BT-Drucksache 16/8752

Für eine umfassende Strategie zur demokratieverträglichen und zivilgesellschaftlichen Stabilisierung Pakistans

Vom 9. April 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/8752
16. Wahlperiode 09. 04. 2008

Antrag
der Abgeordneten Jürgen Trittin, Kerstin Müller (Köln), Ute Koczy,
Winfried Nachtwei, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln),
Alexander Bonde, Dr. Uschi Eid, Kai Gehring, Thilo Hoppe, Omid Nouripour,
Claudia Roth (Augsburg), Rainder Steenblock, Josef Philip Winkler
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine umfassende Strategie zur demokratieverträglichen
und zivilgesellschaftlichen Stabilisierung Pakistans

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Entwicklung im nuklear bewaffneten Pakistan ist seit Jahren äußerst besorg-
niserregend – die Zukunft ungewiss. Die unsichere Lage, insbesondere in den
westlichen Provinzen Wasiristan und Belutchistan beeinflusst negativ die
Sicherheitslage in Afghanistan. Es ist positiv, dass sich die Lage im Kaschmir-
konflikt mit Indien entspannt hat, aber eine Lösung des Konflikts steht noch aus.
Die Gefahr eines Staatszerfalls weckt Ängste, dass Massenvernichtungswaffen
in die Hände von Extremisten fallen könnten. Eine dauerhafte Stabilisierung und
Demokratisierung Pakistans liegt im unmittelbaren Sicherheitsinteresse der
internationalen Staatengemeinschaft.

Die internationale Staatengemeinschaft, die EU und die Bundesregierung haben
bislang keine ausreichenden Bemühungen unternommen, in Pakistan eine de-
mokratieverträgliche politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung
zu fördern. Eine umfassende Pakistanstrategie fehlt. Statt auf die demokra-
tischen und zivilgesellschaftlichen Kräfte setzte der Westen in den letzten Jahren
auf die autoritäre Herrschaft von Präsident Pervez Musharraf. Entsprechend
wurden die pakistanische Armee und der Geheimdienst mit Rüstungslieferun-
gen aktiv unterstützt. Diese Strategie ist spätestens mit der Ausrufung des Not-
stands, den Manipulationen der Präsidentschaftswahlen und der Ermordung
Benazir Bhuttos gescheitert. Präsident Pervez Musharraf hat die Unterstützung
der pakistanischen Bevölkerung weitgehend verloren.

Die jüngsten Parlamentswahlen in Pakistan fanden am 18. Februar 2008 trotz
Defiziten unter überwiegend ruhigen und fairen Bedingungen statt. Präsident
Pervez Musharraf erlitt mit seiner Partei ebenso eine Wahlniederlage wie radi-
kale religiöse Parteien. Die Wahlsieger, die Pakistan Peoples Party (PPP) unter

Asif Zardari und die Pakistan Muslim League-N (PML-N) unter Nawaz Sharif
haben sich auf eine Regierungsbildung geeinigt. Ende März 2008 wurde der
neue, der PPP angehörende Premierminister Yousaf Raza Gilani vom Parlament
vereidigt. Die von Präsident Pervez Musharraf entlassenen und unter Hausarrest
gestellten Richter wurden freigelassen, konnten aber noch nicht in ihre alten
Funktionen zurückkehren. Pakistan nach den Wahlen befindet sich in einer Um-

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bruchsituation, die von einer umsichtigen internationalen Politik begleitet wer-
den muss.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. dem Bundestag baldmöglichst eine umfassende Pakistanstrategie vorzu-
legen, in der sie ihre nationalen und internationalen Maßnahmen und Bei-
träge zur Terrorismusbekämpfung, zur Stabilisierung und zur Förderung von
Demokratie, Rechtstaatlichkeit, wirtschaftlicher Stabilität und Menschen-
rechten in Pakistan darlegt;

