BT-Drucksache 17/10947

Hetero- und homosexuelle Betroffene von Zwangsverheiratungen

Vom 9. Oktober 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10947
17. Wahlperiode 09. 10. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Memet Kilic, Volker Beck (Köln), Josef Philip Winkler,
Britta Haßelmann, Ingrid Hönlinger, Monika Lazar und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Hetero- und homosexuelle Betroffene von Zwangsverheiratungen

Von Zwangsverheiratungen sind in Deutschland zum ganz überwiegenden Teil
heterosexuelle Frauen betroffen. Aber immer wieder werden hierzulande auch
lesbische Frauen, Männer, transsexuelle Personen und Paare dazu gezwungen,
entgegen ihren individuellen Wünschen zu heiraten. Schwule Männer und lesbi-
sche Frauen werden häufig von ihren Familien in eine Ehe gezwungen, um ihre
sexuelle Identität zu verbergen und zu unterdrücken.

Viele dieser Menschen sind an Leib und Leben bedroht bzw. sozial existenziell
gefährdet.

Auf die fehlende Infrastruktur für den Schutz der von Zwangsverheiratungen be-
drohten hetero- sowie homosexuellen Männer hat die „Evaluation der Hambur-
ger interkulturellen Beratungsstellen für Opfer von häuslicher Gewalt und
Zwangsheirat“ im Jahr 2011 hingewiesen. Es fehlen außerdem die personellen
und finanziellen Ressourcen für eine zielgruppenspezifische Sensibilisierung-
und Öffentlichkeitsarbeit (S. 23). Über eine ähnliche Problemlage in Berlin hat
jüngst der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) berichtet
(Berliner Zeitung, 18. April 2012).

Dieses Problem war im Jahr 2009 schon einmal Gegenstand der Kleinen
Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Bundestagsdrucksache
16/12573. Damals zeigte sich,

1. dass keine validen statistischen Daten darüber existieren, in welchem Aus-
maß diese oben genannten Betroffenengruppen von Zwangsverheiratungen
betroffen sind und

2. dass es für diese jungen Menschen

a) weder spezialisierte Präventions- oder Beratungsangebote gab, noch

b) auf ihre Bedrohungssituation zugeschnittene Sensibilisierungs- und Auf-
klärungskampagnen angeboten wurden und

c) es „keine speziellen Schutzeinrichtungen“ gab,
(Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – BMFSFJ
„Zwangsverheiratung bekämpfen – Betroffene wirksam schützen“ (2009),
S. 41).

In ihrer Antwort auf die oben genannte Kleine Anfrage musste die Bundesregie-
rung eingestehen, dass die Strafverfolgungsstatistik keine Angaben über Straf-
verfahren bezogen auf Zwangsverheiratungen von heterosexuellen Männern

Drucksache 17/10947 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

bzw. von Lesben und Schwulen enthält. Sie wusste zudem nicht, in welchen
Bundesländern bzw. seitens welcher Nichtregierungsorganisationen (NROs)
Sensibilisierungs- und Aufklärungskampagnen durchgeführt werden. Sie hatte
auch keine Informationen über entsprechende Aus-, Fort- und Weiterbildungen
bei Beratungsstellen.

Die Bundesregierung versuchte, diese Erkenntnislücken mit Hinweisen darauf
zu kompensieren, dass

• im Nationalen Integrationsplan (aus dem Jahr 2007) das Phänomen ja immer-
hin erörtert würde, dass Eltern mitunter versuchen würden, mit einer
Zwangsverheiratung bei ihren Kindern eine heterosexuelle Lebensweise
durchzusetzen;

• für Herbst 2010 eine wissenschaftliche Untersuchung erwartet würde, die
Auskunft über Umfang und Ausmaß von Zwangsverheiratung in Deutsch-
land mit „belastbaren quantitativen Daten über die Situation von Betroffenen
beiderlei Geschlechts“ bzw. bezogen auf die „besonderen Probleme homose-
xueller Frauen und Männer“ geben würde;

• eine Evaluation des im Mai 2010 ausgelaufenen Modellprojekts „Online-Be-
ratung für junge Migrantinnen bei Zwangsverheiratung“ durchgeführt wer-
den solle.

Heute – drei Jahre später – ist festzustellen:

• Das Thema Zwangsverheiratungen hat die Bundesregierung aus ihrem Natio-
nalen Aktionsplan Integration inzwischen ausgeklammert.

• In der vom BMFSFJ im Jahr 2011 herausgegebenen Untersuchung „Zwangs-
verheiratung in Deutschland – Anzahl und Analyse von Beratungsfällen“
wird die Bedrohungssituation für Homosexuelle nur kurz erwähnt. Dabei be-
richten Lesben- und Schwulenberatungsstellen, dass über ein Drittel der im
Jahr 2008 bei ihnen erfolgten Beratungsfälle das Problem drohender Zwangs-
verheiratungen zum Inhalt hatten (Zwangsverheiratung in Deutschland – An-
zahl und Analyse von Beratungsfällen, Kurzfassung, S. 19).

