BT-Drucksache 16/9135

Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliches und bürgerschaftliches Engagement als Einkommen und dessen Anrechnung bei Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch

Vom 7. Mai 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9135
16. Wahlperiode 07. 05. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Katja Kipping, Klaus Ernst, Karin Binder, Dr. Lothar Bisky, Diana
Golze, Lutz Heilmann, Dr. Barbara Höll, Monika Knoche, Katrin Kunert, Elke
Reinke, Volker Schneider (Saarbrücken), Frank Spieth, Dr. Kirsten Tackmann, Jörn
Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliches und bürgerschaftliches
Engagement als Einkommen und dessen Anrechnung bei Leistungen
nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch

In der „Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberück-
sichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/Sozialgeld
(Alg II-V)“ vom 17. Dezember 2007 wird bezüglich „Zuwendungen Dritter, die
einem anderen Zweck als die Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetz-
buch (SGB II) dienen, soweit sie die Lage des Empfängers nicht so günstig
beeinflussen, dass daneben Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende
nicht gerechtfertigt wären“ ausgesagt, dass diese nicht als Einkommen zu
berücksichtigende Einnahmen gelten (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 Alg II-V). Darunter fal-
len in der Alg II-V unter der Randziffer (Rz.) 11.96:

– „Aufwandsentschädigungen für Mitglieder kommunaler Vertretungen und
Ausschüsse“,

– „steuerfreie Aufwandsentschädigungen aus öffentlichen Kassen für öffent-
liche Dienste im Rahmen des tatsächlichen Aufwandes“,

– „steuerfreie Einnahmen aus einer nebenberuflichen Tätigkeit nach § 3 Nr. 26
EStG (z. B. Übungsleiterpauschalen, Ausbilder, Erzieher, Betreuer) bzw.
Einnahmen aus nebenberuflicher Tätigkeit im gemeinnützigen, mildtätigen
oder kirchlichen Bereich bis zur Höhe des Freibetrages nach § 3 Nr. 26a
EStG (siehe jedoch Rz. 11.38)“, sowie

– „Aufwandsentschädigungen im Rahmen sonstiger ehrenamtlicher Tätigkei-
ten (z. B. freiwillige Feuerwehr)“.

Unter Randziffer 11.38 sind keine Regelungen bezüglich der Steuerfreibeträge
festgehalten. Diese finden sich jedoch unter Randziffer 11.104 der Alg II-V.
Dort wird darauf hingewiesen, dass eine Prüfung, ob genannte „zweck-
bestimmte Einnahmen […] als Einkommen zu berücksichtigen sind, weil dane-
ben Leistungen nach dem SGB II ungerechtfertigt wären (Gerechtfertigkeits-

prüfung)“ entbehrlich ist, „wenn die Einnahmen und Zuwendungen einen
Betrag in Höhe einer halben monatlichen Regelleistung (§ 20 Abs. 2 Satz 1
SGB II) nicht übersteigen.“ Das wären aktuell 50 Prozent von 347 Euro, also
173,50 Euro pro Monat.

In der Antwort auf die Frage der Bundestagsabgeordneten Katja Kipping am
20. Dezember 2007 an die Bundesregierung (Bundestagsdrucksache 16/7639),

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wer darüber entscheidet, was die konkrete Höhe der Zuwendung sei, ab der die
Lage der Bezieherinnen und Bezieher von Leistungen nach dem SGB II so
günstig beeinflusst wird, dass daneben Leistungen der Grundsicherung für Ar-
beitsuchende nicht gerechtfertig wären, antwortet die Bundesregierung: „Die
Entscheidung ist vom Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende im Ein-
zelfall zu treffen“ (Bundestagsdrucksache 16/763, zu Frage 5).

Durch Aussagen von Bürgerinnen und Bürgern ist bekannt, dass die Träger der
Grundsicherungen bei kommunalen Mandatsträgerinnen und Mandatsträgern,
die Leistungen nach dem SGB II erhalten, die Anrechnung von Aufwandent-
schädigung vollkommen unterschiedlich vornehmen. Für Berlin wird mit
Schreiben des Senators für Inneres und Sport, Dr. Erhart Körting, an den Ge-
schäftsführer der Bundesagentur für Arbeit, Regionaldirektion Berlin-Branden-
burg, Dr. Jens Regg, vom 25. März 2008 dargelegt, dass „es sich bei der den
Mitgliedern der Bezirksverordnetenversammlungen gewährten Aufwandsent-
schädigungen insgesamt, d. h. neben den Sitzungsgeldern und der Fahrgeldent-
schädigung auch hinsichtlich der Grundentschädigung um zweckgebundene
Leistungen handelt. Diese Aufwandsentschädigungen sind daher unter den Be-
dingungen des § 11 Abs. 3 Nr. 1 SGB II anrechnungsfrei.“

