Nicht zuletzt
kann es krank machen, wenn der Lohn nicht reicht, um die Existenz zu sichern.
Die Zahl der Beschäftigten mit Zweitjobs steigt in Deutschland seit einigen
Jahren an. Arbeit wird entwertet. „Hauptsache Arbeit“, dieses Motto ist die
Leitlinie für die jetzige und die vergangene Regierungspolitik. Darunter leiden
die Qualität von Arbeit und die Lebensqualität der Beschäftigten.

Es ist dringend geboten, die verschiedenen Formen prekärer Beschäftigung
strikt zu begrenzen. Notwendig sind die Einführung eines flächendeckenden
gesetzlichen Mindestlohns, das Verbot von Leiharbeit, die Regulierung von
Werkvertragsarbeit, die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung sowie die
volle Sozialversicherungspflicht für jede Stunde Arbeit. Das Ziel sind sichere
Arbeitsplätze und eine bessere Entlohnung.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
folgende Maßnahmen zu ergreifen:

1. Regelungen zum Schutz vor psychischen Belastungen im Arbeits- und Ge-
sundheitsschutz zu verankern und die Schutzrechte zu stärken:

• Eine Anti-Stress-Verordnung ist zu erlassen, die es den betrieblichen Ak-
teurinnen und Akteuren ermöglicht, im Dialog mit den Beschäftigten die

Ursachen für psychische Belastungen zu benennen und gezielte Gegen-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/11042

maßnahmen zu ergreifen. Als mögliche Gefährdungsfaktoren muss die
Anti-Stress-Verordnung mindestens die Gestaltung der Arbeitsaufgabe,
die Arbeitsorganisation, die sozialen Bedingungen, die Bedingungen des
Arbeitsplatzes und der Arbeitsumgebung sowie die Arbeitszeit berück-
sichtigen. Für all diese Bereiche sind geeignete Beurteilungskriterien als
Vorgaben für Gefährdungsbeurteilungen zu entwickeln.

• Ein individuelles Vetorecht für die Beschäftigten ist zu verankern, das
dann greift, wenn die Arbeitsanforderungen zu gravierenden negativen
Belastungen für die Psyche führen. Bereits bestehende Beschwerde- und
Einspruchsmöglichkeiten (Arbeitsschutzgesetz, Betriebsverfassungsge-
setz, Überlastungsanzeigen) müssen entsprechend ausgebaut und stärker
bekannt gemacht werden. Die Aufgabe, individuelle Belastungsschwer-
punkte zu identifizieren und konkrete Gegenmaßnahmen daraus abzulei-
ten, erhält eine verpflichtend einzurichtende Kommission zur Umsetzung
des Arbeitsschutzgesetzes, die paritätisch mit Vertreterinnen und Vertre-
tern der Beschäftigten und der Arbeitgeber besetzt ist und verbindliche
Entscheidungen fällen kann. Bei Nichteinigung entscheidet die Eini-
gungsstelle.

• Zur Beseitigung des Personalmangels in Krankenhäusern genauso wie in
Pflegeheimen, der ambulanten Versorgung und der häuslichen Pflege
sind eine verbindliche, bundesweit einheitliche Personalbemessung so-
wie Regelungen zur Mindestpersonalbemessung einzuführen.

• Eine Meldepflicht über die Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen
ist zu regeln.

• Die Mindestanforderungen an die Gefährdungsbeurteilungen sind gesetz-
lich festzuschreiben, die sowohl deren Qualität sichern als auch sicher-
stellen, dass psychische Gefährdungen Bestandteil jeder Gefährdungsbe-
urteilung sind. Fehlende und mangelhafte Gefährdungsbeurteilungen
müssen als Ordnungswidrigkeit geahndet werden.

• In den Bundesländern muss darauf hingewirkt werden, das Personal der
Gewerbeaufsichtsämter aufzustocken, um ausreichend Kontrollen und
damit die Einhaltung der Vorgaben aus dem Arbeitsschutzgesetz sowie
dem Arbeitszeitgesetz zu gewährleisten.

• Verstöße gegen die Vorgaben des Arbeitsschutzgesetzes und des Arbeits-
zeitgesetzes sind stärker zu ahnden, indem die Sanktionen verschärft wer-
den.

2. Arbeitszeit an den Bedürfnissen der Beschäftigten auszurichten:

• Die erlaubte Höchstarbeitszeit im Arbeitszeitgesetz ist auf 40 Stunden
pro Woche zu verringern und die Abweichungsmöglichkeiten von der
vorgegebenen Höchstarbeitszeit sind zu reduzieren.

