BT-Drucksache 16/4442

zu der Abgabe einer Erklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat in Brüssel am 8./9. März 2007

Vom 28. Februar 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4442
16. Wahlperiode 28. 02. 2007

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Ulla Lötzer, Dr. Barbara Höll, Dr. Dietmar Bartsch, Eva Bulling-
Schröter, Dr. Diether Dehm, Werner Dreibus, Wolfgang Gehrcke, Heike Hänsel,
Hans-Kurt Hill, Dr. Hakki Keskin, Monika Knoche, Dr. Gesine Lötzsch, Kornelia
Möller, Dr. Axel Troost, Alexander Ulrich, Dr. Herbert Schui, Sabine Zimmermann,
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Abgabe einer Erklärung durch die Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat in Brüssel am 8./ 9. März 2007

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Unter dem optimistischen Titel „Ein Jahr der Umsetzung“ hat die Europäische
Kommission am 12. Dezember 2006 ihren Jahresfortschrittsbericht über Wachs-
tum und Beschäftigung sowie eine Analyse der wirtschaftspolitischen Reform-
programme der Mitgliedstaaten veröffentlicht. Dieser Bericht bildet die Grund-
lage für die wirtschafts- und sozialpolitische Bilanz auf dem Frühjahrsgipfel der
EU-Staats- und Regierungschefs am 8./9. März 2007 unter deutscher Ratspräsi-
dentschaft. Die EU-Kommission präsentiert darin die Wirtschaftspolitik des
letzten Jahres als Erfolg: Die 2005 erneuerte Lissabon-Strategie für Wachstum
und Beschäftigung zeige angeblich erste quantifizierbare Erfolge und hätte ent-
scheidend zur Verbesserung des ökonomischen Umfeldes beigetragen. Der
Wirtschaftsaufschwung solle genutzt werden, um das Reformtempo und damit
den neoliberalen Umbau Europas zu beschleunigen.

Damit ignoriert die EU-Kommission beharrlich das Scheitern ihrer Strategie:
Das Wachstum war zwischen 2000 und 2005 mit einem Durchschnitt von
1,7 Prozent äußerst gering und hat nichts an den strukturellen Problemen der
Massenarbeitslosigkeit geändert. Armut und unsichere Beschäftigungsverhält-
nisse breiten sich weiter aus und die Zerstörung der natürlichen Lebensgrund-
lagen schreitet voran. Zugleich verschärfen sich die wirtschaftlichen und sozia-
len Ungleichheiten in der EU. In den neuen Mitgliedstaaten ging ein starkes
Wirtschaftswachstum mit stagnierender, wenn nicht gar rückläufiger Beschäfti-
gung einher. Besonders Polen ist trotz hoher Wachstumsraten am dramatischsten
von Massenarbeitslosigkeit betroffen: Die Langzeitarbeitslosenquote (im Ver-
hältnis zu allen Erwerbspersonen) hält sich in Polen bei 10 Prozent, gleichzeitig
stieg die Zahl unsicherer Beschäftigungsverhältnisse in Polen von 6 Prozent

(2000) auf 25 Prozent (2005).

Die Erholung von 2006 (2,9 Prozent für die EU-27 und 2,6 Prozent für den
Euroraum) wird sich in diesem Jahr wieder abschwächen, da kein wirtschaft-
licher Impuls aus dem Ausland zu erwarten ist und sich die Mehrwertsteuer-
erhöhung in der Bundesrepublik Deutschland sowie die Zinserhöhungsrunden
der EZB negativ auf die Konjunktur auswirken werden.

Drucksache 16/4442 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Von einem nachhaltigen und beschäftigungswirksamen Wachstumspfad kann
solange nicht ausgegangen werden, wie der Aufschwung vor allem von Expor-
ten und kaum von der Binnennachfrage getragen wird. Verantwortlich dafür ist
der falsche wirtschaftspolitische Rahmen der Lissabon-Strategie: die strikten
Vorgaben der Maastricht-Kriterien und des Stabilitäts- und Wachstumspaktes
lassen keinen Spielraum für öffentliche Investitionen. Der Steuersenkungswett-
lauf entzieht den Staaten notwendige Mittel, um konjunkturell gegensteuern zu
können. Die falsche, auf Preisstabilität fixierte Geldpolitik der EZB weist jede
Verantwortung für Nachhaltigkeit und Beschäftigung zurück. Insbesondere
Schweden, das sich gegen einen Beitritt zum Euroraum und dessen restriktiven,
wirtschaftspolitischen Korsett entschieden hat, weist angemessene Lohnsteige-
rungsraten, höhere Wachstumsraten und vor allem niedrigere Arbeitslosenraten
aus. Dies ist in Schweden nicht zuletzt auf angemessene Reallohnsteigerungen
und eine antizyklische Finanzpolitik zurückzuführen, die vor allem über Inves-
titionen in Forschung und Bildung sowie in soziale Dienstleistungen sozial ge-
schützte, öffentliche Arbeitsplätze aufbauen konnte.