2. mit Nachdruck vom Präsidenten Pervez Musharraf, dem neuen Premier-
minister Yousaf Raza Gilani und der neuen Regierung die Freilassung aller
noch in Haft befindlichen politischen Gefangenen, die Beachtung der Presse-
freiheit und die Achtung und Stärkung der Zivilgesellschaft zu verlangen;

3. sich für eine Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung in Pakistan und für
eine vollständige Wiedereinsetzung aller unabhängigen Richter und Justiz-
beamten einzusetzen;

4. eine von der pakistanischen Regierung angeregte Untersuchungskommission
der Vereinten Nationen im Fall der Ermordung Benazir Bhuttos zu unterstüt-
zen;

5. nach der Aussetzung von Neuzusagen für die Entwicklungszusammenarbeit
nach der Erklärung des Notstandes durch Präsident Pervez Musharraf eine
Neubewertung der bilateralen Zusammenarbeit mit der neuen Regierung vor-
zunehmen;

6. die Schwerpunkte in der Entwicklungszusammenarbeit, v. a. Grundbildung,
Basisgesundheit und erneuerbare Energien weiterzuführen und darüber hi-
naus stärker die Bereiche Förderung der unabhängigen Justiz und Presse
sowie die Rechte der Frauen in Pakistan zu unterstützen;

7. das Wettrüsten zwischen Pakistan, Indien, China und anderen Staaten der
Region nicht weiter durch deutsche Rüstungslieferungen anzuheizen;

8. darauf hinzuwirken, dass Pakistan nicht weiterhin zu einer Quelle der Weiter-
verbreitung von Massenvernichtungswaffen und deren Trägerwaffen wird,
sondern sich den internationalen Rüstungskontrollregimen anschließt.

Berlin, den 9. April 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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Begründung

Die Lage in Pakistan ist instabil. Kämpfe und opferreiche Selbstmordattentate in
und außerhalb Islamabads nehmen drastisch zu. Dies gilt besonders in der
Unruheprovinz Belutschistan und im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet,
aber auch in anderen Landesteilen. Seit dem Staatsstreich von 1999 ist Pervez
Musharraf als Präsident, bis November 2007 als oberster Militärbefehlshaber im
Amt. Seine formale Wahl im Jahre 2002 entsprach ebenso wenig demokra-
tischen Ansprüchen und der pakistanischen Verfassung wie die Wiederwahl
2007.

Am 3. November 2007 hatte Präsident Pervez Musharraf den Ausnahmezustand
ausgerufen und damit die Verfassung außer Kraft gesetzt. Dies wurde mit der
Bedrohung durch islamische Extremisten begründet. Tatsächlich folgten Mas-
senverhaftungen von politischen Oppositionellen und Menschenrechtsaktivis-
tinnen und -aktivisten sowie ein massives Vorgehen gegen die freie Presse und
Justiz. Hintergrund war die bevorstehende Entscheidung des Obersten Gerichts-
hofes, Pervez Musharrafs Wiederwahl zum Präsidenten zu annullieren, da er im
Widerspruch zur Verfassung gleichzeitig noch Oberster Befehlshaber der Streit-
kräfte war. Darauf folgte der Austausch der 37 Richter des Obersten Gerichtes,
inklusive des Obersten Richters Iftikhar Chaudhry, durch loyale Richter, die
fortan im Amt blieben. Bereits im Frühjahr hatte Pervez Musharraf den Obersten
Richter Iftikhar Chaudhry entlassen, ihn aber nach massiven Protesten wieder
einsetzen müssen. Iftikhar Chaudhry wurde Anführer einer populären Bewe-
gung von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten, Richterinnen und Richtern
für eine freie Justiz im ganzen Land. Diese Bewegung ist ebenso wie eine er-
staunliche pluralistische Presse bemerkenswert, findet aber wenig parteipoliti-
sche Resonanz und konnte bisher nur begrenzte politische Wirkung erzielen.
Nach anhaltenden internationalen Protesten gegen sein Vorgehen, welche den
Ausschluss aus dem Commonwealth umfassten, trat Pervez Musharraf am
28. November 2007 seinen Posten als Oberkommandierender der Streitkräfte an
Asfaq Pervez Kiyani ab. Der Ausnahmezustand wurde am 15. Dezember 2007
aufgehoben. Es zeigte sich, dass Druck der USA und EU durchaus Einfluss-
potential auf das Agieren der pakistanischen Regierung und des Präsidenten
Pervez Musharraf hatte.

