BT-Drucksache 16/9142

Situation in deutschen Abschiebehaftanstalten

Vom 7. Mai 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9142
16. Wahlperiode 07. 05. 2008

Große Anfrage
der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Kai Gehring,
Monika Lazar, Jerzy Montag, Claudia Roth (Augsburg), Irmingard Schewe-Gerigk,
Silke Stokar von Neuforn, Hans-Christian Ströbele, Wolfgang Wieland
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Situation in deutschen Abschiebehaftanstalten

Im März 2008 hat die Berliner „Antirassistische Initiative“ ihre 15. aktualisierte
Übersicht „Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen“ vor-
gelegt (www.ari-berlin.org). Demzufolge

● töteten sich seit 1993 nicht weniger als 149 Personen angesichts ihrer dro-
henden Abschiebung – davon 56 Menschen in Abschiebehaft,

● weitere 746 Personen verletzten sich oder versuchten sich seit 1993 aus
Angst vor einer Abschiebung umzubringen – davon befanden sich 449 Men-
schen in Abschiebehaft.

Konkret listete die „Antirassistische Initiative“ für die Jahre 2006 bis 2007 u. a.
folgende Fälle auf:

● Am 30. Dezember 2007 erhängte sich der 28-jährige Tunesier Mohamed M.
im Berliner Abschiebegefängnis mithilfe seines Schnürsenkels am Bügel
des Oberlichts.

● Am 27. Juni 2007 erhängte sich der 30-jährige Kurde Mustafa A. in der Ab-
schiebehaftanstalt in Frankfurt/Main mithilfe eines zerrissenen T-Shirts an
einem Heizungsrohr.

● Am 12. Dezember 2006 erhängte sich der ausreisepflichtige kurdische
Flüchtling G. Y. in einer niedersächsischen psychiatrischen Klinik.

● Am 26. Oktober 2006 erhängte sich der in Abschiebehaft genommene
Äthiopier Asseged A. in der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim.

● Am 8. Mai 2006 erlag eine 57 Jahre alte Chinesin ihren Verletzungen, die sie
bei einem Suizidversuch in der Abschiebehaftanstalt Neuss erlitten hatte.

In ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. lehnte die
Bundesregierung eine Beantwortung mit folgender Begründung ab: „Für die
Anordnung und den Vollzug von Abschiebungshaft sind die Länder zuständig

(Artikel 83 und 70 Abs. 1 des Grundgesetzes). Der Bundesregierung liegen
daher Angaben zur Gesamtzahl der sich gegenwärtig in Abschiebungshaft be-
findlichen Ausländer ebenso wenig vor wie nähere Angaben zu den rechtlichen
Grundlagen für die Durchführung von Abschiebungshaft in den Ländern bzw.
zu den dortigen Vollzugsmodalitäten“ (Bundestagsdrucksache 16/1757).

Auf Nachfrage, ob die Bundesregierung in der Vergangenheit Daten zu Ab-
schiebehaft oder zu einzelnen Gruppen von Abschiebehäftlingen bei den Lan-

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desinnenministerien erfragt habe, verweist die Bundesregierung lediglich auf
eine Erhebungen im Februar 2005 (Bundestagsdrucksache 16/2434).

Beide Antworten der Bundesregierung sind unzureichend und inakzeptabel.
Denn tatsächlich war die Bundesregierung in der Vergangenheit durchaus
Willens und in der Lage, selbst im Rahmen einer Kleinen Anfrage (unbeacht-
lich der grundgesetzlichen Zuständigkeitsverteilung) mithilfe einer Abfrage bei
den Bundesländern, Fragen zu Selbsttötungsversuchen von Flüchtlingen in
bundesdeutschen Abschiebehaftanstalten bzw. bei einer bei bevorstehender
Abschiebung konkret zu beantworten (vgl. Bundestagsdrucksache 12/8583,
S. 3, 13/1987, 13/3801, 13/3802 und 14/1141, S. 4).

Die Antwort auf die vorliegende Große Anfrage würde auch helfen, offenkun-
dige Wissenslücken innerhalb der Bundesregierung zu schließen: Auf eine
Kleine Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ob die Staatsminis-
terin und Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und In-
tegration, Dr. Maria Böhmer, wisse, wie viele Personen sich in den Jahren 2005
bis 2007 wie lange in deutschem Abschiebegewahrsam befunden bzw. dort ver-
sucht hätten, sich aus Angst vor einer Abschiebung das Leben zu nehmen, ant-
wortete die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung nämlich, ihr lägen
„keine exakten Daten vor“ (Bundestagsdrucksache 16/8646).

Vor diesem Hintergrund fragen wir die Bundesregierung:

1. Wie viele Personen befanden sich zum Stichtag 31. Dezember 2007 in einer
deutschen Abschiebehaftanstalt (bitte aufschlüsseln nach Bundesländern,
Geschlecht und Altersgruppen in folgender Gliederung: unter 16 Jahre, 16
bis 18 Jahre, 18 bis 59 Jahre, 60 Jahre und älter)?