In der neoliberalen Strategie der EU spielen fortschrittliche Zielorientierungen
wie die ökologische Verträglichkeit des Wachstums, die Qualität von Arbeits-
plätzen, die Festigung des sozialen Zusammenhalts und die Überwindung der
Armut keine Rolle. Die nationalstaatlichen Wirtschafts- und Finanzpolitiken
werden auf die Gewährleistung von Preisstabilität und eine restriktive Haus-
haltspolitik festgelegt. Im Ergebnis fehlen die finanziellen Mittel für Sozial-,
Gesundheits-, Bildungs- und Wissenschaftspolitik, aber auch für konjunkturelle
und strukturelle wirtschaftliche Maßnahmen der öffentlichen Hand. Der Stabi-
litäts- und Wachstumspakt wurde zwar im März 2005 gelockert und erlaubt eine
flexiblere Anwendung der Defizitgrenze von 3 Prozent des BIP. Drohende oder
laufende Defizitverfahren dienen den Regierungen der Mitgliedstaaten dennoch
weiterhin als willkommene Rechtfertigung von Sozialabbau. Den neuen mittel-
und osteuropäischen Mitgliedstaaten wird mit den Maastricht-Kriterien für den
Beitritt zur Eurozone ein wirtschaftlich und sozial kontraproduktives Programm
von Ausgabenkürzungen abverlangt, das verheerende Folgen für den gesell-
schaftlichen Zusammenhalt mit sich bringen wird.

Insbesondere die bundesdeutsche Wirtschaft bleibt weiter Schlusslicht und
Bremser der ökonomischen Entwicklung in der EU. Die Kommission erwartet
für die Bundesrepublik Deutschland 2007 lediglich ein Wachstum von 1,3 Pro-
zent. Trotzdem verfolgt die Bundesregierung weiter eine einseitige Exportorien-
tierung, senkt weiter die Unternehmenssteuern, betreibt Sozialabbau und be-
fördert damit den Verfall der Reallöhne. Damit heizt die Bundesregierung den
Steuersenkungswettlauf innerhalb der EU an und betreibt Lohndumping gegen-
über den anderen Mitgliedstaaten.

In den konkreten Schwerpunktsetzungen und Empfehlungen der Kommission
ist von einer koordinierten Strategie für Wirtschaft, Umwelt und Arbeit nichts
zu finden. Stattdessen setzt sie weiter auf so genannte Strukturreformen und da-
mit auf den falschen Kurs der Entfesselung von Marktkräften, den Abbau von
Sozialleistungen und Arbeitnehmer- und Umweltschutzrechten sowie eine ein-
seitige Förderung von Unternehmen:

● Über die Einrichtung eines Europäischen Technologie-Instituts sollen ver-
stärkt private Unternehmen Einfluss auf Bildungs- und Forschungseinrich-
tungen bekommen, um damit Bildung und Forschung der ökonomischen
Logik zu unterwerfen.

● Die administrativen Belastungen für Unternehmen sollen bis 2012 um
25 Prozent gesenkt, Unternehmensgründungen zukünftig innerhalb von einer
Woche ermöglicht und die Dienstleistungsrichtlinie zügig umgesetzt werden.

Dadurch werden ein Wettlauf um die niedrigsten Standards im Umwelt-
schutz, der Beschäftigung, der Gesundheit, der Qualifikationsanforderungen

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/4442

und von Tarifabschlüssen in Gang gesetzt und die Verlagerung von Unterneh-
men in Mitgliedsstaaten mit den niedrigsten Standards begünstigt.

