BT-Drucksache 16/8887

Entwicklung in Afghanistan - Strategien für eine wirkungsvolle Aufbauarbeit kohärent umsetzen

Vom 23. April 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/8887
16. Wahlperiode 23. 04. 2008

Antrag
der Abgeordneten Ute Koczy, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln),
Alexander Bonde, Dr. Uschi Eid, Kai Gehring, Thilo Hoppe, Kerstin Müller (Köln),
Winfried Nachtwei, Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg), Rainder
Steenblock, Jürgen Trittin, Josef Philip Winkler und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Entwicklung in Afghanistan – Strategien für eine wirkungsvolle Aufbauarbeit
kohärent umsetzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Sechs Jahre nach der Petersberg-Konferenz fällt die Bilanz gemischt aus. Es gibt
Fortschritte und positive Entwicklungen in Afghanistan. Dennoch ist die Sicher-
heitslage prekär. In der Realität sehen sich die Menschen im Land erneut von
den Taliban, von Warlords und anderen kriminellen Akteuren bedroht. Von einer
Verbesserung der Lebenssituation für die breite Bevölkerung in allen Teilen des
Landes ist Afghanistan noch weit entfernt. Während im Nordosten des Landes
die zivilen Aufbaubemühungen Früchte tragen und eine breite Unterstützung
durch die Bevölkerung erhalten (Studie Internationale Akteure in Afghanistan
der FU Berlin, Februar 2008), fällt die Bilanz im Rest des Landes – speziell im
Südosten – wenig positiv aus.

Die Debatte über militärische Kapazitäten, Aufstandsbekämpfung und Mandats-
grenzen überschattet dabei völlig die notwendige Diskussion über die Strategie
beim zivilen Aufbau. Dabei heißt es im Afghanistankonzept der Bundesregie-
rung vom 7. September 2007: „Für die Bundesregierung bleiben weiterhin der
zivile Wiederaufbau und die Entwicklung im Zentrum ihres Engagements.“ In
Wirklichkeit liegt bisher das Schwergewicht der Anstrengungen – aber auch des
öffentlichen Diskurses – auf der militärischen Seite des Einsatzes.

Die Prioritäten der internationalen Afghanistanpolitik sind nach wie vor falsch
gesetzt. Damit die Menschen in allen Landesteilen stärker vom internationalen
Engagement profitieren, ist ein Wechsel weg von der militärischen Dominanz
hin zu einer massiven Stärkung der zivilen Aufbau- und Friedensarbeit erforder-
lich. Die entwicklungspolitischen Möglichkeiten und Leistungen, deren Auftrag
und Ziele, müssen endlich in den Vordergrund gestellt werden. Die entwick-

lungspolitische Aufbauarbeit muss dabei massiv ausgebaut und den aktuellen
Herausforderungen angepasst werden. Die internationale Staatengemeinschaft
ist aufgerufen, jetzt mit Realismus eine neue entwicklungspolitische Strategie zu
bestimmen. Ohne eine kohärente, transparente und langfristige Strategie kann
der Aufbau nicht erfolgreich sein.

Drucksache 16/8887 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. den Beitrag für die zivile Aufbauarbeit sofort auf mindestens 200 Mio. Euro
anzuheben;

2. sich bei den anderen EU-Mitgliedstaaten dafür einzusetzen, dass diese
ebenfalls ihre Zahlungen deutlich erhöhen;

3. eine klare Priorität für Aufbau und Entwicklung in Afghanistan zu definie-
ren und die notwendigen zivilen Maßnahmen mit höchster Dringlichkeit
umzusetzen. Die Prämisse „Zivil vor Militär“ muss mit entwicklungs-
politischen Taten Realität werden;

4. wesentlich mehr Personal für die entwicklungspolitischen Aufgaben einzu-
setzen sowie die Qualität der Rekrutierung, der Ausbildung und der Einsatz-
bedingungen vor Ort massiv zu verbessern;

5. die Qualität der entwicklungspolitischen Aufbauarbeit kritisch zu hinter-
fragen und bis Ende des Jahres dem Deutschen Bundestag eine Evaluierung
der deutschen Entwicklungszusammenarbeit sowie der deutschen PRTs
(Provincial Reconstruction Teams – PRT) vorzulegen;

6. einen Stufenplan mit klaren Etappenzielen für die deutsche Aufbauarbeit
vorzulegen, an denen Fortschritte des zivilen Aufbaus messbar sind und die
sich in eine realitätsnahe Zeitperspektive einfügen;

7. dem Deutschen Bundestag einen jährlichen Bericht über die Verwendung
der entwicklungspolitischen Mittel vorzulegen;

8. dazu beizutragen, den Aufbau von Verwaltung, Justiz und Polizei konzep-
tionell stärker aufeinander abzustimmen und finanziell beschleunigt voran-
zutreiben;

