BT-Drucksache 16/9799

Für eine atomwaffenfreie Zukunft - Atomwaffen aus Deutschland abziehen

Vom 25. Juni 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9799
16. Wahlperiode 25. 06. 2008

Antrag
der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Jürgen Trittin, Kerstin Müller (Köln),
Omid Nouripour, Josef Philip Winkler, Ulrike Höfken, Marieluise Beck (Bremen),
Volker Beck (Köln), Alexander Bonde, Dr. Uschi Eid, Kai Gehring, Thilo Hoppe,
Ute Koczy, Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin, Rainder Steenblock
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine atomwaffenfreie Zukunft – Atomwaffen aus Deutschland abziehen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Welt steht an der Schwelle zu einem neuen nuklearen Zeitalter. Entweder
es gelingt, die Logik der nuklearen Abschreckung zu überwinden und die
nukleare Abrüstung wiederzubeleben, oder wir laufen Gefahr, dass die Wei-
terverbreitung von Atomwaffen unumkehrbar und unkontrollierbar wird. Wir
brauchen rasch sichtbare und praktische Schritte für eine atomwaffenfreie
Zukunft in Deutschland, Europa und der Welt.

Die Entwicklungen in den USA geben Anlass zur Hoffnung, dass es unter
einer neuen US-Administration zu einem substanziellen Kurswechsel in der
Atomwaffenpolitik und zu einer Aufwertung der kooperativen Rüstungskon-
trolle und Abrüstung kommt. Diese Chance muss genutzt werden.

2. Hier ist auch ein Kurswechsel in Deutschland gefragt. Das im „Weißbuch zur
Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr“ dokumen-
tierte Festhalten an der nuklearen Abschreckung, an der aktiven nuklearen
Teilhabe der Bundeswehr und an der Stationierung US-amerikanischer
Atomwaffen in Europa entstammt dem Denken des Kalten Krieges und ist
ein Hemmschuh für die nukleare Abrüstung. Es entwertet die Bekenntnisse
und das Engagement der Bundesregierung zur nuklearen Abrüstung als lang-
fristig gemeinte Lippenbekenntnisse. Nukleare Abrüstung und sicherheits-
politisches Umdenken beginnen zu Hause. Nur wer selbst bereit ist, ohne den
Schutz von Atomwaffen zu leben, kann von anderen verlangen, dass sie dies
auch tun. Deshalb muss die Bundesregierung den Weg für ein atomwaffen-
freies Deutschland, ein Deutschland ohne nukleare Teilhabe und ohne Atom-
waffen endlich frei machen.

3. Nachdem die auf der US-AirBase in Ramstein gelagerten US-Atombomben
abgezogen wurden, ist der Fliegerhorst Büchel (Rheinland-Pfalz) der einzige
Atomwaffenstandort in Deutschland. Hier sollen sich noch ca. 20 Atombom-
ben befinden. Die Stationierung von Atomwaffen in Deutschland ist ein
Sicherheitsrisiko. Nach einem Untersuchungsbericht der US-Luftwaffe ha-
ben die Atomwaffenlager in Europa erhebliche Sicherheitsmängel. Eine wei-
tere Inkaufnahme des Risikos, dass es zu einem terroristischen, technischen
oder versehentlichen Atomwaffenzwischenfall in Deutschland kommt, ist
unverantwortlich.

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Mehr als 75 Prozent der Bundesbürger sprechen sich für einen Abzug der Atom-
waffen aus Deutschland aus. Mit der Kampagne unsere zukunft – atomwaffen-
frei fordert ein Zusammenschluss von über 40 unabhängigen Organisationen –
einen wegweisenden Beitrag Deutschlands zu einer atomwaffenfreien Welt.
Vom Deutschen Bundestag und der Bundesregierung werden nicht allgemeine
Bekenntnisse, sondern konkrete Schritte in eine atomwaffenfreie Zukunft ge-
fragt. Der Landtag in Rheinland-Pfalz hat einen Abzug der US-Atomwaffen aus
Büchel und Ramstein befürwortet.