● Die Kommission greift weiter Kündigungsschutz- und Arbeitzeitregelungen
der Mitgliedstaaten an und will nach der Diskussion um das Grünbuch Ar-
beitsrecht bis zum Sommer 2007 eine Mitteilung vorlegen, die die angeblich
wettbewerbsfeindlichen und „starren“ Arbeitsmärkte in der EU aufbricht.

Auf dem Frühjahrsgipfel soll ein EU-Energieaktionsplan verabschiedet wer-
den. Die Vollendung des Binnenmarktes für Strom und Gas wird ebenso wenig
wie der vorgelegte Energieaktionsplan zu sinkenden Energiepreisen führen.
Die Liberalisierung fördert nicht den Wettbewerb, sondern die Herausbildung
privater, europäischer Energiemonopole. Dass die Bundesregierung gegen die
Pläne der Kommission, eine eigentumsrechtliche Entflechtung von Energie-
erzeugung und -verteilung durchzusetzen, ein Veto eingelegt hat, zeigt, dass sie
ihre Energiepolitik als Erfüllung der Interessen der vier großen Energiekon-
zerne in Deutschland versteht. Doch selbst eine eigentumsrechtliche Trennung
ginge nicht weit genug. Der Betrieb der Netzinfrastruktur für Gas und Strom
dient in erster Linie gesamtgesellschaftlichen Zielen. Grundlegende Aufgabe
ist eine möglichst sichere, bezahlbare, umweltverträgliche, verbraucherfreund-
liche und effiziente leitungsgebundene Versorgung der Allgemeinheit mit Elek-
trizität und Gas. Diese Ziele sind mit einem privatwirtschaftlichen Netzbetrieb
nicht zu erreichen. Deshalb bedarf es einer Überführung der Netze in die
öffentliche Hand.

Bei der Festlegung der Klimaschutzziele bis 2020 haben sich sowohl die EU-
Kommission als auch die Bundesrepublik Deutschland in eine Sackgasse manöv-
riert. Die Bundesregierung hat mehrfach erklärt, Deutschland werde beim Aus-
stoß von Treibhausgasen bis 2020 nur dann eine Reduktion um 40 Prozent ge-
genüber 1990 beschließen, wenn die EU insgesamt eine Reduktion von
30 Prozent vereinbare. Das hat diese aber de facto bereits ausgeschlossen: Das
Energiepaket der EU-Kommission vom 10. Januar 2007 stellt fest, dass die EU
nur dann 30 Prozent Reduktion beschließen solle, wenn sich alle Industriestaa-
ten zu diesem Ziel verpflichten. Ansonsten solle lediglich um 20 Prozent gemin-
dert werden. Die Konditionierungen aus Brüssel und Berlin machen sowohl ein
30-Prozent-Ziel der EU als auch ein 40-Prozent-Ziel Deutschlands zur Makula-
tur. Bereits jetzt steht fest, dass das Ziel einer 30-prozentigen Reduktion bezogen
auf alle Industriestaaten der Welt chancenlos ist. Niedrigere Einsparziele sind
hinter dem Rücken der Öffentlichkeit schon heute ausgekungelt. Bleiben EU
und Bundesrepublik Deutschland bei dieser Taktik, wird ein ambitionierter
Klimaschutz vorsätzlich torpediert.

Zurückzuweisen sind die Versuche, die aktuelle Klimadebatte zur Legitimie-
rung der Atomenergienutzung zu missbrauchen. Stattdessen müssen die Steige-
rung der Energieeffizienz und der Ausbau der regenerativen Energien absolute
Priorität in der Energiepolitik erhalten – vor der unwirksamen Förderung von
Scheinalternativen wie die unbeherrschbare Atomenergie, die Kernfusion oder
die Abtrennung und Verpressung von CO2 aus konventionellen Kraftwerken.

Die einseitige Orientierung der Lissabon-Strategie auf die Wettbewerbsfähigkeit
zeigt sich auch in der Initiative „Better Regulation“. Soziale und ökologische
Aspekte werden bei der Folgenabschätzung von Bürokratieabbau zweitrangig
behandelt. Abgebaut werden damit soziale und ökologische Standards. Vor die-
sem Hintergrund nennt der Generalsekretär des Europäischen Gewerkschafts-
bunds John Monks die Initiative der EU-Kommission eine „deregulierende
Übung“. Das Europäische Umweltbüro kritisiert, die Initiative „Bessere Rechts-
setzung“ werde auf die Wettbewerbsfähigkeit verengt und fordert ökologische
und soziale Aspekte gleichermaßen zu berücksichtigen.