• Im Arbeitszeitgesetz muss konkretisiert werden, wann die Freizeit be-
ginnt, und Regelungen müssen aufgenommen werden, dass Beschäftigte
in der Freizeit weder erreichbar sein noch auf Abruf bereitstehen müssen.
Eine durchgehende Erreichbarkeit in der Ruhezeit muss verboten werden.

• Überstunden und rein unternehmensbestimmte Flexibilisierungsmöglich-
keiten sind gesetzlich zu begrenzen. Wenn es flexible Arbeitszeiten gibt,
müssen sie für die Beschäftigten möglichst kalkulier- und planbar sein.
Abend-, Wochenend- und Schichtarbeit muss auf ein unvermeidbares
Maß reduziert werden. Sollte sie nicht vermieden werden können, ist sie
mit vermehrter Freizeit auszugleichen.
• Verbindliche Ansprüche auf arbeitnehmerbestimmte flexible Arbeitszei-
ten sind im Arbeitszeitgesetz zu verankern, sofern dem nicht dringende

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betriebliche Gründe entgegenstehen. Dies kann beispielsweise der An-
spruch auf die Festlegung von Kernarbeitszeit und begrenztem Gleitzeit-
rahmen sein.

• Im Arbeitszeitgesetz sind Vorgaben zur Gestaltung von Schichtsystemen
(sofern diese nicht zu vermeiden sind) zu verankern, die sich an den ein-
schlägigen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu den Auswirkungen auf
die Gesundheit orientieren: maximal drei Nachtschichten nacheinander,
möglichst lange Ruhepausen nach den Nachtschichten, möglichst ge-
blockte Freizeit statt einzelner freier Tage, vorwärtsrotierte Schichtsys-
teme (Früh-, Spät-, Nachtschicht), Verbot von Dauernachtschicht.

3. Mitbestimmung und kollektive Rechte auszubauen:

• Bei Fragen der Gestaltung der Arbeitsaufgabe, der Arbeitsorganisation
und des Arbeitsumfeldes sind im Betriebsverfassungsgesetz und im Per-
sonalvertretungsgesetz erzwingbare Mitbestimmungsrechte einzuführen.
Dies gilt auch für Fragen der personellen Ausstattung des jeweiligen Ar-
beitsbereichs sowie für die Frage, ob Bildungsmaßnahmen durchgeführt
werden.

• Im Betriebsverfassungsgesetz sind erzwingbare Mitbestimmungsrechte
für Betriebsräte bei wirtschaftlichen Fragen und bei Fragen der strategi-
schen Ausrichtung zu verankern, um steigende Eigenverantwortlichkei-
ten im Arbeitsprozess mit mehr Einflussmöglichkeiten auf die Geschäfts-
politik und die Steuerungsmechanismen im Betrieb (Produktions- und In-
vestitionsprogramm, Rationalisierungsvorhaben, Einführung neuer Ar-
beitsmethoden etc.) zu verbinden. Die Diskrepanz zwischen steigenden
Anforderungen auf der einen Seite und zu geringen Gestaltungsmöglich-
keiten auf der anderen Seite muss verringert werden. Die Beschäftigten
müssen Einfluss auf die Steuerungsmechanismen haben, mit denen der
Leistungsdruck erhöht wird und die eine Quelle für psychische Gefähr-
dungen sind.

• Psychische Belastungen und Stress durch Leistungsdruck sind zu verhin-
dern. Daher wird ein Vetorecht für Betriebs- und Personalräte gegen den
Einsatz von Leiharbeit oder Werkverträgen im Betriebsverfassungsgesetz
und im Personalvertretungsgesetz eingeführt, das dann greift, wenn
Stammarbeitsplätze ersetzt werden.

Berlin, den 17. Oktober 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Zu den Forderungen im Einzelnen

1. Psychische Belastungen im Arbeits- und Gesundheitsschutz verankern und
Schutzrechte stärken:

Im Bereich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes spielen psychische Belastun-
gen derzeit eine viel zu geringe Rolle. Das Arbeitsschutzgesetz fordert zwar
einen präventiven Ansatz in Form von Gefährdungsbeurteilungen und Wirk-
samkeitskontrollen. Im Gegensatz zu anderen Gefährdungsbereichen gibt es
allerdings keine eigene Verordnung für den Bereich psychische Belastungen.

