BT-Drucksache 16/9650

zu der zweiten und dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung -16/6562, 16/9643- Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht

Vom 18. Juni 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9650
16. Wahlperiode 18. 06. 2008

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Jerzy Montag, Volker Beck (Köln), Monika Lazar, Irmingard
Schewe-Gerigk, Silke Stokar von Neuforn, Hans-Christian Ströbele, Wolfgang
Wieland, Josef Philip Winkler und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der zweiten und dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
– Drucksachen 16/6562, 16/9643 –

Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der nachträglichen
Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die gesetzlichen Regelungen zur Sicherungsverwahrung in ihren praktischen
Auswirkungen umfassend zu untersuchen und auszuwerten, wobei ein beson-
derer Schwerpunkt auf die gerichtliche Anordnungspraxis, die gegenwärtige
Praxis des Vollzuges der Sicherungsverwahrung sowie die faktischen Aus-
wirkungen der Sicherungsverwahrung auf die Situation des allgemeinen
Strafvollzuges zu legen ist,

2. auf die Bundesländer einzuwirken, dass diese ein abgestimmtes Gesamtkon-
zept zum Vollzug der Sicherungsverwahrung erarbeiten, das eine deutliche
Abgrenzung des Vollzuges der Sicherungsverwahrung zum allgemeinen
Strafvollzug zur Zielstellung hat und dem Anspruch der Sicherungsverwah-
rung als Maßregel der Besserung und Sicherung gerecht wird,

3. bis zur Umsetzung der unter den Nummern 1 und 2 benannten Zielstellun-
gen auf gesetzliche Änderungen im Recht der Sicherungsverwahrung zu
verzichten, insbesondere auch den Gesetzentwurf zur Einführung der nach-
träglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht
bis zu diesem Zeitpunkt im Deutschen Bundestag nicht abschließend zu be-
raten.

Berlin, den 18. Juni 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Drucksache 16/9650 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Begründung

Die Sicherungsverwahrung bedeutet einen tiefgreifenden Einriff in die Frei-
heitsrechte des Betroffenen, da durch sie einer Person nach vollständiger Ver-
büßung ihrer Haftstrafe weiterhin die Freiheit entzogen werden kann, sofern
nach prognostischer Beurteilung zu erwarten ist, dass diese Person auch künftig
erhebliche Straftaten begehen wird. Als insoweit schuldunabhängige Maßregel
gehört die Sicherungsverwahrung seit jeher zu den umstrittensten Sanktionen
des Strafrechts.

Zwar ist die Fortdauer der Sicherungsverwahrung in regelmäßigen Abständen
gerichtlich zu überprüfen. Gesetzliche Höchstfristen für die Sicherungsverwah-
rung gibt es jedoch nicht (mehr). Damit kann Sicherungsverwahrung auch
„Freiheitsentzug für immer“ bedeuten.

Seit Anfang der 90er-Jahre erlebt das Recht der Sicherungsverwahrung eine
zuvor nicht erwartete Renaissance. Innerhalb der vergangenen zwölf Jahre
wurden die gesetzlichen Regelungen zur Sicherungsverwahrung fünf Mal aus-
geweitet. So wurde, entgegen der ursprünglichen Regelungen im Einigungs-
vertrag, durch Gesetz vom 16. Juni 1995 (BGBl. I S. 818) die Sicherungs-
verwahrung auf die fünf neuen Bundesländer erstreckt. 1998 wurden die
gesetzlichen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung u. a. für Sexual- und
andere Gewaltdelikte erheblich abgesenkt (Gesetz vom 26. Januar 1998,
BGBl. I S. 160 ff.). Mit Gesetz vom 21. August 2002 (BGBl. I S. 3344) wurde
die vorbehaltene Sicherungsverwahrung eingeführt. Mit Wirkung zum 29. Juli
2004 trat das Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung
in Kraft (BGBl. I S. 1838). Im März 2007 schließlich wurden die Regelungen
zur nachträglichen Sicherungsverwahrung auf sog. Altfälle erstreckt (Gesetz
vom 13. April 2007, BGBl. I S. 513). Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilun-
gen nach Jugendstrafrecht (Bundestagsdrucksache 16/6562) steht nunmehr der
sechste Ausweitungsvorschlag binnen nur zwölf Jahren zur Diskussion.

Im gleichen Zeitraum stieg auch die Zahl der Sicherungsverwahrten kontinuier-
lich und deutlich. Befanden sich 1995 183 Personen in Sicherungsverwahrung,
stieg ihre Zahl im Jahr 2005 auf 350. Mit Stichtag zum 30. November 2007
waren 424 Personen in Sicherungsverwahrung – dies bedeutet mehr als eine
Verdopplung innerhalb von nur zwölf Jahren. Dieser Anstieg der Fallzahlen in
der Sicherungsverwahrung lässt sich weder mit einem Bevölkerungsanstieg
erklären noch mit einer ansteigenden Kriminalität. Im Gegenteil: sowohl die
polizeilichen Kriminalstatistiken als auch die Periodischen Sicherheitsberichte
verzeichnen eine Stagnation bzw. einen Rückgang im Bereich schwerer Krimi-
nalität.

Eine Erhebung des Statistischen Bundesamtes vom 11. Dezember 2007 kam
darüber hinaus zu dem überraschenden Ergebnis, dass nahezu jede fünfte An-
ordnung von Sicherungsverwahrung im Jahr 2006 nicht wegen Gewaltdelikten,
sondern wegen Vermögens- und Betäubungsmitteldelikten erfolgte (Statisti-
sches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3, 2006).