Drucksache 16/4442 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Außenwirtschaftlich soll die Lissabon-Strategie vor allem durch das Programm
„Global Europe competing in the world“ abgestützt werden. Dieses Programm
markiert eine Hinwendung zu verschärftem Bilateralismus der EU und damit
eine neue Qualität aggressiver, entwicklungsblinder Markteroberungspolitik bei
gleichzeitiger Aufgabe von mühsam erreichten Standards innerhalb der Euro-
päischen Union. Danach sollen in weit reichenden, neuen bilateralen Freihan-
dels- und Investitionsabkommen mit Schlüsselpartnern aus Schwellen- und Ent-
wicklungsländern verbindliche Liberalisierungsvereinbarungen getroffen wer-
den, die weit über das im Rahmen der WTO erreichbare Maß hinausgehen:
Freier Marktzugang für praktisch jeden Handel mit Gütern und Dienstleistun-
gen, Durchforstung der Wirtschafts- und Regulierungssysteme in Drittländern
und in der EU nach „nicht-tarifären Handelshemmnissen“, freier Zugriff auf die
Rohstoffe anderer Länder, Liberalisierung des öffentlichen Beschaffungswesens
und der Investitionsregeln ohne jedwede soziale, industriepolitische oder ökolo-
gische Konditionalität und die verschärfte Durchsetzung von „geistigen Eigen-
tumsrechten“ für Monopolprofite der Unternehmen sind einige Elemente dieser
Strategie.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf:

Die Bundesregierung soll sich im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft für
einen grundsätzlichen Kurswechsel der Wirtschaftspolitik auf EU-Ebene einset-
zen. Ziele einer alternativen Strategie für Vollbeschäftigung und Nachhaltigkeit
sind:

1. Ökonomische Nachhaltigkeit zielt auf eine neue Art der Vollbeschäftigung,
auf den Erhalt des vorhandenen gesellschaftlichen Reichtums, auf umwelt-
und sozialgerechte Produktivitätsentwicklung und Innovationsfähigkeit, auf
wirtschaftliche Stabilität, auf die Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe
und auf eine ausgeglichene Leistungs- und Handelsbilanz.

2. Sozial-kulturelle Nachhaltigkeit beinhaltet die Überwindung von Armut und
sozialer Ausgrenzung, die Gleichstellung der Geschlechter, die Herstellung
von Verteilungsgerechtigkeit und regionaler Kohäsion, die Verwirklichung
der sozialen Grundrechte durch den gleichen Zugang aller zur Nutzung
öffentlichen Güter, die Gewährleistung sozialer Sicherheit und öffentlicher
Daseinsvorsorge sowie einen sozial-ökologischen Konsumwandel.

3. Ökologische Nachhaltigkeit erfordert es, die globale Erwärmung auf durch-
schnittlich maximal zwei Grad über dem vorindustriellem Niveau zu be-
grenzen, regionale Wirtschaftskreisläufe zu stärken, die biologische Vielfalt
zu schützen, den Energieverbrauch, Stoff- und Verkehrsströme, die Landnut-
zung sowie die Belastung der Umwelt durch Giftstoffe und Radioaktivität zu
verringern.

Verankert werden sollen diese Ziele in einem neuen „Pakt für Beschäftigung,
Nachhaltigkeit und Solidarität“, der die Lissabon-Strategie und den Stabilitäts-
und Wachstumspakt ersetzt. Dieser neue Pakt soll in verbindlichen Leitlinien
ausformuliert und in konkrete Vorgaben an die Mitgliedstaaten umgesetzt und
entsprechend der Koordinierung der Wirtschaftspolitik überwacht und sanktio-
niert werden. Der neue Pakt erfordert eine Umverteilung von oben nach unten
und mehr Demokratie auf allen Ebenen der EU.