Daher identifiziert insbesondere die IG Metall hier eine Regelungslücke und
hat die Notwendigkeit einer Antistressverordnung in die Debatte gebracht.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/11042

Die Beschäftigten müssen vor Überlastung geschützt werden. Daher ist es not-
wendig, ein individuelles Vetorecht einzuführen. Wenn ein solches Vetorecht
genutzt wird, muss entweder gleich durch den Arbeitgeber Abhilfe geschaffen
werden oder eine verbindlich einzurichtende Kommission entscheidet darüber,
wie die Situation zu bewerten ist und welche Maßnahmen ergriffen werden sol-
len, um die Belastungen zu reduzieren. In der Metall- und Elektroindustrie gibt
es hierzu bereits erprobte Wege: In zahlreichen Betrieben sind paritätisch be-
setzte Kommissionen aus Betriebsrat und Arbeitgebern zur Umsetzung des Ar-
beitsschutzgesetzes eingerichtet, die ermittelte Gefährdungen beurteilen und
Abhilfemaßnahmen beschließen. Im Bereich der Gesundheitsdienste wiederum
gibt es die Überlastungsanzeige. Diese Instrumente sind auszubauen.

Für den Bereich der Pflege ist es darüber hinaus notwendig, verbindliche, bun-
desweit einheitliche Personalbemessung sowie Regelungen zur Mindestperso-
nalbemessung einzuführen. Eine entscheidende Quelle für psychische Gefähr-
dungen für die Beschäftigten ist häufig Personalmangel, durch den zudem die
Pflegequalität abnimmt.

Es sind Schritte notwendig, mit denen dem Vollzugsdefizit im Bereich der Ge-
fährdungsbeurteilung entgegengewirkt wird. Bisher werden Gefährdungs-
beurteilungen laut einer 2008/2009 durchgeführten Betriebsrätebefragung des
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-
Stiftung nur in 56 Prozent der mitbestimmten Betriebe durchgeführt. Gefähr-
dungsbeurteilungen unter Berücksichtigung psychischer Belastungen bestätig-
ten sogar nur 20 Prozent der befragten Betriebsräte. Genauere statistische Da-
ten liegen nicht vor, da es weder eine entsprechende Meldepflicht zur Durch-
führung von Gefährdungsbeurteilungen gibt, noch die Kontrollen der Auf-
sichtsbehörden der Länder und der Unfallversicherungsträger flächendeckend
oder regelmäßig in bestimmten Zeitabständen stattfinden.

Während die gesetzlichen Aufgaben der Gewerbeaufsicht der Länder in den
letzten Jahren immer mehr erweitert wurden, ist das zuständige Personal in den
Jahren 2005 bis 2010 nach Angaben der Bundesregierung um 17 Prozent ge-
kürzt worden. In der Konsequenz ging die Anzahl der überprüften Betriebe um
ein Viertel zurück. 2010 wurden weniger als 5 Prozent aller Betriebe von der
Gewerbeaufsicht kontrolliert, wobei in nur 0,6 Prozent der geprüften Betriebe
psychische Belastungen Gegenstand der Kontrolle waren. Regelmäßigere Kon-
trollen seitens der Gewerbeaufsicht sind dringend notwendig, um psychische
Belastungen für die Beschäftigten wirksam zu reduzieren.

2. Arbeitszeit an den Bedürfnissen der Beschäftigten ausrichten:

Arbeitszeitgestaltung ist zentral für die Entstehung und das Ausmaß von psy-
chischen Belastungen. Beginn und Ende des Arbeitstages, Vereinbarkeit der
Arbeitszeiten mit den Kita-Öffnungszeiten oder mit der Pflege von Angehörigen,
Erreichbarkeitsanforderungen, Überstunden, Regelmäßigkeit der Arbeitszeiten,
Planbarkeit der Arbeitszeiten, Spielräume bei familiären Verpflichtungen – all
das spielt eine Rolle bei der Frage, wie sehr Arbeit als psychisch belastend er-
lebt wird.

Flexible Arbeitszeiten wurden mit dem Versprechen eingeführt, es den Be-
schäftigten zu ermöglichen, ihre Arbeitszeit besser mit ihren privaten und sozi-
alen Wünschen in Einklang zu bringen. Dieses Versprechen wurde bisher nicht
eingelöst. Meist richten sich flexible Arbeitszeiten nach den Anforderungen der
Unternehmen, kaum nach den Bedürfnissen der Beschäftigten. Nun gilt es, das
alte Versprechen der flexiblen Arbeitszeiten einzulösen: Beschäftigte müssen
die Möglichkeit haben, ihre Arbeit mit ihren privaten Verpflichtungen und Be-
dürfnissen in Einklang zu bringen.
Dazu gehört, die Zugriffsrechte der Betriebe auf die Beschäftigten ebenso wie
Überstunden zu begrenzen. Eine allzeitige Erreichbarkeit macht krank, weil die

