BT-Drucksache 17/10111

Einreiseverbot in die EU für die russischen Beteiligten an dem Fall Magnitskij

Vom 27. Juni 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10111
17. Wahlperiode 27. 06. 2012

Antrag
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Tom Koenigs,
Viola von Cramon-Taubadel, Agnes Brugger, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, Katja
Keul, Memet Kilic, Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), Omid Nouripour, Lisa Paus,
Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Hans-Christian
Ströbele, Josef Philip Winkler und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Einreiseverbot in die EU für die russischen Beteiligten an dem Fall Magnitskij

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Sergej Magnitskij starb am 16. November 2009 in Moskau in Untersuchungs-
haft. Sein Tod war die Folge einer unrechtmäßigen Inhaftnahme und einer men-
schenunwürdigen Behandlung während seiner Haft.

Hintergrund der Inhaftierung Sergej Magnitskijs waren die Ermittlungen russi-
scher Behörden gegen den internationalen Investmentfonds Hermitage Capital
Management (Hermitage Capital), für den Sergej Magnitskij als Anwalt tätig
war. Nach anfänglicher Nähe zum Kreml fiel das Unternehmen 2005 in Un-
gnade. Nach der Einschätzung der heutigen Bundesministerin der Justiz, Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, die sich als Berichterstatterin des Europarates
zwischen 2008 und 2009 mit dem Fall von Hermitage Capital beschäftigte,
wurde der Hermitage Capital „das Opfer der Korruption und Kollusion hoher
Polizeibeamter und organisierter Krimineller“. Das Unternehmen versuchte sich
juristisch zu wehren und reichte mehrere Beschwerden bei der russischen Staats-
anwaltschaft ein. Diese blieben jedoch ohne relevante Antwort. Stattdessen be-
gannen die Behörden, die Führung des Unternehmens sowie die Anwältinnen
und Anwälte, die das Unternehmen vertraten, zu verfolgen. Im November 2008,
ein Jahr vor seinem Tod, wurde Sergej Magnitskij im Rahmen der Ermittlungen
gegen die Führung von Hermitage Capital verhaftet. Er wurde beschuldigt, ein
illegales System entwickelt zu haben, mit dem die Führung von Hermitage
Capital Steuern hinterzogen haben soll.

In der Untersuchungshaft war Sergej Magnitskij unmenschlichen und erniedri-
genden Bedingungen ausgesetzt. In den ersten vier Monaten seiner Inhaftierung
wurde er kein einziges Mal verhört. Während der insgesamt elf Monate andau-
ernden Untersuchungshaft wurde ihm kein Besuch von Angehörigen gestattet.
Nach fünf Monaten Untersuchungshaft wurde Sergej Magnitskij, der zuvor
gesund gewesen war, krank. Im Juli 2009 wurde bei ihm eine Bauchspeichel-
drüsenentzündung diagnostiziert.

Mehrmals beklagte sich Sergej Magnitskij in schriftlichen Beschwerden über
die unerträglichen Zustände in den Untersuchungshaftanstalten – das Fehlen
von Toiletten, von Fenstern und heißem Wasser – und beklagte seinen schlech-
ten Gesundheitszustand. Seine Beschwerden und Bitten um eine erneute Unter-

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suchung wurden ignoriert. Er bekam nicht die notwendige medizinische Hilfe,
lebenswichtige Medikamente wurden ihm vorenthalten. Am 16. November
2009 starb Sergej Magnitskij im Krankenhaus der Untersuchungshaftanstalt
Butyrka in Moskau.

Im Laufe der Ermittlungen hatte Sergej Magnitskij eine Reihe von Beamtinnen
und Beamten der Teilnahme an dem Steuerbetrug im Zusammenhang mit der
Übernahme von drei Tochterfirmen von Hermitage Capital beschuldigt, darunter
einige Angehörige des Innenministeriums, die gegen ihn ermittelten. Auf An-
trag von Sergej Magnitskij wurden Ermittlungen eingeleitet, an denen jedoch
dieselben Mitarbeiter des Innenministeriums teilnahmen, die er beschuldigt
hatte.