Die Bundesregierung wird dementsprechend aufgefordert:

Wirtschafts- und Finanzpolitik

● für ein Europäisches Sofortprogramm Zukunftsinvestitionen in der Größen-

ordnung von 1 Prozent des EU-BIP mit den Schwerpunkten öffentlicher
Beschäftigung und ökologischer Strukturwandel einzutreten;

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/4442

● sich dafür einzusetzen, dass die EZB einer demokratischen Kontrolle unter-
worfen wird und dass ihre Geldpolitik neben der Preisstabilität gleichberech-
tigt an den Zielen eines hohen Beschäftigungsstandes, eines außenwirtschaft-
lichen Gleichgewichts und einer ökologisch und sozial nachhaltigen Wirt-
schaftsentwicklung orientiert ist;

● dafür zu sorgen, dass die Mitgliedstaaten den notwendigen Verschuldungs-
spielraum erhalten, um kurzfristig Störungen des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts gegensteuern zu können;

● mittelfristig dazu beizutragen, dass der Ausbau des Sozialstaates in Europa,
der zum Abbau der Arbeitslosigkeit notwendig ist, nicht über öffentliche Ver-
schuldung, sondern über eine Politik der Reichtumsumverteilung finanziert
wird und Mindestsozialleistungsquoten festgelegt werden, die dem jewei-
ligen nationalen Bruttoinlandsprodukt Rechnung tragen;

● im Rahmen der Initiative „Better Regulation“ darauf hinzuwirken, dass so-
ziale und ökologische Fragen nicht wirtschaftlichen Interessen untergeordnet
und der gesellschaftliche Nutzen einer Rechtsvorschrift als zentrales Ent-
scheidungskriterium verankert werden;

● sich im Sinne des Erhalts der Finanzierungsgrundlage des Gemeinwesens
und des ökonomischen, sozialen und fiskalischen Zusammenhalts in der
Europäischen Union auf internationaler Ebene intensiver gegen Steuerhinter-
ziehung im Umsatz- sowie gegen Steuerwettbewerb und Steuerdumping im
Unternehmensteuerbereich einzusetzen;

● zur effektiven Erfassung von Einkünften aus Kapitalvermögen im internatio-
nalen Bereich eine intensive Kooperation zwischen den Finanzbehörden der
europäischen Staaten (z. B. Informationsaustausch) vehement voranzutrei-
ben. Hierbei ist die 2005 verabschiedete EU-Richtlinie zur effektiven Be-
steuerung von Zinserträgen ein erster notwendiger Schritt, der aber durch
Quellensteuer-Regelungen für einige Mitgliedstaaten in seiner Wirksamkeit
geschmälert bleibt und durch weitere Schritte (z. B. EU-Steuern auf Devisen-
transaktionen und Wertpapierumsätze) ergänzt werden muss;

● den Risiken, die von der Übernahme und Umstrukturierung von Unterneh-
men durch Hedgefonds und Private-Equity-Gesellschaften ausgehen, durch
eine Initiative zur EU-weiten Regulierung entgegenzutreten.

Beschäftigungspolitik

● sich auf EU-Ebene vorrangig für die Zurückdrängung von prekärer Beschäf-
tigung und prekärer Selbständigkeit einzusetzen, indem alle „Anreize“ (bei
Steuern, Lohnnebenkosten, Beschäftigungszuschüssen usw.) für prekäre
Beschäftigungsverhältnisse abgeschafft werden und dabei insbesondere
Mindestanforderungen an die Ausgestaltung von Leiharbeit gesetzlich zu
verankern sind;

● Lohndumping durch geeignete Mindeststandards und Kontrollmechanismen
(z. B. durch die Einführung einer EU-Norm für Mindestlöhne in Höhe von
65 Prozent des nationalen Durchschnittslohns) wirksam zu unterbinden und
gemeinsam mit den anderen EU-Regierungen die Möglichkeiten für eine
europaweit koordinierte Mindestlohnpolitik zu prüfen. Diese Abstimmung
soll die Festlegung einheitlicher Kriterien zur Bestimmung der Höhe natio-
naler Mindestlöhne zum Ziel haben;

● Teilzeitarbeit als substanzielle, geschützte Teilzeitarbeit (15 bis 25 Wochen-
stunden) zu gestalten – für alle, die Teilzeit wollen. Voll- und Teilzeitarbeit
müssen im Hinblick auf Karrierechancen, Stundenentgelte, Sozialleistungen,

Weiterbildung usw. gleichgestellt werden. Diese Prinzipien müssen in der

Drucksache 16/4442 – 6 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Diskussion um das Grünbuch der Europäischen Kommission zum Arbeits-
recht und um die Grundsätze des Rates zur „Flexicurity“ (Flexibilität und
soziale Sicherheit) von der Bundesregierung mit Nachdruck eingebracht
werden;

