BT-Drucksache 16/8143

Stand und Perspektiven des Polizeiaufbaus in Afghanistan

Vom 15. Februar 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/8143
16. Wahlperiode 15. 02. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Alexander Bonde, Jürgen Trittin, Ute Koczy,
Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller (Köln), Marieluise Beck (Bremen),
Volker Beck (Köln), Dr. Uschi Eid, Thilo Hoppe, Omid Nouripour, Claudia Roth
(Augsburg), Rainder Steenblock und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Stand und Perspektiven des Polizeiaufbaus in Afghanistan

Die Bundesregierung hat mehrfach öffentlich bekräftigt: „Die Schaffung einer
funktionierenden afghanischen Polizei gehört zu den wichtigsten Prioritäten der
Bundesregierung, der EU und der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan.“
(www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/RegionaleSchwerpunkte/
AfghanistanZentralasien/Polizeiaufbau-EUPOL.html). Und die Bundeskanzle-
rin hat bei ihrem Besuch in Afghanistan betont: „Wenn Deutschland an einer
Stelle mehr tun sollte, dann ist es jetzt erst einmal beim Polizeiaufbau“ (DER
TAGESSPIEGEL, 4. November 2007). Diesen Ankündigungen sind bis heute
keine erkennbaren Taten gefolgt. Obwohl sich die Bundesregierung als lang-
jährige Führungsnation überdurchschnittlich und auch konzeptionell beispiel-
gebend am Polizeiaufbau beteiligt hat, reichen die bisherigen Bemühungen
Deutschlands und seiner europäischen Partner bei weitem nicht aus, um den ge-
waltigen Herausforderungen wirksam begegnen zu können.

Der Aufbau einer funktionstüchtigen und effizienten ESVP-Mission (ESVP:
Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik) kommt auch sieben Monate
nach Beginn der Mission nicht angemessen voran. Am 15. Juni 2007 hat die
EU von Deutschland die Führungsverantwortung für den Polizeiaufbau in Af-
ghanistan übernommen. Bis Ende März 2008 soll unter der Leitung des neuen
deutschen Missionsleiters Jürgen Scholz die Polizeimission EUPOL Afghanis-
tan auf bis zu 195 internationale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anwachsen,
davon 160 Polizeivollzugsbeamte und 35 Kräfte aus dem administrativen Be-
reich. 25 Staaten, darunter sechs Nicht-EU-Staaten, wollen sich an dieser Mis-
sion beteiligen.

Mit der angestrebten Obergrenze und unter den gegenwärtigen Rahmen-
bedingungen ist nach Auffassung vieler Expertinnen und Experten kein flächen-
deckender und kein verantwortbarer Aufbau möglich. Bereits der bescheidene
EUPOL-Umfang deutet darauf hin, dass Deutschland und die EU nun auch im
polizeilichen Bereich die finanzielle und personelle Hauptverantwortung den
USA überlassen wollen. Die US-Administration hat eigenmächtig ein stark an
militärischen Einsätzen orientiertes Polizeikonzept entworfen und hierfür erheb-
liche Personal- und Finanzmittel bereitgestellt. Das für die Umsetzung verant-
wortliche Combined Security Transition Command – Afghanistan (CSTC – A)
ist im Rahmen der US-geführten Operation Enduring Freedom (OEF) den USA
(CENTCOM) unterstellt. In der Praxis bedeutet dies, dass das US-amerikanische
Verteidigungsministerium und private Sicherheitsunternehmen wie DynCorps
oder MPRI de facto die Führungsverantwortung für den Polizeiaufbau in Afgha-

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nistan übernommen haben. Dies gilt auch für das Mentoring höherrangiger Mit-
arbeiter und Mitarbeiterinnen der afghanischen Polizei sowie des Innenministe-
riums. Laut Presseberichten werden vor allem im Süden Afghanistans schlecht
ausgebildete Polizisten in unverantwortlicher Weise eingesetzt mit der Folge,
dass schätzungsweise Monat für Monat etwa 100 afghanische Polizisten ihr
Leben verlieren (DIE WELT, 22. Oktober 2007).

