BT-Drucksache 16/4622

zu der zweiten Beratung des Antrags der Bundesregierung -16/4298, 16/4571- Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001), 1413 (2002), 1444 (2002), 1510 (2003), 1563 (2004), 1623 (2005) und 1707 (2006) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen

Vom 7. März 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4622
16. Wahlperiode 07. 03. 2007

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei, Kerstin Müller (Köln),
Marieluise Beck (Bremen), Alexander Bonde, Dr. Uschi Eid, Britta Haßelmann,
Thilo Hoppe, Ute Koczy, Renate Künast, Fritz Kuhn, Omid Nouripour,
Claudia Roth (Augsburg), Rainder Steenblock, Josef Philip Winkler
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der zweiten Beratung des Antrags der Bundesregierung
– Drucksachen 16/4298, 16/4571 –

Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer
Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter
Führung der NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001),
1413 (2002), 1444 (2002), 1510 (2003), 1563 (2004), 1623 (2005) und
1707 (2006) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die internationale Staatengemeinschaft hat in ihren Bemühungen um eine
Stabilisierung und den Wiederaufbau Afghanistans viel erreicht. Der 2005
mit der Eröffnung des afghanischen Parlaments abgeschlossene Petersberg-
Prozess hat die wichtigsten Institutionen und Grundlagen für das politische
System und die gesellschaftliche Entwicklung in Afghanistan geschaffen.
Allerdings sind diese neuen Fundamente noch nicht tragfähig. Trotz einzel-
ner Erfolge hat sich im vergangenen Jahr die Lage in Afghanistan insgesamt
eher verschlechtert.

Eine nach wie vor begrenzte Handlungsfähigkeit vieler afghanischer Regie-
rungsinstitutionen untergräbt die Legitimität sowohl auf Ebene der Zentral-
regierung als auch in den Provinzen. In ländlichen Regionen ist auch nach
fünf Jahren häufig noch keine Verbesserung der Lebensqualität und Basis-
versorgung zu spüren. Die Auflösung illegaler bewaffneter Gruppen kommt
ebenso schleppend voran wie der Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte.
Gravierende Defizite im Justizsektor, der öffentlichen Verwaltung und der
Polizei führen dazu, dass in vielen Gebieten die örtliche Bevölkerung – be-
sonders die Frauen – schutzlos regionalen Machthabern und regierungsfeind-
lichen Kräften, nicht zuletzt den Taliban, ausgesetzt ist. Mädchenschulen
werden abgebrannt, vermeintliche Kollaborateure ermordet und Kämpfer
zwangsrekrutiert.

Drucksache 16/4622 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Die im erheblichen Umfang in den blühenden Opiumhandel verwickelten
regierungsfeindlichen Kräfte haben 2006 ihre Übergriffe auf die Zivilbevöl-
kerung und nationale wie internationale Sicherheitskräfte deutlich verstärkt.
Dabei konnten sie hinsichtlich Führung, Logistik, Rekrutierung und Aus-
bildung nach wie vor auf den Rückzugsraum Pakistan zurückgreifen. Die
Gesamtzahl der afghanischen Todesopfer – einschließlich der getöteten Auf-
ständischen – ist mit 4 400 doppelt so hoch wie im Vorjahr und die höchste
Jahresbilanz seit Oktober 2001. Dabei nahmen vor allem die militärisch
schwer zu bekämpfenden Selbstmordanschläge und Anschläge mit improvi-
sierten Straßenbomben erheblich zu. Die ISAF-Ausweitung auf den Süden
und Osten stieß auf erheblichen Widerstand und führte zu heftigen Gefech-
ten, bei denen auch zahlreiche Zivilisten ums Leben kamen. Die meisten der
mehr als 1 000 Zivilisten sind laut Human Rights Watch bei Angriffen der
Taliban oder anderer Regierungsgegner ums Leben gekommen.

2. Der Kampf gegen gewalt- und terrorbereite Kräfte macht den Einsatz von
Polizei- und Streitkräften erforderlich. Ohne ein Mindestmaß an Sicherheit ist
der Aufbau staatlicher und zivilgesellschaftlicher Strukturen nicht möglich.
Eine Schlüsselaufgabe hat dabei die von der NATO geleitete International
Security Assistance Force (ISAF). Inzwischen sind ca. 36 000 Soldatinnen
und Soldaten aus 37 Nationen im Auftrag der Vereinten Nationen im ISAF-
Einsatz.