Die für Januar 2008 vorgesehenen Parlamentswahlen wurden nach der Ermor-
dung Benazir Bhuttos bei einer Parteikundgebung am 27. Dezember 2007 auf
den 18. Februar 2008 verschoben. Sie fanden unter insgesamt relativ ruhiger
Sicherheitslage und insgesamt akzeptablen Rahmenbedingungen statt. Das
Ergebnis bedeutete einen herben Rückschlag für Pervez Musharraf. Nach der
Regierungsbildung Ende März wurden die in Haft genommenen Rechtsanwälte
und Richter, darunter der ehemalige Oberste Richter Iftikhar Chaudhry freige-
lassen. Bisher konnten sie noch nicht in ihre alten Positionen zurückkehren.

Nach dem Mord an Benazir Bhutto gab es zudem zahlreiche Spekulationen um
die Hintergründe. Pervez Musharraf beteiligte Scotland Yard, das am 8. Februar
2008 in einer Untersuchung der Todesursache die Darstellung des Tathergangs
durch die pakistanische Regierung bestätigte. Diese Untersuchung war aber nur
sehr begrenzt möglich, nach Presseberichten erfolgte keine Spurensicherung am
Tatort, Beweismittel wurden vernichtet. Eine Untersuchung der Vereinten
Nationen wäre die einzige Chance für eine wirkliche neutrale und unabhängige
Evaluierung, welche Pervez Musharraf ablehnte, aber von der neuen Regierung
verhandelt werden wird.

Die vielfach geäußerte Befürchtung, die Alternative zu Pervez Musharraf liege
in einer Machtübernahme von militanten Islamisten, hat sich mit den jüngsten
Wahlen als unzutreffend herausgestellt. Pakistan ist aber weiterhin ein Rück-

zugsgebiet für Kämpfer, die fast ungehindert über die Grenze nach Afghanistan
durchsickern und damit für die schlechte Sicherheitslage im Süden Afghanistans

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verantwortlich sind. Nach Auffassung vieler Expertinnen und Experten hat der
pakistanische Geheimdienst die Kontrolle über entscheidende militante Kräfte
in den westlichen Grenzgebieten zu Afghanistan verloren. Eine gegen die Be-
völkerung gerichtete militärische Bekämpfung ist sowohl für die pakistanischen
Militärkräfte als auch für US-Kommandotruppen aussichtslos.

Pervez Musharraf selbst ist in Pakistan zunehmend unpopulär. Es gibt in Pakis-
tan starke Partner und Kräfte, die an einer friedlichen Stabilisierung interessiert
sind. Diese gilt es gezielt zu fördern. Ansätze in der aktuellen Entwicklungs-
zusammenarbeit mit Pakistan, die den regionalen Schwerpunkt auf die Krisen-
gebiete im Westen legen, müssen ausgebaut werden. Dazu zählt auch die Unter-
stützung der unabhängigen Justiz und freien Presse als Eckpfeiler einer
zivilgesellschaftlichen Entwicklung. Eine Rückkehr des Rechtsstaates in Pakis-
tan unter der neuen Regierung würde zur Stabilität in Pakistan beitragen und so
auch ein verbessertes Vorgehen gegen extremistische Kräfte möglich machen.

Ein demokratieverträglicher zivilgesellschaftlicher Wandel braucht langen
Atem und eine aktivere zivile Unterstützung von Seiten der internationalen Staa-
tengemeinschaft.

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