BT-Drucksache 17/10998

Altersarmut wirksam bekämpfen - Solidarische Mindestrente einführen

Vom 16. Oktober 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10998
17. Wahlperiode 16. 10. 2012

Antrag
der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
Heidrun Dittrich, Klaus Ernst, Katja Kipping, Jutta Krellmann, Cornelia Möhring,
Yvonne Ploetz, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Senger-Schäfer, Kathrin Vogler,
Harald Weinberg, Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion
DIE LINKE.

Altersarmut wirksam bekämpfen – Solidarische Mindestrente einführen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Altersarmut ist bereits heute ein Problem. Seit dem Jahr 2000 sind die durch-
schnittlichen Versichertenrenten um knapp 5 Prozent gesunken. Die Renten für
Frauen steigen zwar, verbleiben aber – insbesondere in Westdeutschland – wei-
terhin deutlich unterhalb des durchschnittlichen Grundsicherungsbedarfs von
688 Euro. Gleichzeitig sind immer mehr Menschen im Rentenalter auf die
Grundsicherung im Alter angewiesen. Ebenso beständig gehen immer mehr
Menschen im Rentenalter einem Minijob nach. Die Ursachen liegen in einer
Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, die zu unsicheren, schlecht bezahlten
und somit für den Erwerb einer guten Rente nicht mehr ausreichenden Beschäf-
tigungsverhältnissen geführt hat. Da die Rente ein Spiegel des Erwerbsleben
ist, führt Armut im Erwerbsleben zu Armut im Rentenalter. Arbeitsmarkt- und
Rentenpolitik müssen deshalb zusammengedacht und zusammengebracht wer-
den. Dieser Verarmungsprozess wird durch eine Rentenpolitik verstärkt, die das
Rentenniveau beständig sinken lässt und Rentenkürzungen durch die Rente erst
ab 67 Jahren vorprogrammiert. Altersarmut wächst somit aus dem Kreis der
Niedriglohnbeschäftigten und Langzeiterwerbslosen hinaus bis weit in die
Mitte der Gesellschaft hinein. Altersarmut wird absehbar zu einem Massenphä-
nomen.

Selbst wenn sofort ein gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von 10 Euro einge-
führt und Minijobs sowie andere Formen prekärer Beschäftigung eingedämmt
oder abgeschafft würden, wenn die gesetzliche Rentenversicherung sofort wie-
der auf das Ziel der Lebensstandardsicherung ausgerichtet würde, wenn dazu
das Rentenniveau mindestens 53 Prozent des vorherigen Nettolohnes vor Steu-
ern betrüge, die Rente erst ab 67 Jahren abgeschafft wäre und die ungerechten
Abschläge bei der Erwerbsminderungsrente gestrichen wären und der Solidar-
ausgleich für Kindererziehungszeiten verbessert, für Langzeiterwerbslose wie-
der eingeführt und für Niedriglohnbeziehende entfristet wäre, selbst dann er-
hielten nicht alle eine Rente, die ein Leben frei von Altersarmut ermöglichte.

Teilhabe darf aber auch im Alter nicht enden. Damit niemand im Alter unter der
Armutsrisikogrenze leben muss, muss eine Solidarische Mindestrente einge-
führt werden.

Drucksache 17/10998 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem

1. eine einkommens- und vermögensgeprüfte Solidarische Mindestrente einge-
führt wird,

a) auf die die in Deutschland lebenden Menschen auf individueller Basis
und unter Berücksichtigung gesetzlicher Unterhaltsansprüche, unabhän-
gig von vorheriger Beitragsleistung, einen Rechtsanspruch haben,

b) mit der ein Nettoeinkommen im Alter (ohne Wohngeld) von sofort 900
Euro durch Zuschläge garantiert wird. Dieses Einkommen wird schritt-
weise auf 1 050 Euro angehoben,

c) bei der ein Vermögen von bis zu 20 000 Euro und zusätzlich ein Betrag in
Höhe von 48 750 Euro für die Altersvorsorge nicht angerechnet werden,

d) bei der eine selbstgenutzte Immobilie unabhängig von der Haushalts-
größe mit einer Wohnfläche von bis zu 130 Quadratmetern nicht als Ver-
mögen berücksichtigt wird,

e) die parallel zur jährlichen Anpassung des aktuellen Rentenwerts dynami-
siert wird und

f) bei der der Zuschlag aus Steuermitteln finanziert und durch die Renten-
versicherung ausgezahlt wird;

2. parallel zur Einführung der Solidarischen Mindestrente das Wohngeldgesetz
reformiert und so modifiziert wird, dass Menschen, die in teureren Wohnge-
bieten leben und auf die Solidarische Mindestrente angewiesen sind, keines-
falls in Armut leben müssen.