9. das Konzept der afghanischen Eigenverantwortung (ownership) massiv zu
fördern und sehr viel stärker darauf hinzuwirken, dass eine in Abstimmung
mit und unter Beteiligung der afghanischen Bevölkerung orientierte Auf-
bauarbeit oberste Priorität erhält und positive Erfahrungen, wie z. B. bei der
Zusammenarbeit im Rahmen der Provincial Development Funds zu ver-
stärken;

10. darauf hinzuwirken, dass Gelder verstärkt über die afghanische Regierung
umgesetzt werden können und deren Verwendung durch den dafür notwen-
digen Aufbau effizienter Institutionen (capacity building) systematisch be-
gleitet wird; verstärkt auch in den Provinzen des Südens und Südostens zi-
vile Aufbauarbeit zu betreiben und Anfragen nach konkreten Projekten in
Rücksprache mit der Bevölkerung vor Ort und in Absprache mit den Nicht-
regierungsorganisationen zu fördern;

11. Alphabetisierungsprogramme und den Bereich der Grundbildung mit noch
mehr Mitteln auszustatten sowie die Qualifizierung des afghanischen Perso-
nals an Schulen sowie Universitäten voranzutreiben, um den vorhandenen
Mangel an Fähigkeiten und Qualifizierung beschleunigt zu überwinden;

12. den deutsch-afghanischen Wissenschaftsaustausch zu fördern und die Sti-
pendienvergabe für Studierende und Wissenschaftler zu erhöhen;

13. bei der Programmierung von Projekten die Ansätze von sogenannten Quick
Impact gegenüber denen des Langzeitengagements für die jeweilige Aufga-
benstellung zu nutzen, um effektiv und rasch auf Kritik oder Veränderungen
zu reagieren;

14. Ansätze zur lokalen Friedensförderung und die Erarbeitung einer nationalen
Strategie zur lokalen Friedensförderung zu unterstützen und zusätzliche

Mittel für den Aufbau der dafür notwendigen Kapazitäten bereitzustellen;

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/8887

15. innovative Projektansätze wie zum Beispiel das Tribal Liasion Office
positiv aufzugreifen sowie politisch und finanziell zu stärken;

16. Bildungsarbeit und capacity building unter dem Aspekt der Geschlechterge-
rechtigkeit zu fördern und in der Entwicklungszusammenarbeit weiterhin
gezielte sowie längerfristige Programme zu etablieren, die dieser Arbeit
Priorität einräumen;

17. Frauenrechte und Geschlechtergerechtigkeit als elementare Bestandteile für
den Aufbau einer Zivilgesellschaft und die langfristige Demokratisierung
des Landes im Sinne der UN-Resolution 1325 zu stärken;

18. entwicklungspolitische Maßnahmen in die Fläche zu tragen und Projekt-
arbeit in ländlichen Regionen dahingehend auszurichten, den Menschen
einen eigenen Erwerb von Einkommen zu ermöglichen, indem Aufträge mit
Entwicklungsmitteln regionalen Auftraggebern zu Gute kommen;

19. die Anstrengungen im wirtschaftspolitischen Bereich konzeptionell und
organisatorisch zu verstärken, Existenzgründungen voranzutreiben und
Mikrofinanzsysteme weiter zu verbreiten;

20. bei Missachtung von Menschenrechten und verfassungsrechtlichen Grund-
rechten, z. B. der Pressefreiheit, unverzüglich zu reagieren und Probleme
offen gegenüber der afghanischen Regierung anzusprechen und Lösungs-
ansätze zu suchen;

21. den Kampf gegen Korruption mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu
unterstützen, Erfahrungen wie von der Organisation Transparency Inter-
national zu nutzen und die Einrichtung einer Anti-Korruptions-Task-Force
zu prüfen;

22. auf die Drogenökonomie mit einer einheitlichen, regional differenzierten
Strategie zu reagieren und neben polizeilichen Maßnahmen vor allem die
Förderung alternativer Wirtschaftszweige zu stärken;

23. in Abstimmung mit dem UNHCR die unkoordinierte Abschiebung von
Flüchtlingen aus Pakistan und Iran zu verhindern und Mittel für Hilfsmaß-
nahmen bereitzustellen;

24. eine breite öffentliche Auseinandersetzung in Deutschland über die Krite-
rien, Interessen und Ziele der Entwicklungspolitik für Afghanistan anzu-
stoßen.

