BT-Drucksache 16/4412

Kindertagesbetreuung für Kleinstkinder sofort ausbauen und Qualität verbessern

Vom 28. Februar 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4412
16. Wahlperiode 28. 02. 2007

Antrag
der Abgeordneten Diana Golze, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, Dr. Barbara Höll,
Katja Kipping, Dr. Gesine Lötzsch, Elke Reinke, Volker Schneider (Saarbrücken),
Dr. Ilja Seifert, Frank Spieth, Dr. Kirsten Tackmann, Jörn Wunderlich
und der Fraktion DIE LINKE.

Kindertagesbetreuung für Kleinstkinder sofort ausbauen und Qualität verbessern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Bedeutung der Kindertagesbetreuung für die Förderung von Kindern

Der Deutsche Bundestag bekennt sich zur Verantwortung von Politik und
Gesellschaft, optimale Bedingungen für das Auf- und Heranwachsen von Kin-
dern zu schaffen. Wesentlicher Bestandteil dieser Bedingungen sind Bildung,
Betreuung und Erziehung für jedes Kind. Die PISA-Studien und eine Vielzahl
wissenschaftlicher Untersuchungen haben gezeigt: Kinder profitieren von früh
einsetzenden und sozial integrierenden Fördersystemen. Diese Fördersysteme
aus- und aufzubauen, aber auch ihre Qualität sicherzustellen und stetig weiter-
zuentwickeln, ist Teil öffentlicher Verantwortung für Kinder und Familien. In
einer kinderfreundlichen Gesellschaft sind Zugang zu Bildung und Betreuung
sowie das gemeinsame Spielen und Lernen mit anderen Kindern ein wesent-
liches Element. Dies belegt auch der aktuelle UNICEF-Bericht zur Situation der
Kinder in Industrieländern, der Deutschland im internationalen Vergleich einen
allenfalls mittelmäßigen Rang attestiert.

Die bisherigen politischen Anstrengungen und Ausbauziele sind dieser Verant-
wortung nicht gerecht geworden. Die Forderung der Bundesministerin für Fami-
lie, Senioren, Frauen und Jugend Dr. Ursula von der Leyen nach einem Ausbau
von weiteren 500 000 Plätzen in der öffentlichen Kindertagesbetreuung für Kin-
der unter drei Jahren bis 2013 wird daher als neuer Anstoß in der Debatte be-
grüßt. Selbst nach Realisierung dieses Ziels bliebe die Mehrzahl der Kinder aber
weiter ohne einen Betreuungsplatz.

2. Quantität der Angebote der Kindertagesbetreuung

Das Angebot an Kindertagesbetreuungsplätzen bleibt besonders in West-
deutschland weit hinter dem Bedarf zurück. Die Situation in den ostdeutschen
Bundesländern ist u. a. aufgrund der DDR-Tradition der Ganztagsbetreuung

immer noch sehr gut, allerdings ist die Versorgungsquote für die unter 3-Jähri-
gen seit 1989 alarmierend gefallen (von 56,4 Prozent auf 37 Prozent). Die im
Tagesbetreuungsausbaugesetz von 2004 vereinbarte Zielsetzung eines Ausbaus
von 230 000 Plätzen war wenig ehrgeizig – selbst dieses Ausbauziel wird
aber nach derzeitigen Erkenntnissen nicht erreicht werden (Bundestagsdruck-
sache 16/2250). Immer offensichtlicher wird, dass der Ausbau der Betreuungs-
angebote mit einem überproportionalen Zuwachs bei der Kindertagespflege

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verbunden ist und insgesamt zu Lasten der öffentlich verantworteten Angebote
geht. Die gesamtwirtschaftliche Quote der Ausgaben für Kindertagesbetreuung
ist ungenügend und im internationalen Vergleich zu niedrig. Durch die Eltern-
beiträge finanzieren die Familien außerdem einen mit 22 Prozent im internatio-
nalen Vergleich sehr hohen Anteil der Kosten der Kindertagesbetreuung selbst.
Diese Tendenz wird durch im Bundesdurchschnitt steigende Elternbeiträge
bedauerlicherweise noch verstärkt.

3. Qualität der Kindertagesbetreuung

Die Arbeitsbedingungen und Entlohnung der Beschäftigten, ihre Qualifikation,
fachliche Betreuung durch die Jugendämter sowie kontinuierliche Weiterbil-
dung sind wesentliche Aspekte der Qualitätssteigerung im Bereich der Kinder-
tagesbetreuung und Kindertagespflege. Ein zweites entscheidendes Kriterium
für die Qualität der Kindertagesbetreuung- und -tagespflege ist die Gewährleis-
tung eines besseren Betreuungsschlüssels zwischen Kindern und Beschäftigten.
Um Kindern Bildung, Erziehung und Betreuung auf höchstem Niveau zu bieten,
müssen grundsätzlich an beide Betreuungsformen gleiche Qualitäts- und damit
auch Qualifizierungsanforderungen gestellt werden. Erzieherinnen/Erzieher und
Tagespflegepersonen benötigen fundiertes Fachwissen auf Hochschulniveau,
um eine angemessene Begleitung der Bildungsprozesse von Kindern auch unter
Einsatz neuer pädagogischer Methoden und Instrumente leisten zu können. Dies
zeigen auch die in der Regel höheren Qualifikationsniveaus von Erzieherinnen
und Erziehern in anderen europäischen Ländern und die Forderungen der EU-
Kommission zur Qualitätssicherung der frühkindlichen Betreuung. Die Arbeits-
bedingungen von Erzieherinnen und Erziehern in Kindertageseinrichtungen ste-
hen trotz hoher fachlicher und persönlicher Anforderungen an ihre Tätigkeit
unter zunehmendem Prekarisierungsdruck. Tagespflegepersonen sind in der
Regel selbständig tätig und erzielen kaum existenzsichernde Einkommen. Der
Deutsche Bundestag spricht sich gegen die Tendenzen aus, den Ausbau der
Betreuungsinfrastruktur zu Lasten der Beschäftigten zu finanzieren. Auch im
Bereich der Kleinkindpädagogik gilt: Gutes Geld für gute Arbeit!