Berlin, den 16. Oktober 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Wie auch am Arbeitsmarkt, so bedarf es in der Rente eines Mindeststandards.
Genauso wenig, wie die Forderung nach einem flächendeckenden gesetzlichen
Mindestlohn gleichzusetzen ist mit der Forderung nach einer Gesellschaft von
Mindestlohnbezieherinnen und Mindestlohnbeziehern, bedeutet die Forderung
nach einer Solidarischen Mindestrente, dass eine Gesellschaft von Mindestren-
tenbezieherinnen und Mindestrentenbeziehern angestrebt wird. Mindestlohn
und Mindestrente sollen die unterste Grenze und mithin die Ausnahme sein.

Wer bereits heute auf lange Phasen mit schlechten Löhnen, Arbeitslosigkeit
oder Krankheit zurückblicken muss, erreicht auch mit einem guten Renten-
niveau keine Rente, die im Alter ein Leben frei von Armut ermöglicht. Deshalb
ist eine Solidarische Mindestrente in Höhe von 900 Euro netto, die schrittweise
auf 1 050 Euro erhöht werden muss, notwendig.

Auf die Solidarische Mindestrente haben alle in Deutschland lebenden Men-
schen auf individueller Basis und unter Berücksichtigung gesetzlicher Unter-
haltsansprüche unabhängig von vorheriger Beitragsleistung einen Rechts-
anspruch. Unterhaltsansprüche, die aufgrund bestimmter Situationen (z. B. Ge-
waltandrohungen) nicht erfüllt werden, gehen auf Antrag bis zur tatsächlichen
Zahlung an Unterhaltsberechtigte auf den Rentenversicherungsträger über und
werden währenddessen nicht als Einkommen angerechnet.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10998

Die Solidarische Mindestrente wird als Zuschlag oder im Einzelfall auch als
Vollbetrag von der Rentenversicherung ausgezahlt. Sie ist steuerfinanziert und
einkommens- und vermögensgeprüft.

60 bis 68 Prozent aller, die aufgrund ihres zu geringen Einkommens eigentlich
einen Anspruch auf die so genannte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbs-
minderung hätten, stellen gar keinen Antrag. Das heißt, dass die Grundsiche-
rung im Alter ihr Ziel, die verschämte Altersarmut weitgehend einzudämmen,
nicht erreicht hat. Nach wie vor scheuen also bis zu zwei Drittel aller Berech-
tigten davor zurück, die „Stütze“ zu beantragen. Grundsicherung ist offenbar
für Viele gleichbedeutend mit einem Stigma. Da die Solidarische Mindestrente
über die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung ausgezahlt wird, entfällt
die Trennung von Rente und Grundsicherung als Quelle von Selbst- und
Fremdstigmatisierung. Auch die gegenüber der bestehenden Bedürftigkeitsprü-
fung deutlich gelockerten Regelungen für die Anrechnung von Einkommen
und Vermögen tragen dazu bei, dieses Stigma weitgehend abzubauen.

Mit einer maximalen Höhe von aktuell 900 Euro netto läge die Solidarische
Mindestrente deutlich oberhalb des durchschnittlich anerkannten Bruttobedarfs
der Grundsicherung im Alter in Höhe von 688 Euro, aber unterhalb der
Armutsrisikoschwelle von derzeit 940 Euro. Werden die von Region zu Region
stark unterschiedlichen Mietkosten in den Blick genommen, wird deutlich, dass
die als Pauschale gedachte Solidarische Mindestrente für die einen bereits zum
Leben reichte, während für andere der erhöhte Wohnbedarf zusätzlich erbracht
werden müsste. Dieser zusätzliche Wohnbedarf soll bedarfsbezogen durch ein
modifiziertes Wohngeld ausgeglichen werden können.

In einem Zwei-Personen-Haushalt ohne ausreichendes Einkommen und Vermö-
gen oder ausreichende Unterhaltsansprüche erhielte jede Person 900 Euro, der
Haushalt insgesamt also 1 800 Euro netto. Damit erhielte ein solcher Zwei-Per-
sonen-Haushalt mit der Solidarischen Mindestrente in jedem Fall mehr, als dies
bei der unter Zugrundelegung der Armutsrisikoschwelle berechneten Summe
von insgesamt 1 410 Euro (erste Person 100 Prozent, zweite Person 50 Prozent
von 940 Euro) oder analog zur derzeit geltenden Methode im Zweiten Buch
Sozialgesetzbuch (bei zwei Erwachsenen jeweils 90 Prozent, bei 940 Euro für
Alleinstehende gleich 1 692 Euro für zwei Personen) der Fall ist. Damit die
Solidarische Mindestrente tatsächlich ein Leben frei von Altersarmut ermög-
licht, muss sie angesichts einer stetig steigenden Armutsrisikoschwelle absehbar
auf 1 050 Euro netto angehoben werden.

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