• Gleiches gilt für den Projektabschlussbericht der „Interkulturellen Onlinebe-
ratung bei Zwangsverheiratung und familiärer Gewalt“, den das BMFSFJ im
Jahr 2010 veröffentlicht hat: Im Hinblick auf die Gefährdung von Homo-
sexuellen durch Zwangsverheiratungen wird lediglich auf die Notlage bzw.
auf fehlende Hilfsangebote für Paare hingewiesen, die versuchen, sich ge-
meinsam einer drohenden Zwangsverheiratung zu entziehen (S. 27).

Auf eine ganz spezifische Bedrohungssituation macht derzeit ein Vorgang auf-
merksam, der dem Petitionsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses vor-
liegt. Darin wird für den ausreisepflichtigen indonesischen Staatsangehörigen
H. H. um die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen ge-
beten. Ihm drohe bei einer Rückkehr nach Indonesien aufgrund seiner Homose-
xualität die Zwangsverheiratung. So hatte das BMFSFJ in seiner Publikation
„Zwangsverheiratung bekämpfen – Betroffene wirksam schützen“ aus dem Jahr
2009 darauf hingewiesen, dass von Zwangsheirat betroffene Personen gegebe-
nenfalls eine Verfolgungshandlung gemäß § 60 Absatz 1 Satz 3 des Aufenthalts-
gesetzes (AufenthG) geltend machen und hierüber den Flüchtlingsstatus gemäß
§ 25 Absatz 2 AufenthG erhalten könnten (ebd., S. 33). Die Berliner Härtefall-
kommission hatte ein Bleiberecht befürwortet. Trotzdem hat der Berliner Innen-
senator Frank Henkel dies abgelehnt. Deswegen wurde im Frühjahr 2012 eine
Petition in dieser Sache eingereicht, deren Verfahren noch nicht abgeschlossen
ist.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10947

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche wissenschaftlich belastbaren Erkenntnisse hat die Bundesregierung
über das Ausmaß und die spezifische Bedrohungslage

a) von heterosexuellen Männern,

b) von homosexuellen Männern und

c) von homosexuellen Frauen,

die in Deutschland bzw. im Ausland von „arrangierten“ Ehen bzw. von
Zwangsverheiratungen betroffen sind?

2. Erfasst die Strafverfolgungsstatistik wie viele Strafverfahren in Deutschland
wegen der Zwangsverheiratung von heterosexuellen Männern bzw. von ho-
mosexuellen Männern und Frauen eröffnet wurden?

Wenn ja, welche Ergebnisse liegen der Bundesregierung vor, und wie inter-
pretiert sie diese?

Wenn nein, warum nicht, und welche Maßnahmen hat die Bundesregierung
seit 2009 ergriffen, um diese Lücke in der Strafverfolgungsstatistik zu schlie-
ßen?

3. In welchem Rahmen wird nach der Ausklammerung des Themas aus dem
Nationalen Aktionsplan Integration innerhalb des Bundeskabinetts konzeptio-
nell bzw. operativ daran gearbeitet, Opfern von Zwangsverheiratungen einen
besseren Schutz zu ermöglichen?

4. Inwiefern arbeitet die Bundesregierung darüber hinaus (ähnlich wie in der
„Bund-Länder-Arbeitsgruppe Frauenhandel“) mit den Bundesländern bzw.
mit den NROs zusammen, um die Prävention und länderübergreifende Inter-
ventions- und Schutzmaßnahmen für die Opfer von Zwangsverheiratungen
zu entwickeln bzw. zu koordinieren?

5. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über

a) spezialisierte Präventions- und Beratungsangebote,

b) Sensibilisierungs- und Aufklärungskampagnen und

c) spezielle Schutzeinrichtungen

für heterosexuelle Männer, Schwule, Lesben, transsexuelle Personen sowie
Paare, die in Deutschland von „arrangierten“ Ehen bzw. von Zwangsverhei-
ratungen betroffen sind?

6. Welche der in Frage 5 genannten Maßnahmen hat die Bundesregierung in
welcher Form, und über welchen Zeitraum finanziell unterstützt (bitte auf-
schlüsseln)?

7. Stimmt die Bundesregierung der Auffassung des BMFSFJ zu, dass die von
Zwangsheirat betroffenen Personen gegebenenfalls eine Verfolgungshand-
lung gemäß § 60 Absatz 1 Satz 3 AufenthG geltend machen und hierüber den
Flüchtlingsstatus gemäß § 25 Absatz 2 AufenthG erhalten können?

Wenn ja, was hat die Bundesregierung seit 2010 unternommen, um die Ver-
waltungsvorschriften zum AufenthG in diesem Sinne zu ändern (vgl. Bun-
destagsdrucksache 17/2286, zu Frage 9), bzw. die Bundesländer auf anderem
Wege auf ihre diesbezügliche Rechtsauffassung hinzuweisen?

Wenn nein, warum nicht?

Drucksache 17/10947 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
8. In wie vielen Fällen haben Personen in Deutschland nach Kenntnis der Bun-
desregierung als Abschiebehindernis geltend gemacht bzw. eine Duldung
oder Aufenthaltserlaubnis erhalten, weil ihnen eine Zwangsverheiratung
nach Rückkehr in ihr Heimatland droht (bitte nach Jahr der Antragsstellung
bzw. -genehmigung, Geschlecht und sexueller Identität der Betroffenen auf-
schlüsseln)?

Berlin, den 9. Oktober 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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