Die USA tragen mit 14 000 Soldatinnen und Soldaten und 12 von 25 PRTs
(Provincial Reconstruction Teams) nicht nur bei ISAF die Hauptlast. Weitere
8 000 US-Soldaten agieren im Rahmen der Operation Enduring Freedom
(OEF) in Afghanistan. Das Nebeneinander von ISAF und OEF, d. h. hinsicht-
lich Auftrag, Truppenzusammenstellung, militärischem Vorgehen und zivil-
militärischer Vernetzung höchst unterschiedlichen internationalen Militär-
allianzen im gleichen Einsatzraum, ist kontraproduktiv. Die Art und Weise
der Sicherheitsunterstützung durch ISAF und OEF muss einheitlich und Teil
der Lösung sein. Dies gilt sowohl hinsichtlich eines interkulturell sensiblen
Auftretens gegenüber der afghanischen Bevölkerung als auch hinsichtlich
der größtmöglichen Zurückhaltung und Vorsicht im Rahmen der militä-
rischen Gewaltanwendung.

Vor diesem Hintergrund sind auch Risiken und Chancen einer personal- und
kostenintensiven Bereitstellung von TORNADO-Aufklärungsflugzeugen zu
bewerten. Unstrittig ist, dass ISAF zur Erfüllung des Stabilisierungsauftrags
eine robuste militärische Komponente braucht, die Partner wechselseitig auf-
einander angewiesen sind und eine Bündnisanfrage – sofern die Kapaziäten
es erlauben – grundsätzlich positiv entschieden werden sollte. Unstrittig ist
auch, dass im unwegsamen Afghanistan Recce-Tornados zur relativ raschen
und ungefährdeten Verbesserung des Lagebilds genutzt werden können.
Allerdings sind die Aufklärungsergebnisse dual-use-fähig, d. h. sie können
sowohl zu einem u. U. kontraproduktiven Vorgehen oder zur Drogenvernich-
tung als auch zum Schutz, zur Stabilisierung oder zum Vermeiden von
Opfern eingesetzt werden. Entscheidend ist, wie die Aufklärungsergebnisse
im Rahmen der gemeinsam vereinbarten Gesamtstrategie genutzt werden.

3. Der Deutsche Bundestag nimmt zur Kenntnis, dass man sich sowohl auf Sei-
ten der US-Administration als auch der NATO darüber im Klaren ist, dass
neue Strategien erforderlich sind, die stärker politische Lösungen und eine
Forcierung des zivilen Wiederaufbaus betonen. Bislang ist ein Kurswechsel,
der dem zivilen Wiederaufbau Vorrang gibt, noch nicht zweifelsfrei erkenn-
bar.

Afghanistan braucht jetzt vor allem eine „zivile Frühjahrsoffensive“. Die an-
gekündigte zivile Mittelerhöhung der Bundesregierung von 80 Mio. Euro auf
100 Mio. Euro reicht dafür nicht. Sie gleicht nicht einmal das Missverhältnis

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/4622

zwischen zivilen und militärischen Aufwendungen aus, das durch die rund
70 Mio. zusätzlichen Euro für die Tornados entstehen würde. Die zivile und
polizeiliche Präsenz in den deutschen PRTs sind nach wie vor lückenhaft, die
Mittelzuweisung unzureichend und der Mittelabfluss überbürokratisiert.
Deutschland, das die Koordinierungsverantwortung beim Aufbau der Polizei
hat, hat in den Jahren 2002 bis 2006 insgesamt 60 Mio. Euro für den Polizei-
aufbau in Afghanistan zur Verfügung gestellt. Dies ist weniger, als ein einjäh-
riger Tornado-Einsatz kosten soll. Angesichts der riesigen Anforderungen ist
dieser Personal- und Mittelansatz völlig unzureichend. Deutschland muss
sein qualitativ hervorragendes Engagement im Polizeibereich vervielfachen.
Auch die angekündigten EU-Maßnahmen im Bereich Polizei- und Justizauf-
bau müssen ausgeweitet werden. Gleichzeitig müssen Bund und Länder da-
für sorgen, dass die Infrastruktur und die Personalreserve für internationale
Polizeieinsätze rasch ausgebaut und institutionalisiert werden. Die Bundes-
regierung sollte prüfen, ob und wie das zivile Engagement in den südöst-
lichen Provinzen Afghanistans verantwortlich ausgebaut werden kann. Auch
die Übernahme eines weiteren regionalen Wiederaufbauteams muss vorbe-
haltlos überprüft werden.

Handlungsbedarf besteht auch im Bereich der Drogenbekämpfung. Statt
einer kurzsichtigen und rücksichtlosen Vernichtung der Felder, die einseitig
zu Lasten der Bauern geht, muss die ganze Drogenökonomie in den Mittel-
punkt der Politik gerückt werden. Es bedarf realer Alternativen gerade für
ländliche Gebiete. Auch im Umgang mit Pakistan bedarf es entschiedenerer
Bemühungen, um die vom pakistanischen Hoheitsgebiet ausgehende und
zum Teil geduldete Destabilisierung durch Al-Kaida- und Taliban-Kräfte zu
beenden.

