BT-Drucksache 16/687

Kettenduldungen abschaffen

Vom 16. Februar 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/687
16. Wahlperiode 16. 02. 2006

Antrag
der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Britta Haßelmann,
Monika Lazar, Jerzy Montag, Claudia Roth (Augsburg), Irmingard Schewe-Gerigk,
Hans-Christian Ströbele, Silke Stokar von Neuforn, Wolfgang Wieland
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kettenduldungen abschaffen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Anwendung des § 25 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) durch die Länder
steht nicht in Einklang mit dem Ziel des Gesetzgebers, die Kettenduldungen ab-
zuschaffen.

II. Der Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf, folgende Maßnahmen
zu treffen:

1. Die Bundesregierung sorgt gegenüber den Bundesländern bis Ende März
2006 für eine Klarstellung in den vorläufigen Anwendungshinweisen des
Bundesministeriums des Innern, die dem Ziel des Gesetzgebers entspricht.
Hierin sind insbesondere die Zumutbarkeit einer Ausreise sowie die beson-
dere Situation in Deutschland aufgewachsener Kinder und Jugendlicher zu
berücksichtigen.

2. Die Bundesregierung legt dem Deutschen Bundestag zeitnah einen Gesetz-
entwurf zur Änderung von § 25 Abs. 5 AufenthG vor, der der Intention des
Gesetzgebers gerecht wird, wenn auf dem vorgenannten Weg keine Ände-
rung der Praxis der Bundesländer zu erreichen ist.

Berlin, den 15. Februar 2006

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion
Begründung

Der ehemalige Bundesminister des Innern, Otto Schily, hatte in der Debatte zur
Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes vor dem Deutschen Bundestag er-
klärt: „Dass wir die Kettenduldungen, die mit Recht immer als besonders
schlimmer Zustand angeprangert wurden, abschaffen, ist, finde ich, ein großer
Fortschritt.“ (Plenarprotokoll 15/118 vom 1. Juli 2004, S. 10720 C).

Drucksache 16/687 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Auch der saarländische Ministerpräsident, Peter Müller, der für die CDU/CSU
die Verhandlungen im Vermittlungsausschuss geleitet hatte, erklärte im Rahmen
dieser Bundestagsdebatte: „Es ist richtig und von der Sache her auch vernünftig,
dass wir im Bereich der Kettenduldungen wesentliche Änderungen vornehmen
und den Status derjenigen, die dauerhaft oder langfristig bei uns sind, ohne dass
die Dauer des Aufenthaltes durch eigenes schuldhaftes Verhalten verursacht ist,
verbessern. Dem trägt das Gesetz Rechnung.“ (a. a. O., S. 10711 C).

Der Abgeordnete Volker Beck (Köln) beurteilte für die Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN bereits damals das diesbezügliche Vermittlungsergebnis wesent-
lich vorsichtiger. Zwar habe man die Kettenduldungen mit dem erreichten Ver-
handlungsergebnis nicht abschaffen können, aber doch „erheblich beschränken“
wollen. Jetzt – so Volker Beck (Köln) weiter – komme es darauf an, „dass alle,
die an diesem Gesetz mitgewirkt haben, verpflichtet sind, dafür zu sorgen –, dass
diese Regelung nicht durch eine bürokratische Praxis konterkariert wird.“
(a. a. O., S. 10709 A).

Genau diese befürchtete bürokratische Praxis ist nunmehr festzustellen. Die bis-
herige Anwendungspraxis des Zuwanderungsgesetzes zeigt, dass bundesweit
nur in wenigen Einzelfällen Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis
nach § 25 Abs. 5 AufenthG positiv beschieden worden sind. Lediglich in Rhein-
land-Pfalz erhielten bislang über 1 000 geduldete Personen eine Aufenthalts-
erlaubnis.

Der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Dr. Dieter Wiefelspütz, hat auf
der Tagung der Katholischen Akademie in Stuttgart-Hohenheim am 29. Januar
2006 zusammenfassend festgestellt, dass im Hinblick auf die Kettenduldungen
„,nicht einmal im Ansatz‘ das erreicht worden [sei], was der Gesetzgeber
ursprünglich geplant habe.“ (Süddeutsche Zeitung vom 30. Januar 2006).

Dabei bietet das Aufenthaltsgesetz Möglichkeiten zu einer wesentlich humani-
täreren Praxis, wenn es gemäß dem Willen des Gesetzgebers ausgelegt wird.
Denn zur Anwendung des § 25 Abs. 5 AufenthG enthalten die Gesetzesmate-
rialien folgende Hinweise:

„Durch die Anwendung der Regelung soll sichergestellt werden, dass die Praxis
der ‚Kettenduldung‘ beendet wird. (…) Kein Ausreisehindernis liegt vor, wenn
zwar eine Abschiebung nicht möglich ist, (…) eine freiwillige Ausreise jedoch
möglich und zumutbar ist. (…) Bei der Frage, ob eine Ausreisemöglichkeit be-
steht, ist auch die subjektive Möglichkeit – und damit implizit auch die Zumut-
barkeit – der Ausreise zu prüfen.“ (Bundestagsdrucksache 15/420, S. 80).

Genau diese Auffassung des Gesetzgebers ignorieren die vorläufigen Anwen-
dungshinweise des Bundesministeriums des Innern vom 22. Dezember 2004, an
denen sich die Mehrzahl der Bundesländer orientiert. Einzig die Erlasse des
rheinland-pfälzischen Innenministeriums vom 17. Dezember 2004, des Innen-
ministeriums in Mecklenburg-Vorpommern vom 27. Juli 2005 sowie in Ansät-
zen des schleswig-holsteinischen Innenministeriums vom 28. September 2005
ermöglichen eine Anwendung des § 25 Abs. 5 AufenthG, die dem o. g. Willen
des Gesetzgebers nahe kommt, nämlich die Praxis von Kettenduldungen signi-
fikant und dauerhaft einzuschränken.

Der derzeitige Gesetzesvollzug ist besonders unerträglich, da von ihm auch
zahlreiche in Deutschland aufgewachsene junge Menschen betroffen sind. In
diesen Fällen stellt sich nicht nur die Frage, ob die Ausreise unzumutbar ist, son-
dern auch, ob rechtliche Abschiebungshindernisse etwa nach der Europäischen
Menschenrechtskonvention (EMRK) bestehen, die sogar die Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AuslG erfordern können (Urteil der Gro-
ßen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 9. Okto-

ber 2003 – 48321/99 – Slivenko/Lettland; Dragan/Deutschland, NVwZ 2005,
1043 <1045>).

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/687

Wenn die Bundesregierung oder die Bundesländer nicht bereit sein sollten, den
beschriebenen Missständen unverzüglich abzuhelfen, muss der Gesetzgeber
sich des Problems umgehend annehmen. Hierüber müsste im Deutschen Bun-
destag Konsens bestehen. So legte sich der innenpolitische Sprecher der SPD-
Fraktion, Dr. Dieter Wiefelspütz, im Hinblick auf die von der Bundesregierung
im Zuge der Umsetzung von EU-Richtlinien geplante Änderung des AufenthG
dahin gehend fest, dass es „kein neues Gesetz geben werde“ ohne eine Lösung
des Problems der Kettenduldungen [bzw. einer „vernünftigen Bleiberechts-
regelung“] (Süddeutsche Zeitung vom 30. Januar 2006). In diesem Sinne er-
gänzt der vorliegende Antrag den Gesetzentwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN für die Schaffung einer gesetzlichen Altfall-Regelung (Bundes-
tagsdrucksache 16/218).

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