2. Wie viele Personen saßen in den Jahren 2005 bis 2007

a) länger als drei Monate,

b) länger als sechs Monate,

c) länger als zwölf Monate,

d) länger als 17 Monate

in einer deutschen Abschiebehaftanstalt (bitte aufschlüsseln nach Bundes-
ländern, Geschlecht und Altersgruppen in folgender Gliederung: bis
16 Jahre, 16 bis 18 Jahre, 18 bis 59 Jahre, 60 Jahre und älter)?

3. In welchen Bundesländern werden auch Justizvollzugsanstalten zur Durch-
führung der Abschiebehaft genutzt?

4. Wie viele ausreisepflichtige Personen saßen in den Jahren 2005 bis 2007

a) in Einrichtungen, die allein zur Durchführung der Abschiebehaft genutzt
werden bzw.

b) in Justizvollzugsanstalten, die auch zur Durchführung der Abschiebehaft
genutzt werden

(bitte nach Bundesländern aufschlüsseln)?

5. In wie vielen Fällen wurde in den Jahren 2005 bis 2007

a) Vorbereitungshaft (§ 62 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz) bzw.

b) Sicherungshaft (§ 62 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz)

angeordnet (bitte nach Jahren und Bundesländern aufschlüsseln)?

6. Wie vielen Abschiebungen ging nach Erkenntnis der Bundesregierung in
den Jahren 2005 bis 2007 die Verhängung von Abschiebehaft voraus?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/9142

Wie viele Abschiebungen erfolgten ohne vorherige Verhängung von Ab-
schiebehaft (bitte jeweils nach Jahren und Bundesländern aufschlüsseln)?

7. In wie vielen Fällen wurden in den Jahren 2005 bis 2007 Personen wegen
Undurchführbarkeit der Abschiebung aus der Abschiebehaft entlassen
(bitte nach Jahren sowie Bundes- und Herkunftsländern der Betroffenen
sowie der jeweiligen Haftdauer aufschlüsseln)?

8. In wie vielen Fällen befanden sich in den Jahren 2005 bis 2007 Schwan-
gere, Eltern mit minderjährigen Kindern, unbegleitete Minderjährige bzw.
traumatisierte Personen wie lange in einer deutschen Abschiebehaftanstalt
(bitte aufschlüsseln)?

9. In welchen Bundesländern gibt es in Abschiebeeinrichtungen Betreuungs-
möglichkeiten welcher Art

a) für Schwangere,

b) für Eltern mit minderjährigen Kindern,

c) für unbegleitete Minderjährige,

d) für traumatisierte Personen

(bitte nach Bundesländern aufschlüsseln)?

10. Welche Bundesländer verzichten darauf, Schwangere, Eltern mit minder-
jährigen Kindern, unbegleitete Minderjährige bzw. traumatisierte Personen
in Abschiebehaft zu nehmen?

11. In welchen Abschiebegefängnissen steht den Insassen eine Rechtsberatung
(z. B. durch kirchliche oder regierungsunabhängige Organisationen) zur
Verfügung, und wie wird diese finanziert (bitte nach Bundesländern auf-
schlüsseln)?

12. Auf welcher Rechtsgrundlage wurden von Abschiebehäftlingen in den Jah-
ren 2005 bis 2007 Tagessätze in welcher Höhe zur Begleichung der Kosten
für die Abschiebehaft eingefordert (bitte nach Bundesländern auflisten)?

13. Wie viele in Abschiebehaft befindliche Personen mussten in den Jahren
2005 bis 2007 psychologisch betreut bzw. psychiatrisch versorgt werden
(bitte aufschlüsseln nach Bundesländern, Geschlecht und Minderjährigen
sowie nach der jeweiligen Haftdauer)?

a) Wie viele von ihnen mussten in ein Psychiatrisches Krankenhaus ver-
legt werden?

b) Wie viele Personen haben sich dort das Leben genommen bzw. einen
Suizidversuch unternommen (wenn ja, bitte unter Angabe von Ort,
Datum und den Initialen der/des Betreffenden aufschlüsseln)?

14. Wie viele Personen mussten in den Jahren 2005 bis 2007 krankheitsbe-
dingt bzw. aufgrund einer psychiatrischen Erkrankung aus einer deutschen
Abschiebehaft vorübergehend bzw. dauerhaft entlassen werden (bitte nach
Bundesländern auflisten)?

15. Wie viele Personen haben sich in den Jahren 2005 bis 2007 in einer deut-
schen Abschiebehaftanstalt das Leben genommen bzw. haben einen
Suizidversuch unternommen (bitte unter Angabe von Ort, Datum und den
Initialen der/des Betreffenden aufschlüsseln)?

Berlin, den 7. Mai 2008
Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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