Der Deutsche Bundestag begrüßt und unterstützt die in der 15. Legislaturperi-
ode getroffene Entscheidung der damaligen Bundesregierung, keine neuen nu-
klearwaffenfähigen Trägersysteme zu beschaffen und damit die aktive nukleare
Teilhabe perspektivisch zu beenden. Der Deutsche Bundestag sieht in einem
schnellstmöglichen Ausstieg der Bundeswehr aus der aktiven nuklearen Teil-
habe einen wichtigen Beitrag, um

● den vollständigen Abzug der Atomwaffen aus Deutschland und Europa zu
ermöglichen,

● mittels dieser vertrauensbildenden Vorleistung eine Wiederbelebung der
Verhandlungen zur überprüfbaren Vernichtung und Begrenzung aller sub-
strategischer Atomwaffen zu befördern,

● innerhalb der NATO und auf dem NATO-Gipfel 2009 eine Änderung der
Nuklearstrategie des Bündnisses in die Wege zu leiten,

● gegenüber anderen Nicht-Kernwaffenstaaten mit größerer Glaubwürdigkeit
für einen Verzicht auf Nuklearwaffen werben zu können,

● Impulse zur weiteren nuklearen Abrüstung, v. a. für eine erfolgreiche Über-
prüfungskonferenz 2010 – zum Nichtweiterverbreitungsvertrag zu geben,

● Risiken eines terroristischen, technischen oder versehentlich verursachten
Atomwaffenzwischenfalls in Deutschland zu beseitigen,

● den erheblichen Aufwand und die signifikanten Kosten im Zusammenhang
mit der aktiven nuklearen Teilhabe zu sparen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Bereitstellung von Bundeswehrpiloten und Jagdbombern zum Atomwaffen-
einsatz unverzüglich einzustellen und die Bundeswehr schnellstmöglich und
ersatzlos von der Aufgabe der aktiven nuklearen Teilhabe zu befreien;

2. sich gegenüber den USA und anderen Bündnispartnern in der NATO

● für ein atomwaffenfreies Deutschland einzusetzen und den Weg für den Ab-
zug der verbliebenen US-Atomwaffen frei zu machen,

● für einen weiteren und vollständigen Abbau der US-amerikanischen Atom-
waffen in Europa mit Nachdruck zu werben,

● dafür einzusetzen, dass auf dem NATO-Gipfel 2009 der Auftrag zu einer
raschen Entnuklearisierung der NATO-Strategie und nuklearen Abrüstung
des Bündnisses erteilt wird,

● dafür einzusetzen, dass die Politik der nuklearen Abschreckung – u. a. durch
den Verzicht auf die nukleare Ersteinsatzoption und die Drohung eines
Atomwaffeneinsatzes gegen Nichtatomwaffenstaaten – überwunden wird;

3. sich im Vorfeld der NVV-Überprüfungskonferenz 2010 mit Nachdruck dafür
einzusetzen, dass es im Bereich der substrategischen und strategischen Atom-
waffen – insbesondere von Seiten der USA und Russlands – zu überprüfbaren,
weitreichenden und unumkehrbaren Abrüstungsschritten kommt, die in abseh-
barer Zeit zu einer atomwaffenfreien Zukunft führen;

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/9799

4. die Initiative der Blix-Kommission für einen Weltgipfel der Vereinten Nationen
zur Abrüstung und Nichtweiterverbreitung von ABC-Waffen zu unterstützen;

5. sich an der Ausarbeitung einer Nuklearwaffenkonvention zur Ächtung der
Atomwaffen konstruktiv zu beteiligen;

6. einer Aufhebung der Nuklearsanktionen gegenüber Indien unter den gegenwär-
tigen Bedingungen nicht zuzustimmen.