Im Einkommensteuergesetz (EStG) wird u. a. nach drei unterschiedlichen
Arten von ehrenamtlichem bzw. bürgerschaftlichem Engagement bezüglich
ihrer Steuerbefreiung unterschieden:

– die „Übungsleiterpauschale“ nach § 3 Nr. 26 EStG (max. 2 100 Euro im
Jahr),

– die „Ehrenamtspauschale“ im gemeinnützigen, mildtätigen und kirchlichen
Bereich nach § 3 Nr. 26a EStG (max. 500 Euro im Jahr),

– die Steuerbefreiung nach § 3 Nr. 12 Satz 2 EStG für kommunale Mandats-
trägerinnen und Mandatsträger. Nach der Vereinfachungsregelung nach
Rz. 3.12 Abs. 3 Satz 2 der Lohnsteuer-Richtlinie (LStR) gilt für kommunale
Mandatsträgerinnen und Mandatsträgern ein Steuerfreibetrag bei Aufwands-
entschädigung in Höhe von 175 Euro monatlich bzw. 2 100 Euro jährlich.

Vor diesem Hintergrund fragen wir die Bundesregierung:

1. Teilt die Bundesregierung die Rechtsauffassung, dass steuerfreie Aufwands-
entschädigungen für ehrenamtliches bzw. bürgerschaftliches Engagement
zweckbestimmte Einnahmen sind, die einem anderen Zweck als die Leistun-
gen nach dem SGB II dienen?

Wenn nein, warum nicht, und wie begründet sie dieses rechtlich?

2. Bestätigt die Bundesregierung die Rechtsauffassung, dass Entschädigungen
von kommunalen Mandatsträgerinnen und Mandatsträgern kein Einkommen
im Sinne des § 11 SGB II und § 141 SGB III sind, da diese Einnahmen
wegen des besonderen Charakters dieser Tätigkeit nicht als Einnahmen aus
der Verwertung der Arbeitskraft gelten?

Wenn nein, warum nicht?

3. Wenn ja, bestätigt die Bundesregierung, dass diese Aussage auch bezüglich
der anderen Formen des ehrenamtlichen bzw. bürgerschaftlichen Engage-
ments, z. B. im gemeinnützigen Bereich zutreffend wäre?

4. Stimmt die Bundesregierung folgender Aussage zu: „Wer sich freiwillig en-
gagiert, will dafür Anerkennung bekommen, erwartet Versicherungsschutz,
Beratung und Fortbildung. Bürgerschaftliches Engagement braucht gute
Rahmenbedingungen“ (Internetauftritt des Bundesministeriums für Familie,

Senioren, Frauen und Jugend)?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/9135

Wenn ja, kann hieraus auch abgeleitet werden, dass sämtliche Entschä-
digungen für ehrenamtliches und bürgerschaftliches Engagement keinen
finanziellen Anreiz zur Übernahme eines öffentlichen Ehrenamtes darstel-
len sollen, sondern vielmehr die Aufwandsentschädigung als Anerkennung
und dem pauschalen Ausgleich der besonderen persönlichen und säch-
lichen Aufwendungen dient, die bei der Wahrnehmung der vielfältigen
ehrenamtlichen und bürgerschaftlichen Aufgaben entstehen?

5. Ist es richtig, dass alle Träger der Grundsicherung im Einzelfall prüfen, ob
Einnahmen der Bezieherinnen und Beziehern von Leistungen nach dem
SGB II aus den oben genannten drei Bereichen des ehrenamtlichen bzw.
bürgerschaftlichen Engagements, die den oben genannten Betrag von
173, 50 Euro monatlich übersteigen, anrechnungsfrei bleiben?