● sich in der Debatte um die Revision der EU-Arbeitszeitrichtlinie für eine ver-
besserte Vereinbarkeit von Erwerbs- und Privatleben und verbesserte Mög-
lichkeiten einer lebensphasenspezifischen Arbeitszeitgestaltung (worklife-
cycle balance; z. B. tarifvertraglich und sozialversicherungsrechtlich ab-
gesicherte Sabbaticals, Aus- und Weiterbildungszeiten, Elternurlaub usw.)
einzusetzen. Die deutsche Präsidentschaft muss sich insbesondere für die
Abschaffung des Opt-outs, die exakte Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung
zu Bereitschaftszeiten und Ausgleichsruhezeiten, für eine Begrenzung der
maximalen durchschnittlichen Wochenarbeitzeit auf 40 bis 42 Stunden und
der Referenzperiode für die Messung der durchschnittlichen wöchentlichen
Arbeitszeit auf vier Monate einsetzen.

Klima- und Energiepolitik

● sich für eine bedingungslose Senkung der Treibhaugasemissionen in
Deutschland um 40 Prozent bis 2020 gegenüber 1990 zu verpflichten und
darauf hinzuwirken, dass sich die Europäische Union unabhängig von Ver-
pflichtungen anderer Industriestaaten verbindlich zu einer Minderung von
mindestens 30 Prozent bekennt;

● sich für eine Reduzierung des Energiebedarfs in der EU durch Maßnahmen
zur Effizienzsteigerung bis 2020 um 20 Prozent einzusetzen;

● sich für eine Deckung des verbleibenden Energiebedarfs bis 2020 zu 25 Pro-
zent durch erneuerbare Energien einzusetzen und für verbindliche Teilziele
von 35 Prozent im Strombereich, 20 Prozent im Kraftstoffbereich und 25 Pro-
zent im Wärme-/Kälte-Sektor;

● das europäische Rahmenforschungsprogramm dahingehend auszurichten,
dass vorrangig Maßnahmen und Technologien im Bereich Energieeffizienz,
Energieeinsparung und erneuerbare Energien gefördert werden und die
Finanzierung von Scheinalternativen unterbleibt;

● sich für einen EU-weiten Ausstieg aus der Atomenergienutzung und die Auf-
lösung des EURATOM-Vertrags einzusetzen. In einem ersten Schritt sind der
Förderzweck und die Privilegierung der Atomenergienutzung zu streichen
und die Aufgaben und finanzielle Unterstützung auf die Sicherheitsüber-
wachung, die Verhinderung der Nicht-Weiterverbreitung und die Stilllegung
der Reaktoren zu begrenzen;

● sich für eine EU-weite (Rück-)Übertragung der Energienetze in die öffent-
liche Hand einzusetzen.

Handelspolitik

● das Programm „Ein wettbewerbsfähiges Europa in einer globalen Welt“ und
die von der EU angestrebten Mandate für neue bilaterale Verhandlungen
nicht zu unterstützen und sich in der EU für eine Aufgabe dieser Strategie
einzusetzen;

● den handelspolitischen Prozess für eine demokratische Kontrolle durch Par-
lament und Öffentlichkeit zu öffnen;

● im Agrarbereich jedes Landes darin zu stärken, eigene regionale, umweltver-
trägliche Produktion und Vermarktung zu fördern, Ernährungssouveränität
herzustellen und Agrargüter zu fairen Preisen international zu handeln;

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/4442

● im Bereich des Industriegüterhandels dafür zu sorgen, dass nationale und
regionale Industrie- und Strukturpolitiken weiterhin verfolgt sowie sozial-,
umwelt- und verbraucherpolitisch notwendige nicht tarifäre Standards ent-
wickelt werden können;

● bei Dienstleistungen eine internationale Kooperation zum Schutz und Auf-
bau öffentlicher Dienstleistungen sowie zur demokratischen, sozialen und
ökologischen Gestaltung sämtlicher Dienstleistungssektoren aufzubauen;

● eine verbindliche Regulierung transnationaler Unternehmen international zu
verankern und durch wirksame nationale Politik (u. a. im Bereich der öffent-
lichen Beschaffung) abzusichern.

Berlin, den 27. Februar 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.