BT-Drucksache 16/7467

Anrechnung von Sachleistungen auf die Regelleistung des SGB II bei stationärem Aufenthalt ausschließen

Vom 12. Dezember 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/7467
16. Wahlperiode 12. 12. 2007

Antrag
der Abgeordneten Katja Kipping, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, Dr. Martina Bunge,
Dr. Dagmar Enkelmann, Diana Golze, Kersten Naumann, Elke Reinke, Volker
Schneider (Saarbrücken), Dr. Ilja Seifert, Frank Spieth, Jörn Wunderlich und der
Fraktion DIE LINKE.

Anrechnung von Sachleistungen auf die Regelleistung des SGB II bei stationärem
Aufenthalt ausschließen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Trotz fehlender gesetzlicher Grundlage und häufig anderslautender Rechtspre-
chung wird in der Verwaltungspraxis Personen, die Leistungen nach dem Zwei-
ten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) beziehen, während stationärer Aufenthalte
die dort erbrachte Verpflegung von der Regelleistung abgezogen. Lediglich auf
Basis einer Vereinbarung zwischen dem Bundesministerium für Arbeit und
Soziales, der Bundesagentur für Arbeit sowie dem Deutschen Verein vom Okto-
ber 2004 werden die Grundsicherungsträger angehalten, die Regelleistung bis zu
35 Prozent der Regelleistung zu reduzieren.

Für eine Kürzung der Regelleistung während eines stationären Aufenthaltes gibt
es keine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage. Dies hat der Petitionsausschuss
des Deutschen Bundestages am 10. Oktober 2007 ausdrücklich bestätigt und die
Abstellung der Kürzung der Regelleistung bei stationärem Aufenthalt dem
Bundesministerium für Arbeit und Soziales zur Erwägung überwiesen. Der
Beschluss fiel einstimmig (hib vom 10. Oktober 2007). Am 25. Oktober 2007
hat das Plenum des Deutschen Bundestages einstimmig eine entsprechende
Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses bestätigt (Bundestagsdruck-
sache 16/6618) und damit endlich den Weg für mehr Rechtssicherheit für die
Betroffenen frei gemacht.

Ungeachtet dieser eindeutigen Sachlage hat das Bundeskabinett am 5. Dezem-
ber 2007 einen Entwurf für eine Verordnung zur Berechnung von Einkommen
sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeits-
losengeld II/Sozialgeld beschlossen, der sich in § 2 Abs. 5 über diesen ausdrück-
lich erklärten Willen des Parlaments hinwegsetzt. Nach dieser Bestimmung soll
– jenseits einer Bagatellgrenze – bereitgestellte Verpflegung als Einkommen be-
rücksichtigt und damit der Regelsatz gekürzt werden. Die Verordnung soll zum

1. Januar 2008 in Kraft treten.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. dem ausdrücklichen Willen des Deutschen Bundestages zu folgen und die
Verwaltungspraxis der durchführenden Träger der Grundsicherung für
Arbeitsuchende nach dem SGB II in der Weise zu ändern, dass Verpflegung

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während eines stationären Aufenthaltes nicht zu einer Kürzung der Regelleis-
tung führt. Die Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur
Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosen-
geld II/Sozialgeld kurzfristig zu ändern;

2. die In-Kraft-Setzung des Entwurfs aufzuschieben, um die Auswirkungen der
Verordnung auf andere Personengruppen und Fallkonstellationen prüfen zu
können.

Berlin, den 11. Dezember 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

1. Der Deutsche Bundestag ist das demokratisch legitimierte Organ der Gesetz-
gebung. Der Deutsche Bundestag hat das SGB II beschlossen. Der Wille des
Gesetzgebers spielt bei der Auslegung von Gesetzen nach allen Regeln der
Jurisprudenz eine zentrale Rolle. Mit dem einstimmigen Beschluss im Peti-
tionsausschuss sowie der Bestätigung durch den Deutschen Bundestag ist
der Wille des Parlaments klar zum Ausdruck gebracht worden. Der Be-
schluss des Deutschen Bundestags bestätigt die Rechtsauffassung verschie-
dener Sozialgerichte, die ebenfalls die gängige Verwaltungspraxis als rechts-
widrig bewertet haben (z. B. Sozialgericht Gotha Az.: S 26 AS 748/06; im
Ergebnis ähnlich: Sozialgericht Berlin S 103 AS 468/06). Über den Willen
des Parlaments darf sich das Kabinett nicht hinwegsetzen. Die Verordnung
zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Ein-
kommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/Sozialgeld muss daher
unverzüglich überarbeitet werden. Die örtlichen Träger der Grundsicherung
für Arbeitsuchende sind zeitnah und unmissverständlich auf die Einhaltung
der korrekten Gesetzesinterpretation zu verpflichten: Die Gewährung von
Verpflegung während eines stationären Aufenthaltes darf nicht zu einer Kür-
zung der Regelleistung nach dem SGB II führen. Dies ist in der Verordnung
zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Ein-
kommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/Sozialgeld und den
Durchführungshinweisen der Bundesagentur für Arbeit deutlich zum Aus-
druck zu bringen. Zuwiderhandlungen der örtlichen Träger müssen als
rechtswidriges Verwaltungshandeln umgehend von der Bundesagentur für
Arbeit korrigiert werden.

2. Die Argumente des Petitionsausschusses sind inhaltlich überzeugend. Es
fehlt der derzeitigen Verwaltungspraxis die gesetzliche Grundlage, die Kür-
zungen von Regelleistungen während eines stationären Aufenthaltes recht-
fertigen könnten. Eine Bezugnahme auf stationäre Aufenthalte findet sich
lediglich in dem nicht einschlägigen § 7 Abs. 4 SGB II. Eine Verordnung
kann die fehlende gesetzliche Grundlage nicht ersetzen. Das Argument, dass
die Gewährleistung von Verpflegung den bestehenden Bedarf einer und eines
Hilfebedürftigen reduzieren würde (so die Argumentation der Bundesregie-
rung in der Bundestagsdrucksache 16/1838), ignoriert die Tatsache, dass die
Regelleistungen im SGB II als pauschalisierte Leistung von den konkreten
individuellen Bedarfen abstrahiert (hib vom 10. Oktober 2007). Der § 3
Abs. 2 Satz 2 SGB II schließt ausdrücklich eine abweichende Festlegung von
Bedarfen aus. Der Leistungsträger ist daher nicht befugt, die Leistung abzu-

senken, wenn einmal ein Posten des Bedarfs nicht anfällt.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/7467

3. Am 5. Dezember 2007 ist die Verordnung vom Bundeskabinett verabschie-
det und auf der Homepage des Bundesministeriums veröffentlicht worden.
Am 1. Januar 2008 soll die Verordnung in Kraft treten. Diese kurze Frist
gestattet es den die Exekutive kontrollierenden Instanzen – insbesondere
den Fraktionen im Deutschen Bundestag – nicht, die Auswirkungen der Ver-
ordnung zu prüfen und abschließend einzuschätzen. Insbesondere die Aus-
wirkungen der Verordnung auf die ALG-II-Ansprüche von Selbstständigen
sind gründlich zu prüfen.

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