BT-Drucksache 16/9490

Die eigenständige Existenzsicherung von Stiefkindern sicherstellen - § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II reformieren

Vom 4. Juni 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9490
16. Wahlperiode 04. 06. 2008

Antrag
der Abgeordneten Katja Kipping, Klaus Ernst, Karin Binder, Dr. Lothar Bisky,
Dr. Martina Bunge, Diana Golze, Elke Reinke, Volker Schneider (Saarbrücken),
Dr. Ilja Seifert, Frank Spieth, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Die eigenständige Existenzsicherung von Stiefkindern sicherstellen –
§ 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II reformieren

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Durch das SGB-II-Fortentwicklungsgesetz ist § 9 Abs. 2 Satz 2 des Zweiten
Buches Sozialgesetzbuch – SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) in
einer nicht zu akzeptierenden Weise verändert worden. Seit dem 1. August 2006
ist bei Kindern nunmehr das Einkommen und Vermögen von Personen, die mit
einem Elternteil eine Bedarfsgemeinschaft bilden, zu berücksichtigen. Die Exis-
tenzsicherung von Stiefkindern ist durch diese Regelung in einer verfassungs-
widrigen Weise gefährdet worden. Das Gebot zur Sicherung des Existenzmini-
mums aus Artikel 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) in Verbindung mit dem
Sozialstaatsgebot des Artikels 20 GG wird für das Stiefkind oder die Stiefkinder
gebrochen.

II. Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

die Existenzsicherung von Kindern, die mit einem Stiefelternteil zusammen-
wohnen, durch eigenständige SGB-II-Ansprüche zu sichern. Die Neuregelung
durch das SGB-II-Fortentwicklungsgesetz, nach der Einkommen und Vermögen
der Stiefeltern bei der Bedarfsberechnung des Kindes zu berücksichtigen sind,
ist zurückzunehmen.

Berlin, den 3. Juni 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Drucksache 16/9490 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
Begründung

1. Durch die Neuregelung des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II ist bei unverheirateten
Partnern eine Art Unterhaltspflicht für Kinder der Partnerin oder des Partners
geschaffen worden. Eine solche Unterhaltspflicht ist in dem bürgerlichen
Recht (§ 1601 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuchs – BGB) nicht vorgesehen.
Das Sozialrecht konstituiert mit der Regelung de facto eine neue Unterhalts-
pflicht. Es bestehen erhebliche Bedenken, ob die neue Fassung des § 9 Abs. 2
Satz 2 SGB II mit dem grundgesetzlichen Existenzsicherungsauftrag nach
Artikel 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot (Artikel 20
GG) vereinbar ist. Die neue Regelung legt schematisch fest, dass das Ein-
kommen und Vermögen des Stiefelternteils anzurechnen ist, ohne darauf
Rücksicht zu nehmen, ob und inwieweit ein Einkommenszufluss tatsächlich
stattfindet. Soweit eine Unterstützung dem Stiefkind faktisch verweigert
wird, stehen dem Kind keinerlei Möglichkeiten zur Verfügung, zu einer tat-
sächlichen Deckung seines Bedarfs zu gelangen, denn zivilrechtliche An-
sprüche gegenüber dem Stiefelternteil bestehen nicht. Die sozialrechtlichen
Ansprüche werden aber mit Verweis auf das Stiefelternteil verweigert. Das
Kind hat auch keine Möglichkeit die Bedarfsgemeinschaft zu verlassen und
dadurch einen eigenständigen Sicherungsanspruch zu begründen. Damit ist
der Auftrag zur Sicherstellung des Existenzminimums für das betroffene
Stiefkind gefährdet. Mit dieser überzeugenden Argumentation bewertet das
Sozialgericht Berlin die Stiefkinderreglung des SGB II als verfassungswidrig
(SG Berlin S 103 AS 10869/06).

2. Auch in Bezug auf verheiratete Partner hat die Neuregelung durch das
SGB-II-Fortentwicklungsgesetz eine nicht akzeptable Änderung gebracht.
Mit der Eheschließung geht das Stiefelternteil eine Schwägerschaft mit dem
Kind des Partners oder der Partnerin ein. Der verheiratete neue Partner be-
gründet mit dem Stiefkind eine Haushaltsgemeinschaft nach § 9 Abs. 5
SGB II. Für eine Haushaltsgemeinschaft gilt die widerlegbare Vermutung,
dass eine Unterstützung des bedürftigen Mitglieds der Haushaltsgemein-
schaft stattfindet. Mit der Neuregelung wurde die Möglichkeit der Wider-
legung der Vermutung abgeschafft. Auch in diesem Fall gilt die oben aufge-
führte Bewertung als verfassungswidrig, weil dem Kind bei Verweigerung
einer Unterstützung keine Möglichkeit offen steht, den eigenen Bedarf zu
decken. Die Bundesregierung sollte daher die Neuregelung des § 9 Abs. 2
Satz 2 SGB II rückgängig machen, bevor das Bundesverfassungsgericht sie
als verfassungswidrig verwerfen wird.

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