Die Bundesregierung hatte am 6. Juni 2007 beschlossen, dass Deutschland die
EUPOL-Mission mit bis zu 60 Polizisten unterstützen wird. Zusätzlich soll ein
bilaterales deutsches Polizeiprojektteam im Umfang von bis zu zehn Polizisten
erhalten bleiben, um vor allem im Norden Afghanistans Bau- und Ausstattungs-
projekte abwickeln zu können. So soll in Mazar-i-Sharif eine Ausbildungs-
akademie für den mittleren Dienst errichtet werden. Die Bundesregierung hat
beschlossen, die Mittel für den Polizeiaufbau in Afghanistan für das Jahr 2008
auf 35,7 Mio. Euro verdreifachen zu wollen. Seit April 2007 unterstützen 30
Feldjäger der Bundeswehr bilateral die Polizeiausbildung in Afghanistan.

Von Seiten des Bundesministeriums des Innern gibt es Überlegungen, Polizisten
künftig auch gegen deren Willen in Auslandseinsätze zu entsenden. Die Ge-
werkschaft der Polizei (GdP) fordert die Beibehaltung des Freiwilligkeitsprin-
zips. „Freiwillige für Afghanistan gebe es im Prinzip genug. Abgeschreckt aber
würden potentielle Ausbilder durch schablonenhaftes Beamtendenken zu Hause
und durch schlechte Vorbereitung.“ (Süddeutsche Zeitung, 31. Januar 2008).
Und „DER SPIEGEL“ (17. Dezember 2007) berichtete: „Höhere Landesbeamte
befürchten zudem nach einjährigem Auslandsaufenthalt einen Karriereknick,
denn in der Regel werden ihre Posten zu Hause für sie nicht freigehalten. ‚Man
muss schon entweder ein Idealist oder sehr dumm sein, um unter diesen Um-
ständen nach Afghanistan zu gehen‘, sagt einer der Rückkehrer.“ Nach Ansicht
der GdP muss auch die Entsendung von Polizeikräften in bewaffnete Konflikte
einem Parlamentsvorbehalt unterliegen (LEIPZIGER VOLKSZEITUNG,
8. November 2007).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie beurteilt die Bundesregierung den gegenwärtigen Ausbildungsstand
und die jeweilige qualitative und quantitative Einsatzbereitschaft der ver-
schiedenen afghanischen Polizeikräfte?

Wo sind die größten Defizite, und was wird getan, um diese zu beseitigen?

2. Trifft die AP-Meldung vom 1. Januar 2008 zu, dass 925 afghanische Polizis-
ten im Jahr 2007 in Einsätzen getötet wurden?

Wenn nein, wie viele afghanische Polizisten sind nach Kenntnis der Bundes-
regierung 2007 in Einsätzen getötet worden, und was waren die Haupt-
ursachen?

3. Wie viele internationale Polizeiberater sind derzeit insgesamt mit dem Auf-
bau der afghanischen Polizeikräfte befasst?

4. Wie viele Ausbilder und Mentoren werden im Polizei- und Justizbereich in
Afghanistan gebraucht, um die Zielsetzung des Afghanistan Compact, bis
Ende 2010 den Aufbau einer in vollem Umfang verfügbaren, professionel-
len, funktionsfähigen und ethnisch ausgewogenen Polizei zu erreichen?

5. Inwieweit hält die Bundesregierung eine Obergrenze von maximal 195
EUPOL-Kräften, davon 35 administrative Kräfte, für ausreichend, um dazu
beizutragen, dass die afghanische Zentralregierung in die Lage versetzt
wird, schnellstmöglich landesweit ein funktionierendes und rechtsstaatskon-
formes Polizei- und Justizsystem aufzubauen?

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6. Wie bewertet die Bundesregierung Vorschläge der US-Administration, den
Anteil der externen Unterstützer für den afghanischen Polizei- und Justiz-
sektor deutlich zu erhöhen?

7. a) Welche Nationen haben jeweils quantitativ und qualitativ welche Kräfte
und Fähigkeiten für die EUPOL-Mission zugesagt?

b) Wie ist der aktuelle Stand der Umsetzung (bitte aufgeschlüsselt nach
Staaten)?

c) Wo sind die Kräfte eingesetzt?

8. a) Wie sind die im Rahmen von EUPOL eingesetzten Polizeikräfte aus-
gestattet, und inwieweit trifft es zu, dass es unverändert vor allem an der
Ausstattung zur Eigensicherung der Beamten und an Unterbringungs-
möglichkeiten fehlt?

b) Wo sind die größten Ausstattungsdefizite, und was wird von Seiten der
Bundesregierung getan, um Abhilfe zu schaffen?