Der Vorschlag zur Ausweitung der Sicherungsverwahrung auf nach Jugend-
recht Verurteilte begegnet nicht nur erheblichen verfassungsrechtlichen Beden-
ken; er führt auch zu rechtssystematischen Unstimmigkeiten und Brüchen im
Recht der Sicherungsverwahrung. Zudem steht zu befürchten, dass sich mit
Einführung dieses Gesetzes die vollzugspraktischen Schwierigkeiten in den
Anstalten nochmals verschärfen werden. Zu dieser Einschätzung kam auch die
übergroße Mehrheit der Sachverständigen in der Anhörung des Rechtsaus-
schusses des Deutschen Bundestages vom 28. Mai 2008.

Indem der Gesetzentwurf auf das Erfordernis der sog. Nova, also der nachträg-
lichen neuen Tatsachen, erstmals vollständig verzichtet, widerspricht er dem

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/9650

verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der vom Bundesverfas-
sungsgericht in seiner bisherigen Rechtsprechung stets besonders gewürdigt
und betont wurde. Der Verzicht auf die Nova bedeutet einen Verstoß gegen
Artikel 103 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) („ne bis in idem“), da so ein bereits
abgeurteilter Sachverhalt ohne Hinzutreten neuer Umstände für die Anordnung
der nachträglichen Sicherungsverwahrung erneut herangezogen werden kann.
Diese Regelung stellt jugendliche Straftäter zudem schlechter als Heranwach-
sende, bei denen die Nova weiterhin erforderlich ist. Auch von dem zugunsten
von Heranwachsenden geltenden Grundsatz, über die Anordnung bzw. Nicht-
anordnung von Sicherungsverwahrung zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu ent-
scheiden, wird bei jugendlichen Straftätern nachteilig abgewichen: Letztere
müssen, sofern die formellen Anordnungsvoraussetzungen vorliegen, bis zum
letzten Hafttag mit nachträglicher Sicherungsverwahrung rechnen, auch wenn
ihr Vollzugsverhalten keinerlei negative Anhaltspunkte liefert. Dies erschwert
zugleich Vollzugslockerungen, wie z. B. die Gewährung von Ausgang oder
Hafturlaub. Zudem fehlt im Gesetzentwurf ein Anspruch des Jugendlichen auf
sozialtherapeutische Behandlung während der Haft, wie er für Heranwachsende
zur Vermeidung drohender Sicherungsverwahrung festgeschrieben ist. Auch in-
soweit stehen Jugendliche schlechter als Heranwachsende. Weitere rechtssyste-
matische Bedenken ergeben sich daraus, dass auch bei jugendlichen Ersttätern
die nachträgliche Sicherungsverwahrung ohne das Erfordernis neuer Tatsachen
möglich ist, während dies bei Erwachsenen und Heranwachsenden bislang – mit
Verweis auf die insoweit schmale Tatsachengrundlage – ausdrücklich ausge-
schlossen ist. Dies zeigt die Unsystematik der vorgeschlagenen Neuregelung
im Gesamtgefüge des Rechts der Sicherungsverwahrung.

Die Vollzugspraxis attestiert deutliche Veränderungen der Gesamtsituation in
den Haftanstalten aufgrund der gesetzlichen Ausweitungen der Sicherungsver-
wahrung in den vergangenen Jahren. Eigenständige Sicherungsverwahrungs-
vollzugsregelungen fehlen bisher. Sie sind dringend erforderlich. Auch konzep-
tionelle Gesamtansätze der Einrichtungen sind bislang noch nicht in ausreichen-
dem Maße vorhanden, um auf die steigende Zahl der Sicherungsverwahrten, die
einerseits zunehmend jünger werden, andererseits aber auch tendenziell immer
länger in der Maßregel verbleiben, zu reagieren. Insbesondere Fragen eines wür-
digen Alterns und Sterbens stellen sich insoweit bei Sicherungsverwahrten in
neuem Umfang; auf sie muss reagiert werden. Zunehmende Resignation und
Perspektivlosigkeit erschwert die Arbeit mit den Betroffenen.

Auch der Strafvollzug selbst wird deutlich von der Sicherungsverwahrung be-
einflusst. So wird in einigen Bundesländern bei Gefangenen, die die formellen
Voraussetzungen nachträglicher Sicherungserwahrung erfüllen, dies systema-
tisch in der Vollstreckungsakte vermerkt. Daran anknüpfende Beobachtungs-,
Prüfungs-, Dokumentations- und Berichtserfordernisse belasten die Arbeit
der Vollzugsbediensteten erheblich. Bei Strafgefangenen mit dem Vermerk
„f. V. nSV“ (formelle Voraussetzungen nachträgliche Sicherungsverwahrung)
in der Vollstreckungsakte sind Vollzugslockerungen deutlich erschwert. Zudem
befördert das „Damoklesschwert nachträgliche Sicherungsverwahrung“ ein
aggressives Klima in den Anstalten. Die für eine erfolgreiche Therapie erfor-
derliche vertrauensvoll-offene Mitarbeit des Strafgefangenen steht in Frage,
wenn Therapieerkenntnisse zugleich zur Begründung nachträglicher Siche-
rungsverwahrung herangezogen werden können. Insoweit haben die gesetz-
lichen Möglichkeiten der Sicherungsverwahrung auch deutlichen Einfluss auf
das Strafvollzugsziel der Resozialisierung.

Vor diesem Hintergrund ist eine vorschnelle erneute Ausweitung der Siche-
rungsverwahrung zum gegenwärtigen Zeitpunkt abzulehnen. Stattdessen soll-
ten zunächst die Rechtsprechungs- und Vollzugspraxis der Sicherungsverwah-
rung umfassend erhoben und bewertet werden.

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