Der damalige russische Präsident Dmitri Medwedew forderte öffentlich die Auf-
klärung des Falls Sergej Magnitskij. Er beauftragte eine Expertengruppe im
Rahmen des Präsidialen Rates zur Entwicklung von Zivilgesellschaft und
Menschenrechten, ein Gutachten zum Fall zu erstellen. Aus dem Untersu-
chungsbericht dieser Gruppe vom Juli 2011 geht unter anderem hervor,

• dass es bei mehreren beteiligten Personen einen deutlichen Interessenkonflikt
bei den Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Fall Sergej Magnitskij gab;

• dass Sergej Magnitskij vor seinem Tod jede medizinische Hilfe entzogen
worden war und ein begründeter Verdacht besteht, dass sein Tod durch Miss-
handlung in der Untersuchungshaft provoziert wurde;

• dass die Entscheidung über die Untersuchungshaft nicht rechtmäßig gewesen
war;

• dass Sergej Magnitskijs Beschwerden über die Haftbedingungen von Staats-
anwaltschaft und Gericht ignoriert wurden.

Der Bericht nennt die Namen mehrerer Beamten, deren Handlungen oder Untä-
tigkeit zu diesen Verletzungen geführt hatten.

Die Unterstützerinnen und Unterstützer Sergej Magnitskijs haben eine Liste von
60 russischen Amtsträgerinnen und Amtsträgern zusammengestellt, denen eine
Mitverantwortung am Tod Sergej Magnitskijs angelastet wird. Nach privaten
Ermittlungen von Hermitage Capital haben sich Vermögen und Einkommen
einiger Amtsträgerinnen und Amtsträger, die mit dem Fall Sergej Magnitskij be-
fasst waren, nach 2008 erheblich vergrößert.

Anfang Juli 2011 räumte die russische Staatsanwaltschaft ein, dass die fehlende
medizinische Versorgung Grund für Sergej Magnitskijs Tod gewesen sei. In
diesem Zusammenhang wurden zuerst die Ärztin und der ehemalige Leiter der
Untersuchungshaftanstalt angeklagt. Später wurde die Anklage gegen die
Gefängnisärztin fallengelassen. Bis heute ist niemand wegen des Todes Sergej
Magnitskijs verurteilt.

Amtsträger, die Sergej Magnitskij im Zusammenhang mit dem Steuerbetrug zu
Lasten von Hermitage Capital selbst beschuldigt hatte und die dann an den Er-
mittlungen gegen ihn beteiligt waren, wurden nicht strafrechtlich verfolgt und
später zum Teil befördert.

Das EU-Parlament forderte am 16. Dezember 2010 in einer Resolution (2010/
2202(INI), dort Rn. 120), den Rat auf, für die russischen Beteiligten an dem Fall
Sergej Magnitskij ein Einreiseverbot in die EU in Erwägung zu ziehen, wenn die
russischen Behörden keinen positiven Willen zur Zusammenarbeit und Unter-
suchung des Falls an den Tag legen würden. Es wiederholte diese Forderungen
in einer Entschließung vom 14. Dezember 2011.

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II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die russischen Justizbehörden eindringlich aufzufordern, umfassende und
gründliche Ermittlungen zum Tode von Sergej Magnitskij voranzutreiben,
rasch konkrete Schlussfolgerungen vorzulegen und alle erforderlichen Maß-
nahmen zu ergreifen, um die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen;

2. sich im Rat, wenn die russischen Behörden keinen positiven Willen zur Zu-
sammenarbeit und Untersuchung des Falls von Sergej Magnitskij an den Tag
legen, für ein Einreiseverbot in die EU für die russischen Beteiligten an dem
Fall einzusetzen, die für die Inhaftierung, Misshandlungen und den Tod von
Sergej Magnitskij verantwortlich sind;

3. sich im Rat für das Einfrieren der Bankguthaben dieser russischen Amtsträ-
ger in allen EU-Mitgliedstaaten einzusetzen;

4. sich im Rat für die Umsetzung der Resolution des Europäischen Parlaments
2010/2202(INI), dort Rn. 120, und der Entschließung des Europäischen
Parlaments vom 14. Dezember 2011 zu dem bevorstehenden Gipfeltreffen
EU-Russland am 15. Dezember 2011 und dem Ergebnis der Duma-Wahl vom
4. Dezember 2011 einzusetzen;

5. in der Bundesrepublik Deutschland Maßnahmen wie ein Einreiseverbot und
das Einfrieren der Vermögenswerte derjenigen zu prüfen, die für die Inhaftie-
rung, den Missbrauch und den Tod Sergej Magnitskijs verantwortlich sind.