Berlin, den 25. Juni 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Begründung

1. Die Bundesregierung hat sich in der Vergangenheit immer wieder zum Ziel der
nuklearen Abrüstung bekannt und Anstöße – auch im Bereich der taktischen
Atomwaffen – gegeben. Während die Bundesregierung 2005 im Umfeld der
NVV-Überprüfungskonferenz ihre Bereitschaft erklärt hat, einen Abzug der
US-Atomwaffen aus Deutschland zu befürworten hat die gegenwärtige Regie-
rung 2006 im „Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft
der Bundeswehr“ ihr Festhalten an der nuklearen Teilhabe Deutschlands bekräf-
tigt. Sie begründet dies mit Bündnissolidarität, fairer Lastenteilung und der
Notwendigkeit, an einer glaubwürdigen nuklearen Abschreckung festhalten zu
müssen.

Mit dieser Haltung entwertet die Bundesregierung ihre abrüstungspolitischen
Bekenntnisse. Gleichzeitig behindert sie mit einem Beharren auf der nuklearen
Teilhabe und einer Stationierung von Atomwaffen in Deutschland, dass von
Deutschland ein wichtiges abrüstungspolitisches Signal ausgeht. Deutschland
muss in der Atomwaffenfrage abrüstungspolitischer Motor und nicht Bremser
sein. Es gibt in Deutschland eine breite Mehrheit für ein atomwaffenfreies
Deutschland und einseitige nukleare Abrüstungsschritte, die sich in der Politik
der Regierungskoalition derzeit nicht widerspiegelt.

2. Mit ihren aufsehenerregenden Beiträgen „A World Free of Nuclear Weapons“
(Wall Street Journal vom 4. Januar 2007) und „Toward a Nuclear-Free World“
(Wall Street Journal vom 15. Januar 2008) haben sich erfahrene außenpolitische
Experten wie George Shultz, William Perry, Henry Kissinger und Sam Nunn
von der nuklearen Abschreckungspolitik verabschiedet und dafür plädiert, prak-
tische Schritte in eine atomwaffenfreie Zukunft zu gehen. Angesichts der Ein-
sicht, dass wir an der Schwelle zu einem neuen Atomzeitalter stehen, in dem die
Weiterverbreitung von Atomwaffen mit all ihren existenziellen Risiken – trotz
diverser neuer Instrumente – kaum noch unter Kontrolle zu halten ist, sehen sie
den einzigen vernünftigen Ausweg in der Beseitigung aller Atomwaffen.

Dies ist nicht nur eine späte Genugtuung für jene Menschen in Ost und West,
die in Kirchenräumen, auf der Straße oder in Parlamenten seit Jahrzehnten vor
den verhängnisvollen Folgen der Logik der nuklearen Abschreckung gewarnt
und für deren Abschaffung gestritten haben. Die Shultz-Gruppe (auch „Gang
of 4“ genannt) hat die politische Diskussion und abrüstungspolitische Program-
matik der amerikanischen Präsidentschaftskandidaten nachhaltig beeinflusst.
Die Vision einer atomwaffenfreien Welt und praktische Schritte zur nuklearen
Abrüstung und effizienten nuklearen Nichtweiterverbreitung werden ernsthaft
diskutiert. Dies ist eine große historische Chance, die im Vorfeld der NVV-
Überprüfungskonferenz 2009 und des NATO-Gipfels 2010 genutzt werden muss.

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Es gibt vielfältige Bemühungen, die Krise der nuklearen Abrüstung zu über-
winden. Bereits die Blix-Kommission hat in ihrem Bericht „Weapons of
Terror – Freeing the World of Nuclear, Biological and Chemical Arms“ (Mai
2006) eine Reihe von praktischen Vorschlägen (z. B. für einen VN-Welt-
gipfel zur Abrüstung) gemacht, die es aufzugreifen und umzusetzen gilt.
Einige Staaten und Nichtregierungsorganisationen haben Entwürfe für eine
Nuklearwaffenkonvention zur Ächtung der Atomwaffen erarbeitet, die es
weiterzuentwickeln gilt.