9. a) Mit welchen Schwierigkeiten hatte die EUPOL-Mission in der Anfangs-
phase besonders zu kämpfen?

b) Welche dieser Schwierigkeiten sind inzwischen vollständig, welche teil-
weise behoben?

c) In welchen Bereichen gibt es nach wie vor Handlungsbedarf?

10. a) Welche Zusagen haben die einzelnen EU-Partner jeweils bei den EU-
Headline-Goals im Polizei- und Justizbereich gemacht?

b) Wie viele Polizisten und wie viele Rechtsstaatsexperten sind derzeit in
welchen EU-Missionen im Einsatz bzw. für einen Einsatz vorgesehen
(bitte aufgeschlüsselt nach Ländern)?

11. Inwieweit sind die EU und die Europäische Kommission – angesichts
anderer Polizeimissionen in weiteren Staaten – mit der EUPOL-Mission in
Afghanistan strukturell überlastet?

Was wird getan, um die strukturellen Handlungsschwächen abzubauen?

12. In welchem finanziellen Umfang beteiligen sich die EU und die jeweiligen
Mitgliedstaaten bislang und künftig am Polizei- und Justizaufbau Afgha-
nistans?

13. a) In welchem personellen und finanziellen Umfang beteiligt sich die USA
derzeit bzw. künftig am Polizeiaufbau Afghanistans?

b) Wie viele Angehörige von privaten Sicherheitsfirmen, wie viele Solda-
ten und wie viele Polizisten sind von Seiten der USA am Polizeiaufbau
beteiligt?

14. Wie funktioniert angesichts des ungleichen Ressourceneinsatzes und der
unterschiedlichen Polizeiphilosophien die Abstimmung und Zusammen-
arbeit zwischen EUPOL und den für den Polizeiaufbau bereitgestellten
OEF-Kräften der USA?

15. a) Wie viele deutsche bzw. andere europäische Mentoren waren im Juni
2007 bzw. sind derzeit im afghanischen Justiz- und Innenministerium an
welchen Stellen aktiv?

b) Welche Veränderungen sind hier in nächster Zeit zu erwarten?

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16. Wie viele deutsche Polizeibeamte und wie viele Kurzzeitexperten waren
zum Zeitpunkt des Beginns der EUPOL-Mission (15. Juni 2007) und wie
viele zum 31. Januar 2008 in Afghanistan im Einsatz?

An welchen Standorten und in welchen Funktionen werden sie jeweils ein-
gesetzt?

Welchen Umfang an Polizeibeamten und Kurzzeitexperten wird Deutsch-
land bis Ende März 2008 bereitstellen?

17. Wie viele Polizeikräfte des Bundes und der jeweiligen Länder sind derzeit
in welchen Polizeimissionen eingesetzt?

18. Wie hoch ist derzeit das Bewerberaufkommen für einen freiwilligen Dienst
von Polizeibeamten der Länder und des Bundes in Afghanistan, und wie
hoch war dieses in den vergangen Jahren (bitte aufgeschlüsselt aktuell und
jährlich je nach Bund und einzelnen Bundesländern ab 2004)?

19. a) Wie viele Feldjäger der Bundeswehr sind derzeit in Afghanistan im
Polizeibereich eingesetzt?

b) Wie viele afghanische Polizisten und Polizistinnen haben diese Feld-
jäger bisher und für welche Aufgaben ausgebildet?

c) Beabsichtigt die Bundesregierung, das Engagement der Bundeswehr im
Bereich des Polizeiaufbaus auszubauen (ggf. wie) oder zu beenden (ggf.
wann und warum)?

20. a) Welchen Stand hat der Aufbau der geplanten Außenstelle der Polizei-
akademie in Mazar-i-Sharif?

b) Wie unterstützen Deutschland und die EU dies jeweils?

c) Bis wann soll die Akademie in Betrieb gehen?

21. a) Wie bewertet die Bundesregierung den begrenzten Auftrag der EUPOL-
Mission, wonach EUPOL keine Projekte zur Verbesserung der Ausstat-
tung der Polizei sowie zur Verbesserung der polizeilichen Infrastruktur
durchführt, sondern dies weiterhin durch das deutsche Polizeiprojekt-
team geleistet wird?

b) Ist aus Sicht der Bundesregierung die finanzielle Ausstattung mit
zweckgebundenen Projektmitteln ausreichend, damit EUPOL das Ziel
eines nachhaltig tragfähigen und effektiven Polizeiaufbaus in Afghanis-
tan schnellstmöglich erreichen kann?