Berlin, den 26. Juni 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Die Hermitage Capital hatte sich auf Kapitalbeteiligungen an russischen Unter-
nehmen spezialisiert und war 1995 bis 2007 der größte ausländische Portfolio-
investor auf dem russischen Aktienmarkt sowie einer der größten Steuerzahler
Russlands. Zur Strategie des Unternehmens gehörte die Einführung westlicher
Rechnungslegungsmethoden bei Firmen, in die Hermitage Capital investierte.
2005 wurde dem Geschäftsführer und Gründer des Unternehmens William
Browder die Einreise nach Russland verweigert. 2007 wurden drei Tochterun-
ternehmen von Hermitage Capital Opfer einer „feindlichen Übernahme“.

2008 wurde der Führung von Hermitage Capital von den Rechtsschutzorganen
Steuerhinterziehung in besonders großem Ausmaß vorgeworfen. Die für Hermi-
tage Capital tätigen Anwältinnen und Anwälte wurden als Zeugen einvernom-
men, ihre Büros polizeilich durchsucht.

Sergej Magnistkij war Leiter der Abteilung für Steuern und Audit bei der inter-
nationalen Anwaltskanzlei Firestone Duncan, die für die Hermitage Capital ju-
ristische Dienstleistungen erbracht hatte. Seine Inhaftierung, vor allem aber die
Bedingungen seiner Haft und sein Tod 2009 lösten eine Diskussion u. a. über die
Haftbedingungen in russischen Gefängnissen aus. Mehrere hochrangige Beamte
der Strafvollzugsbehörde und des Innenministeriums sowie 16 Leiter von Haft-
anstalten wurden auf Initiative des damaligen Präsidenten Dmitri Medwedew
entlassen.

Neben der Forderung nach einer Verhängung von Einreiseverboten ermutigte

das EU-Parlament am 16. Dezember 2010 in einer Resolution die Rechtsdurch-
setzungsagenturen der EU, beim Einfrieren der Bankguthaben beteiligter russi-

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scher Amtsträger in allen EU-Mitgliedstaaten zusammenzuarbeiten. Ähnliche
Forderungen erhob im Juni 2011 das niederländische Parlament.

Senator Ben Cardin (Maryland) brachte im Mai 2011 im Senat der Vereinigten
Staaten von Amerika einen Gesetzentwurf unter dem Titel „The Sergej
Magnitsky Rule of Law Accountability Act of 2011“ ein. Der Gesetzentwurf, der
von mindestens 15 Senatorinnen und Senatoren unterstützt wird, sieht Visa- und
wirtschaftliche Sanktionen gegen Personen vor,

• die für die Verhaftung, die Misshandlungen und den Tod von Sergej
Magnitskij verantwortlich sind,

• die daran beteiligt waren, die juristische Verantwortung für die Verhaftung,
die Misshandlungen und den Tod von Sergej Magnitskij zu vertuschen,

• die den Finanzbetrug begangen hatten, der von Sergej Magnitskij aufgedeckt
worden war,

• die extralegale Hinrichtungen, Folter und grobe Menschenrechtsverletzun-
gen begangen haben.

Am 26. Juli 2011 verhängte das US-State Department vor der Behandlung des
Gesetzentwurfs von Ben Cardin im Senat Visasanktionen gegen 60 russische
Funktionäre, die es für den Tod Sergej Magnitskijs für mitverantwortlich hält.

Im Mai 2012 wurde ein ähnlicher Gesetzentwurf unter dem Titel „The Sergej
Magnitsky Rule of Law Accountability Act of 2012“ in das US-Repräsentanten-
haus eingebracht.

Im März 2011 leitete die Staatsanwaltschaft der Schweiz aufgrund einer
Anzeige von Hermitage Capital Ermittlungen wegen Geldwäsche ein, da der
Verdacht bestand, einige der russischen Beamtinnen und Beamten, die von
Sergej Magnitskij des Diebstahls von Steuermitteln beschuldigt wurden, diese
auf Schweizer Bankkonten deponiert haben. Im Mai 2011 wurde bekannt, dass
die schweizerische Staatsanwaltschaft im Rahmen dieser Ermittlungen die Kon-
ten einiger mit dem Fall Sergej Magnitskij im Zusammenhang stehender rus-
sischer Beamtinnen und Beamten bzw. ihrer Familienmitglieder bei der Bank
Credit Suisse gesperrt hatte. Medienberichten zufolge handelt es sich dabei um
die Konten des Ehemannes der Leiterin der Moskauer Steuerinspektion Olga
Stepanowa.

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