BT-Drucksache 16/8501

NATO-Gipfel für Kurswechsel in Afghanistan nutzen

Vom 12. März 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/8501
16. Wahlperiode 12. 03. 2008

Antrag
der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei, Alexander Bonde, Ute Koczy,
Kerstin Müller (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Dr. Uschi Eid,
Thilo Hoppe, Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg), Rainder Steenblock,
Josef Philip Winkler und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

NATO-Gipfel für Kurswechsel in Afghanistan nutzen

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. den NATO Gipfel in Bukarest für einen erkennbaren politischen und militä-
rischen Kurswechsel in Afghanistan zu nutzen und insbesondere dafür zu
sorgen, dass der angekündigte „Umfassende Strategische Politisch-Militäri-
sche Plan“ substanzielle Korrekturen für eine zivile und politische Offensive
in Afghanistan enthält;

2. innerhalb der NATO, EU und der internationalen Staatengemeinschaft darauf
hinzuwirken, dass

● bei der Sicherheitsunterstützung der afghanischen Regierung auf allen
Ebenen die Sicherheit und das Wohlergehen der Bevölkerung und die Ver-
antwortbarkeit gegenüber den eingesetzten Sicherheitskräften im Mittel-
punkt stehen muss,

● das Nebeneinander von ISAF und OEF beendet wird und dass als ersten
Schritt die NATO von OEF die Ausbildung der Armee übernimmt,

● gemeinsam mit der afghanischen Regierung eine politische Strategie für
den Umgang mit oppositionellen und militanten Kräften entwickelt und
umgesetzt wird,

● die Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen in Afghanistan gestärkt
wird,

● die zivilen und polizeilichen Anstrengungen für die Stabilisierung Afgha-
nistans substantiell erhöht und gebündelt werden,

● die Regionalpolitik einen höheren Stellenwert erhält und die Nachbar-
länder, insbesondere Pakistan und Iran, verbindlich in die Stabilisierungs-
bemühungen einbezogen werden.
Berlin, den 12. März 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Drucksache 16/8501 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Begründung

Die internationale Staatengemeinschaft verfolgt in Afghanistan noch immer
keine einheitliche und keine kohärente Strategie. Im militärischen, polizeilichen
und im entwicklungspolitischen Bereich agieren die Akteure mit unterschied-
lichen Strategien. Der von der Bundesregierung propagierte Ansatz der „ver-
netzten Sicherheit“ wird auf der Bekenntnisebene von allen geteilt. Von den
Beteiligten wird er jedoch unterschiedlich verstanden und vor Ort sehr verschie-
denartig und militärlastig ausgestaltet. Angesichts einer geschwächten VN-Prä-
senz tritt neben den USA die NATO als zentraler Akteur und Ansprechpartner
in den Vordergrund. Dass der gegenwärtige politische und militärische Kurs
mittelfristig zum Erfolg führt, wird von vielen bezweifelt. Mehr Soldaten oder
Appelle an die Bündnissolidarität sind keine Antwort. Eine Verständigung über
die vorrangigen Ziele, Wege, Mittel und Verantwortlichkeiten muss der Diskus-
sion über eine faire Lasten- und Risikoteilung vorausgehen. Dabei gilt es das
weltweite zivile und militärische Engagement zur internationalen Friedens-
sicherung zu würdigen. Hier kann sich das deutsche Engagement, nicht zuletzt
auf Grund seines langjährigen und herausragenden Engagements auf dem Bal-
kan und in Afghanistan, sehen lassen.

Ein einheitliches Vorgehen unter dem Dach und der Verantwortung der Verein-
ten Nationen fehlt. Dies hat sich nicht zuletzt im Bereich der Sicherheitssektor-
reform negativ ausgewirkt. Hier agieren die Schlüsselpartner USA, Japan,,
Deutschland, Italien und Großbritannien weitgehend unkoordiniert nebeneinan-
der her. Dies gilt auch für die Internationale Sicherheitsunterstützung der NATO
im Auftrag der Vereinten Nationen und den Anti-Terrorkampf der USA im Rah-
men der Operation Enduring Freedom. Es gibt noch keinen Konsens darüber,
mit welchen politischen Maßnahmen afghanische Regierung und internationale
Staatengemeinschaft oppositionelle militante Kräfte zu einer Einstellung der
Kampfhandlungen bewegen wollen und wie innergesellschaftliche Konflikt-
potentiale verringert werden können. Dies ist eine der Ursachen, warum sich der
Aufbau in Afghanistan so schwierig gestaltet.