Berlin, den 23. April 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Begründung

Der Aufbau in Afghanistan braucht einen langen Atem und wird sich über Jahr-
zehnte erstrecken. Zu Beginn wurde die Situation im Land falsch eingeschätzt
und Kapazitätsfragen der Bevölkerung zu wenig berücksichtigt. Überzogene Er-
wartungen, mangelnde Einsicht in die afghanischen Strukturen, Planungen ohne
eine einheitliche Strategie der unterschiedlichen internationalen Geber und ein
Mangel an Evaluation und Controlling der Aufbauarbeit haben dazu beigetra-
gen, dass wertvolle Zeit verstrichen ist. Ziel aller Anstrengungen muss jedoch
sein, dass das afghanische Volk und seine Regierung seine Angelegenheiten

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ohne Unterstützung von außen lösen können. Dieses Prinzip muss durchgängig
als Leitlinie der internationalen Geberpolitik etabliert werden.

Viele Zielmarken in allen Bereichen der Entwicklungszusammenarbeit, die der
Afghanistan Compact bis Ende 2010 benennt, sind kaum mehr realistisch und
müssen jetzt nachgebessert werden. Es ist dringend notwendig, eine internatio-
nal kohärente und übergeordnete Strategie zu erstellen, die die Vielzahl und das
Nebeneinander in der zivilen Hilfe der unterschiedlichen Geberstaaten und
Durchführungsorganisationen evaluiert und vereinheitlicht. Trotz der Komple-
xität der von internationaler Gemeinschaft mit der afghanischen Regierung
geschaffenen Strukturen fehlt eine solche Strategie. Koordinierung setzt nicht
die Schaffung neuer Institutionen und Koordinierungsgremien voraus, wohl
aber die effektive Bündelung von Kompetenzen und Aufgaben.

Die militärische Absicherung hat gegenüber dem zivilen Aufbau eine unter-
stützende Rolle. Zwar ist eine militärische Absicherung des Aufbaus noch im-
mer notwendig – der Erfolg des Gesamtprojekts hängt aber von Fortschritten im
zivilen Bereich ab, die grundlegend für die Akzeptanz der afghanischen Bevöl-
kerung sind. Viele zivile Hilfsorganisationen beklagen, dass ihre Arbeit durch
das Militär teilweise sogar schwieriger werde, wenn ihre Unabhängigkeit in
Frage gestellt oder sogar ihre Sicherheit durch die Nähe zu den Militärs gefähr-
det werde. Die zivil-militärische Zusammenarbeit und die Gewichtung von Mit-
teln und Personal muss kritisch hinterfragt und endlich umfassend evaluiert
werden.

Ohne eine massive zivile Offensive ist der Erfolg in Afghanistan gefährdet. In
jüngster Zeit erschienene Studien warnen vor dem dauerhaften Abrutschen
Afghanistans in einen sog. failed state und eine Gefährdung der bisher erreichten
Ziele. Die hochrangig besetzte Afghanistan Study Group warnte, dass un-
koordinierte Militär- und zivile Strategien in Afghanistan die Gesamtbemü-
hungen zur Stabilisierung gefährden. Nach Angaben der Weltbank fließen der-
zeit jährlich 3 Mrd. US-Dollar an Hilfsgeldern nach Afghanistan, 2002 waren es
1,3 Mrd. US-Dollar. Ein großer Teil dieser Gelder kann aufgrund der weiterhin
schwach ausgeprägten staatlichen Strukturen und Verwaltung nicht über die
afghanische Regierung umgesetzt werden, viele Projekte werden ohne Beteili-
gung von Afghaninnen und Afghanen von ausländischen Vertragsnehmern aus-
geführt. Es ist von zentraler Bedeutung, dass der Aufbau der afghanischen
Regierung Legitimität verleiht und nicht entzieht. Infrastrukturmaßnahmen und
regionale Projekte werden immer noch ohne afghanische Arbeitskräfte und Ver-
tragsnehmer realisiert, die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung oftmals igno-
riert. Die Partizipation der Afghanen ist unverzichtbar für einen erfolgreichen
Aufbau in Afghanistan. Aufbaumaßnahmen müssen bei der Bevölkerung vor
Ort, gerade in der Fläche, direkt ankommen und die afghanische Eigenverant-
wortung stärken.

Der Schutz der afghanischen Frauen und Mädchen vor Gewalt muss beim Auf-
bau der afghanischen Gesellschaft ganz oben auf der Agenda der zivilen Frie-
densstrategie stehen. Um Frauen und Mädchen Selbstbestimmung und Teilhabe
zu ermöglichen, brauchen sie den verlässlichen Zugang zu Bildung. Der zivile
Aufbau muss durch flankierende Maßnahmen unterstützt werden. Die unkoor-
dinierte Rückkehr bzw. Abschiebung von Flüchtlingen aus Iran und Pakistan
stellen einen Unsicherheitsfaktor für Afghanistan dar, da die Aufnahmekapazi-
täten sehr begrenzt sind. Mit beiden Staaten muss zudem der Dialog seitens der
afghanischen Regierung und internationaler Partner intensiviert werden, um Un-
terstützung im Bereich Sicherheit und Entwicklung zu erzielen.

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