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Zeit für Ruhe und Erholung fehlt. Auch Schichtarbeit, unternehmensbestimmte
Flexibilisierung von Arbeitszeit und lange Arbeitszeiten schaden der Gesund-
heit (Schlafstörungen, Rückenschmerzen, Herzbeschwerden) und sind daher zu
vermeiden. Kürzere und regelmäßige Arbeitszeiten fördern dagegen die Ge-
sundheit. Auch Pausen sind geeignet, um Belastungen entgegenzuwirken. Kür-
zere Arbeitszeiten schonen die Gesundheit und die Arbeit wird gerechter ver-
teilt. Kürzere Arbeitszeiten können auch als Ausgleich von Arbeitsverdichtung
und hoher Arbeitsintensität dienen.

3. Mitbestimmung und kollektive Rechte ausbauen:

Psychische Belastungen resultieren häufig aus der unzureichenden Gestaltung
der unmittelbaren Arbeitsaufgabe, der konkreten Arbeitsorganisation und des
Arbeitsumfeldes. Die Gefährdungsfaktoren sind im Einzelnen sehr unterschied-
lich, weswegen die Belastungen nur durch eine Beteiligung der Beschäftigten
reduziert werden können. Sie kennen die Arbeitsabläufe und die Anforderun-
gen in ihrem Arbeitsbereich am besten. Sie wissen um die Defizite des Arbeits-
prozesses und ihre individuellen Grenzen. Um zu verhindern, dass Arbeit krank
macht, gilt es, die Ideen, das Wissen und die Kreativität der Beschäftigten zu
nutzen. Dieses Potential darf nicht den Hierarchien im Betrieb geopfert werden.
Mehr Gestaltungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten steigern die Qualität
von Arbeit. Damit ist aber nicht gemeint, dass Abteilungen ihre eigenen Um-
satzziele entwickeln und sich selbst unter Druck setzen, sondern es geht um den
Schutz vor genau solchen Mechanismen.

Viele Arbeitsplätze sind durch schlechte Arbeitsbedingungen geprägt: mono-
tone Abläufe, belastende Arbeitsplatzgestaltung (Platz, Akustik, Belüftung,
Licht), schlechte Organisation der Arbeitsabläufe, Arbeitsverdichtung etc.

Notwendig sind daher kollektive Mitbestimmungsrechte der Beschäftigten ge-
meinsam mit ihrer Interessenvertretung bei der Gestaltung der Arbeitsaufgabe,
der Arbeitsorganisation und des Arbeitsumfeldes. Hierzu zählt auch die Frage
der personellen Ausstattung, denn eine zu dünne Personaldecke trägt maßgeb-
lich zu Arbeitsverdichtung und Überforderung bei. Wichtig ist auch die Quali-
fizierung der Beschäftigten. Je breiter die Einzelnen qualifiziert sind, umso
eher lassen sich Arbeitsaufgaben bewältigen, auf mehr Schultern verteilen und
krankheitsbedingte Ausfälle ausgleichen.

Darüber hinaus ist aber auch eine Mitbestimmung in wirtschaftlichen Fragen
erforderlich. Mehr Selbständigkeit im Arbeitsprozess und Mechanismen der in-
direkten Steuerung führen auf der einen Seite zu Autonomiegewinnen für die
Beschäftigten. Auf der anderen Seite ist der Arbeitsalltag aber durch steigende
Anforderungen, mehr Eigenverantwortung und mehr Druck bestimmt, ohne
dass es ausreichende Gestaltungsmöglichkeiten hinsichtlich der Rahmenbedin-
gungen und der Vorgaben gibt. Dieser Widerspruch ist eine wesentliche Quelle
für psychische Belastungen und Stress. Das unternehmerische Risiko wird auf
die Beschäftigten verlagert, ohne dass sie Einfluss auf die Geschäftspolitik ha-
ben. Mehr Selbstständigkeit im Arbeitsprozess führt nicht automatisch zu bes-
seren Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten und zur Stärkung ihrer Position
im Betrieb. Die neue Qualität der Flexibilität und Selbstorganisation zeigt sich
häufig als Tendenz zur „interessierten Selbstgefährdung“. Immer mehr Be-
schäftigte arbeiten über den Feierabend hinaus, bleiben nicht zu Hause, wenn
sie krank sind, und fühlen sich auch in der Freizeit verantwortlich.

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