Die USA leisten finanziell, politisch und militärisch mit Abstand den größten
Beitrag in Afghanistan. Ohne US-Hilfe wird der Aufbau Afghanistans nicht
gelingen. Nicht alle Maßnahmen tragen zur Stabilsierung bei. Der Irak-Krieg
hat die Stabilisierungsbemühungen in Afghanistan fundamental geschwächt
und terroristischen Gruppen neuen Auftrieb gegeben. Das Nebeneinander von
Anti-Terrorkampf im Rahmen von OEF und Unterstützung der afghanischen
Sicherheitskräfte im Rahmen von ISAF schadet einer erfolgreichen Stabili-
sierung Afghanistans ebenso wie ein rücksichtsloses militärisches Vorgehen
unter Inkaufnahme von Opfern unter der Zivilbevölkerung und afghanischen
Sicherheitskräften. Im Polizeibereich haben die USA durch den Einsatz erheb-
licher finanzieller und personeller Ressourcen dazu beigetragen, dass afghani-
sche Polizeieinheiten zu paramilitärischen Hilfstruppen aufgebaut werden, die
bei der Aufstandsbekämpfung auch unter dem Dach von OEF eingesetzt werden
und z. T. hohe Verluste erleiden. Die deutschen und europäischen Bemühungen
um den Aufbau einer Zivilpolizei werden dadurch erschwert.

Deshalb bedarf es eines echten Strategiewechsels. Als ersten Schritt um das
Nebeneinander von OEF und ISAF in Afghanistan zu beenden sollte die NATO
die Bereitschaft erklären, die Ausbildung der afghanischen Armee, die über
weite Strecken unilateral von den USA im Rahmen von OEF gestaltet wurde,
gänzlich zu übernehmen. Der Aufbau der afghanischen Armee hat für den
Erfolg, Perspektive und Dauer des ISAF-Einsatzes eine Schlüsselbedeutung.
Deshalb muss die NATO dafür die Verantwortung übernehmen. Ohne diese
Bereitschaft dürfte es schwer werden, die USA von der Notwendigkeit eines
einheitlichen ISAF-Kommandos für ganz Afghanistan zu überzeugen.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/8501

Der NATO-Gipfel in Bukarest und die Überprüfungskonferenz zum Afghanis-
tan Compact in Paris müssen für einen politischen und militärischen Kurswech-
sel genutzt werden. Dazu gehört nicht zuletzt eine engere Verzahnung und Ko-
ordinierung beim Polizei- und Justizaufbau, der Drogenbekämpfung und der
Demobilisierung, Entwaffnung und Reintegration von ehemaligen Milizen. Hier
müssen die Vereinten Nationen und die afghanische Regierung die Federfüh-
rung übernehmen. Die Mitgliedstaaten der NATO und EU müssen unter dem
Dach der Vereinten Nationen ihre entwicklungspolitischen, zivilen und polizei-
lichen Beiträge zur Stabilisierung Afghanistans weiter erhöhen und aufeinander
abstimmen.

Der Einbeziehung der Nachbarregionen kommt dabei ebenfalls eine hohe Be-
deutung zu. Mit Pakistan müssen nach den jüngsten Wahlen gemeinsame Stra-
tegien entwickelt werden, wie extremistische Kräfte in den Stammesgebieten
isoliert werden und die Grenzen gesichert werden können. Der Dialog mit Iran,
den die Bundesregierung in ihrem Afghanistan-Konzept aufnimmt, muss im
Sinne einer Stabilisierung der westlichen Provinzen intensiviert werden.

Die NATO steht als ISAF-Führungsmacht in Afghanistan bei ihrer mit Abstand
größten Militäroperation vor einer schwierigen Herausforderung. Die Erwar-
tungshaltung einiger Staaten nach einer Aufstockung der militärischen Beiträge
und einem robusteren militärischen Vorgehen gegen aufständische und terroris-
tische Gruppen sind in vielen Mitgliedstaaten innenpolitisch nicht durchsetzbar.
Mit der verengten Diskussion über militärische Beiträge wird sich keine
erfolgreiche Befriedung des Landes erreichen lassen. Nur mit einem gemein-
samen Ansatz, bei dem der zivile entwicklungspolitische Aufbau und die politi-
sche Konfliktlösung auch auf lokaler Ebene erkennbar im Vordergrund stehen,
wird eine Stabilisierung möglich sein. Dies ist auch Voraussetzung für die erfor-
derliche Akzeptanz seitens der Menschen in Afghanistan und in den Mitglied-
staaten der NATO, insbesondere im Hinblick auf die bestehenden Beschlüsse in
Kanada und den Niederlanden.

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