Wenn nein, wie sollen die Defizite abgebaut werden?

22. Trifft es zu, dass das deutsche Projektteam bis Ende März 2008 aufgelöst
wird?

Wenn ja, welche Überlegungen haben zu dieser Entscheidung geführt?

Wer übernimmt die dem Projektteam zugedachten Aufgaben?

23. a) Was wird insbesondere im Verantwortungsbereich des Regionalkom-
mandos Nord getan, um bestehende Defizite im Polizei- und Justizsektor
schnellstmöglich zu beseitigen?

b) Welchen Stand hat dort der Aufbau der afghanischen Polizeikräfte?

c) Welchen konkreten Beitrag leisten dort Deutschland bzw. die EUPOL-
Mission, welchen die USA?

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24. a) Inwieweit war bzw. ist der Aufbau handlungsfähiger polizeilicher und
rechtsstaatlicher Strukturen in Afghanistan seit 2001 Gegenstand der
Beratungen der Innenministerkonferenz, und welche Vereinbarungen
wurden dabei getroffen?

b) In welchem Kräfteumfang haben sich seit 2002 die einzelnen Bundes-
länder sowie der Bund mit Stammpersonal bzw. Kurzzeitexperten am
Polizeiaufbau in Afghanistan beteiligt?

25. a) Ist die Bundesregierung und sind – nach ihrem Wissen – die Länder be-
reit und in der Lage, den Polizeiaufbau in Afghanistan mit mehr als dem
bisher veranschlagten Stammpersonal von maximal 70 Polizeibeamten
zu unterstützen?

b) Wie viele Polizeikräfte kann und wird Deutschland und insbesondere
die Bundesregierung bereitstellen, um den Anspruch, dass der Aufbau
der afghanischen Polizei zu den wichtigsten Prioritäten der Bundes-
regierung gehört, glaubhaft zu untermauern?

26. Welche Schritte wird die Bundesregierung im eigenen Zuständigkeits-
bereich wie auch gegenüber den Bundesländern ergreifen, um sicherzustel-
len, dass

a) die wünschenswerte Unterstützung der afghanischen Polizei durch deut-
sche Polizistinnen und Polizisten keine nachteiligen Auswirkungen auf
die Sicherheitslage hierzulande hat,

b) die in Afghanistan eingesetzten deutschen Polizeikräfte besser aus-
gerüstet und speziell fortgebildet werden,

c) die deutschen Polizeikräfte nur in Regionen eingesetzt werden, die –
gemessen an verbindlichen und laufend evaluierten Sicherheitsstan-
dards – militärisch möglichst befriedet sind,

d) durch die angemessene Gestaltung der – auch materiellen – Bedingungen
für den Einsatz deutscher Polizistinnen und Polizisten in Afghanistan wie
auch durch eine geeignete öffentliche wahrheitsgemäße Schilderung
dieses Einsatzes die Motivation weiterer Freiwilliger künftig gehoben
statt gesenkt wird?

27. Welche Bemühungen wird die Bundesregierung auch gegenüber den Bun-
desländern sowie ggf. der EU kurzfristig unternehmen, um entsprechend zu
helfen, auch eine rechtsstaatliche Justiz in Afghanistan beschleunigt aufzu-
bauen und um derzeitige menschenrechtswidrige Justizpraktiken, wie etwa
Folterungen, dort zu beenden?

28. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass – äquivalent zum Streit-
kräfteeinsatz – der Einsatz von bewaffneten Polizeikräften grundsätzlich
dann einem Parlamentsvorbehalt zu unterliegen hat, wenn die Gefahr be-
steht, dass diese in bewaffnete Unternehmungen verwickelt werden?

Wenn nein, wie begründet die Bundesregierung diese Auffassung?

29. Besteht nach Auffassung der Bundesregierung die Gefahr, dass deutsche
Polizeikräfte in Afghanistan in bewaffnete Unternehmungen einbezogen
werden können?

Wenn nein, warum nicht?

30. Wäre nach Auffassung der Bundesregierung die gegenwärtige Entsendung
von Feldjägern nach Afghanistan zur Ausbildung von Polizeikräften auch
ohne ISAF-Mandat zulässig?

Berlin, den 15. Februar 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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