Der Deutsche Bundestag teilt die Sorge, dass das Zeitfenster für einen Stra-
tegiewechsel und einen erfolgreichen Wiederaufbauprozess nicht ewig offen-
bleibt. Deswegen muss die Umsetzung sofort und mit Nachdruck vor Ort
erfolgen. Das kriegszerrüttete Afghanistan darf nicht erneut zu Rückzugsort
und Trainingslager für internationale Terroristen werden. Deshalb unterstützt
der Deutsche Bundestag mit Nachdruck die internationalen Bemühungen um
eine Stabilisierung und den Wiederaufbau des Landes.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. den wiederholt geforderten Strategiewechsel innerhalb der ISAF zu forcieren
und damit dazu beizutragen, dass die Zivilbevölkerung das internationale En-
gagement als Sicherheitsgewinn und Schritt in die richtige Richtung erfährt,

2. verstärkt dafür einzutreten, dass das Missverhältnis zwischen zivilen und
militärischen Maßnahmen ausgeglichen wird, und gegenüber den Partnern
eine Verstärkung der zivilen Bemühungen einzufordern,

3. die deutschen personellen und finanziellen Beiträge zum Polizeiaufbau zu
vervielfachen und im Rahmen der ESVP-Polizeimission auf eine zahlen-
mäßig und qualitativ wirksame Ausbildung afghanischer Polizisten hinzu-
wirken,

4. darüber hinaus durch eine substanzielle Erhöhung der deutschen Beiträge
und Fähigkeiten zur Stärkung der afghanischen Regierungsfähigkeit und zum
Wiederaufbau beizutragen und dafür zu sorgen, dass durch rasch sichtbare
Erfolge das Vertrauen der Bevölkerung erhalten bleibt bzw. zurückgewonnen
wird,

5. sich dafür einzusetzen, dass die deutschen militärischen Beiträge im Rahmen
der ISAF-Mission zu keiner militärischen Eskalation und weiteren Entfrem-
dung der afghanischen Bevölkerung beitragen,

Drucksache 16/4622 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
6. gegenüber den anderen an ISAF sowie an der Operation Enduring Freedom
(OEF) in Afghanistan beteiligten Staaten und den afghanischen Sicherheits-
kräften darauf hinzuwirken, dass im Kampf gegen militante regierungs-
feindliche oder terroristische Kräfte das Prinzip der Verhältnismäßigkeit
und alle anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen und Konventionen ein-
gehalten werden,

7. sich dafür einzusetzen, dass die Aufgabe der Terrorbekämpfung zunehmend
an die Zentralregierung übertragen wird sowie die verbliebenen OEF-Kräfte
abgezogen bzw. der NATO-geführten ISAF unterstellt und in deren über-
arbeitete Militärstrategie integriert werden,

8. mit allem Nachdruck auf eine nichtkorrupte, leistungsfähige Regierungs-
führung zu drängen und die afghanische Regierung dabei weiterhin zu un-
terstützen,

9. vorhandene afghanische Strukturen und soziale Schlüsselgruppen stärker
einzubinden und deren Kapazität zu stärken und dabei auch die Aussichten
auf Befriedung durch regionale Verhandlungen mit Stammesführern oder
militanten Kräften zu prüfen,

10. sich gegen eine herbizidgestützte oder anbaufixierte Bekämpfung der
Opiumökonomie auszusprechen und dafür zu sorgen, dass vor allem die
hauptverantwortlichen Profiteure, deren Konten, Produktionsanlagen und
Vertriebswege in den Mittelpunkt rücken und die ertappten Täter auch straf-
rechtlich zur Rechenschaft gezogen werden,

11. verstärkt darauf hinzuwirken, dass Pakistan nicht länger als Führungs-,
Ausbildungs-, Rückzugs- und Nachschubbasis für Al-Kaida, Taliban oder
sonstige militante regierungsfeindliche Kräfte fungiert und dabei eine wirt-
schaftliche und rechtsstaatliche Entwicklung der pakistanischen Grenz-
region sowie eine Verbesserung der Situation der afghanischen Flüchtlinge
in Pakistan zu erreichen,

12. das eigene und internationale Engagement in Afghanistan selbstkritisch und
vorbehaltlos zu überprüfen und die Erkenntnisse dieses Lessons-Learned-
Prozesses dem Deutschen Bundestag im Rahmen der Unterrichtungspflich-
ten zur Kenntnis zu geben,

13. auch im Interesse der Bundeswehr und einer breitestmöglichen politischen
und gesellschaftlichen Akzeptanz bei der Entsendung bewaffneter Streit-
kräfte den engen Austausch mit dem Deutschen Bundestag zu suchen und
von Einschränkungen oder juristischen Spitzfindigkeiten zur Umgehung der
Mitwirkungsrechte des Bundestages Abstand zu nehmen.

Berlin, den 7. März 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.