3. Bei der Wiederbelebung der nuklearen Abrüstung sind vor allem – aber nicht
nur – die Atomwaffenstaaten gefragt. Die Logik der nuklearen Abschreckung
ist nach wie vor Teil einer NATO-Strategie, die weder vor dem Ersteinsatz
noch vor dem Einsatz gegen Nichtatomwaffenstaaten zurückschreckt, und
die dringend geändert werden muss. Hierfür bietet sich der NATO-Gipfel
2009 in Straßburg und Kehl an. Ein wesentlicher Baustein ist die Beendigung
der nuklearen Teilhabe und der Abzug der US-Atomwaffen von fremdem
Staatsgebiet.

4. Fast 20 Jahre nach Ende des Kalten Krieges lagern immer noch US-amerika-
nische Atomwaffen in Deutschland und Europa. Der Untersuchungsbericht
der US-Luftwaffe („Blue Ribbon Review of Nuclear Weapons Policies and
Procedures“) vom Februar 2008 kommt zu dem Ergebnis, dass es in Deutsch-
land und in den übrigen Stationierungsländern erhebliche Sicherheitsmängel
gibt. ,Jede einzelne dieser Atomwaffen hat die Zerstörungskraft von mehre-
ren Hiroshima-Bomben. Nähere Angaben werden geheim gehalten. Nach-
dem 2004/2005 die auf der US-AirBase in Ramstein gelagerten Atombom-
ben – vermutlich dauerhaft – ausgeflogen wurden, ist der Fliegerhorst Büchel
der einzige Atomwaffenstandort in Deutschland. Hier sollen sich noch ca. 20
Atombomben befinden. Diese Atomwaffen sollen im Ernstfall von der Bun-
deswehr eingesetzt werden. TORNADO-Piloten des Jagdbombergeschwa-
ders 33 bereiten sich heute noch darauf vor.

Neben Deutschland sind drei weitere der derzeit 26 NATO-Staaten (Belgien,
Niederlande, Italien) durch die Bereitstellung von Trägersystemen aktiv an
der „nuklearen Teilhabe“ der NATO beteiligt. Außerdem werden in Großbri-
tannien und in der Türkei US-Atomwaffen gelagert. Staaten wie Kanada und
Griechenland haben sich in den vergangenen Jahren aus der nuklearen Teil-
habe der NATO zurückgezogen. Großbritannien hat die Jagdbomberflotte
von der Nuklearrolle befreit und das belgische Parlament hat signalisiert,
dass es einen Abzug der Atomwaffen begrüßt. Insgesamt sollen ca. 240 US-
amerikanische Atomwaffen in Europa stationiert sein. Völkerrechtsexperten
und die Bewegung der blockfreien Staaten sehen darin einen Verstoß gegen
Artikel I und II des Nichtweiterverbreitungsvertrags, in dem die Vertragsstaa-
ten die Weitergabe oder Annahme der unmittelbaren oder mittelbaren Verfü-
gungsgewalt verbieten.

5. Taktische oder substrategische Atomwaffen unterliegen bisher keiner über-
prüfbaren Abrüstungs- oder Rüstungskontrollverpflichtung. Ihre weitere Re-
duzierung und vollständige Beseitigung ist insbesondere vor dem Hinter-
grund der Gefahr, dass diese, zum Teil überalterten Waffen durch Diebstahl
in falsche Hände gelangen könnten, von eminenter Bedeutung. Experten ge-
hen davon aus, dass die USA etwa 500 substrategische Atomwaffen für einen
kurzfristigen Einsatz bereithalten und weitere 800 in Reserve haben. Schät-
zungen zufolge hat Russland ca. 3 000 taktische Atomwaffen im Bestand. In
den USA gibt es seit geraumer Zeit Stimmen, die für eine völlige Abrüstung
dieser Waffen plädieren.

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