6. Wie werden nach Auffassung der Bundesregierung der Gleichbehand-
lungsgrundsatz und der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung
erfüllt, wenn die Zuständigkeit bei den einzelnen Trägern der Grundsiche-
rung für die Gewährung anrechnungsfreier Einnahmen gemäß § 1 Abs. 1
Nr. 2 Alg II-V bezogen auf die Einzelfallprüfung der Träger über die Ge-
währung als anrechnungsfreie Einnahme, die über den genannten Betrag
von 173,50 Euro hinausgehen, liegt?

7. Wie erfolgt die Einzelfallprüfung konkret?

8. Gibt es unterschiedliche Formen der Einzelfallprüfung hinsichtlich der An-
rechnungspraxis von Mehraufwandsentschädigungen für ehrenamtliches
bzw. bürgerschaftliches Engagement in oben genannten unterschiedlichen
Bereichen?

9. Welche verbindlichen Regelungen und Kriterien bestehen, nach denen
über die Anrechnungsfreiheit im Einzelfall entschieden wird?

Wo sind diese festgeschrieben?

10. Wie erklärt die Bundsregierung den Unterschied zwischen den oben
genannten monatlichen Steuerfreibeträgen und den anrechnungsfreien
monatlichen Einnahmen gemäß Alg II-V für ehrenamtliches bzw. bürger-
schaftliches Engagement?

11. Wie begründet die Bundesregierung den Umstand, dass im Steuerrecht
unterschiedliche jährliche Steuerbefreiungen für Aufwandsentschädigungen
bei Übungsleiterinnen und Übungsleitern (Übungsleiterpauschale) bzw.
kommunalen Mandatsträgerinnen und Mandatsträgern und bei bürger-
schaftlich Engagierten im gemeinnützigen Bereich (Ehrenamtspauschale)
gelten?

12. Bestätigt die Bundesregierung die Auffassung, dass eine Übungsleiterin/
ein Übungsleiter oder eine kommunale Mandatsträgerin/kommunaler
Mandatsträger, die/der Leistungen nach dem SGB II bezieht, bis zu 2 100
Euro jährlich (bei monatlich 173,50 Euro) und eine SGB-II-Leistungen-
Beziehende, die im gemeinnützigen Bereich engagiert ist, nur 500 Euro
Aufwandsentschädigung jährlich (bei monatlich 173,50 Euro) ohne wei-
tere Einzelfallprüfung anrechnungsfrei hinsichtlich der SGB-II-Leistung
zugestanden bekommen sollte?

Wenn ja, wie begründet sie diese Auffassung?

13. Wie bewertet die Bundesregierung den Umstand, dass für kommunale
Mandatsträgerinnen und Mandatsträger (z. B. in Berlin) die gesamte
monatliche Aufwandsentschädigung als anrechnungsfrei bezüglich der
Leistungen nach dem SGB II gelten – ohne Obergrenze bezüglich Jahr und

Monat und ohne Einzelfallprüfung?

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14. Welche Abstimmungen wurden hierzu in den Jahren 2004/2005 zwischen
dem Land Berlin und dem Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit
getroffen?

15. Sind seit dem weitere oder neue Abstimmungen und Verabredungen zwi-
schen dem Land Berlin bzw. weiteren Ländern und dem Bundesministe-
rium für Wirtschaft und Arbeit bzw. Bundesministerium für Arbeit und
Soziales getroffen worden?

16. Wie bewertet die Bundesregierung die Auffassung, dass es zur Stärkung
des Ehrenamtes und Bürgerengagements gerechtfertigt wäre, analog der
getroffenen Entscheidung mit dem Land Berlin, auch bei anderen Formen
des ehrenamtlichen bzw. bürgerschaftlichen Engagements die Anrechnung
der Aufwandsentschädigung auf die Leistungen nach dem SGB II vollum-
fänglich aufzuheben?

17. Ist der Bundesregierung bekannt, dass die Anrechnung von Aufwandsent-
schädigungen für kommunale Mandatsträgerinnen und Mandatsträger un-
terschiedlich bei den Trägern der Grundsicherung gehandhabt wird?

Wenn ja, welche unterschiedlichen Praktiken bezüglich der Anrechnung
sind der Bundesregierung bekannt, wie bewertet sie diese Tatsache und
welche Maßnahmen gedenkt sie zur Abhilfe einzuleiten?

18. Ist eine Vereinheitlichung oder Neugestaltung des Aufwendungsentschädi-
gungskatalogs im Steuerrecht und der entsprechenden Anrechnungsregeln
in der Alg II-V geplant?

Berlin, den 6. Mai 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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