Der weitere Ausbau der Betreuungsinfrastruktur geht bisher zu Lasten der Kin-
dergärten. Ein angemessener Anteil der Kindertageseinrichtungen im Verhältnis
zu Kindertagespflege ist auf Dauer nicht mehr sichergestellt. Zwischen Förde-
rung in einer Kindertageseinrichtung und der Kindertagespflege besteht ein
Qualitätsgefälle, welches bisher bewusst in Kauf genommen wurde. Erforder-
lich sind verbindliche Qualitätsstandards für Kindertagespflege, die weit über
die Anforderungen des Tagesbetreuungsausbaugesetzes hinausgehen, sowie die
dauerhafte Begleitung aller Tagespflegeverhältnisse durch das Jugendamt.

4. Finanzierung und föderale Zuständigkeit

Die Finanzierung einer bedarfsgerechten und hochwertigen Kinderbetreuungs-
infrastruktur ist nicht gesichert – Bund, Länder und Kommunen schieben sich
gegenseitig den schwarzen Peter zu. Die vorgesehene Entlastung der Kommu-
nen bei der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe hat nach Anga-
ben der Kommunen nicht in der geplanten Höhe stattgefunden, so dass bereits
die weitere Finanzierung des im Tagesbetreuungsausbaugesetz vereinbarten
Ausbaus der Betreuungsangebote nicht gesichert ist. Für eine weitergehende
Finanzierung bleiben bisher alle Beteiligten Finanzierungskonzepte schuldig.
Notwendig ist eine gemeinsame Anstrengung aller föderalen Ebenen, ein Inves-
titionsprogramm und ein nachhaltiges Finanzierungskonzept für den Ausbau der
Betreuungsangebote vorzulegen. Dieses Investitionsprogramm bedarf eines
deutlichen Engagements des Bundes, dessen Realisierbarkeit die Bundesregie-
rung sicherstellen muss, nötigenfalls auch durch eine entsprechende Änderung
des Grundgesetzes. Die zu erwartenden Kosten des notwendigen Investitions-

programms in den Ausbau der Infrastruktur und des Rechtsanspruchs auf Ganz-
tagsbetreuung von 0 bis 6 Jahren werden 2007 ca. 6 Mrd. Euro betragen. Die

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Beitragsfreistellung der bestehenden Infrastruktur kostet weitere ca. 2 Mrd.
Euro. Die Finanzierung dieser Investitionen ist möglich, wenn die Bundesregie-
rung einen Kurswechsel in ihrer Steuerpolitik vollzieht. Lediglich die kurzfris-
tigen Mehrkosten in den Blick zu nehmen, verstellt jedoch den Blick auf die län-
gerfristigen Vorteile des Ausbaus der Kinderbetreuungsinfrastruktur. Die positi-
ven Einnahmeeffekte von Investitionen des Staates in Bildung und Betreuung
sind wissenschaftlich nachgewiesen. In einer aktuellen Studie prognostizierte
das Institut der deutschen Wirtschaft Köln eine Rendite von 8 bis 13 Prozent
für Investitionen in frühkindliche Bildung (IW 2007). Bereits 2003 hat das
Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung die positiven Einnahmeeffekte für
Steuer- und Sozialsysteme nachgewiesen.

Neue Arbeitsplätze können unter anderem dann geschaffen werden, wenn in den
Bereichen Bildung, Betreuung und Erziehung der öffentliche Sektor gestärkt
wird. Der Ausbau der Kinderbetreuung ist Voraussetzung für die Erhöhung der
Erwerbsbeteiligung von Frauen, welche im europäischen Vergleich immer noch
viel zu niedrig ist. Die Gleichstellung von Frauen und Männern im Erwerbs-
leben zu ermöglichen, ist eine in der Verfassung verankerte Pflicht des Staates.
Internationale Erfahrungen zeigen aber auch, dass eine hohe Müttererwerbs-
tätigkeit „die beste Option zur Armutsprävention bei Eltern und Kindern ist.“
(A. Rüling, K. Kassner: Familienpolitik aus der Gleichstellungsperspektive,
Friedrich-Ebert-Stiftung, 2007, S. 75). Der Ausbau der Betreuungsangebote darf
auch nicht durch die Familien selbst finanziert werden – das widerspricht den
Grundsätzen einer sozialen Familienpolitik. Ein Verzicht auf eine Erhöhung des
Kindergeldes als Finanzierungsquelle für den Ausbau der Infrastruktur ist des-
halb abzulehnen, weil eine solche Maßnahme ausschließlich Familien mit nied-
rigem oder durchschnittlichem Einkommen treffen würde.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. unverzüglich in Zusammenarbeit mit den Ländern und Kommunen ein Kon-
zept zu entwickeln und umzusetzen, durch welches Länder und Kommunen
in die Lage versetzt werden, eine flächendeckende umfassende und gebüh-
renfreie ganztägige vorschulische Betreuung für alle Kinder anzubieten bzw.
aufzubauen. Der Rechtsanspruch ist auf alle Kinder unter drei Jahren aus-
zuweiten und bis 2010 in einen uneingeschränkten Ganztagsanspruch um-
zuwandeln. Diese Ansprüche sind als Rechte der Kinder und vom sozialen
Status der Eltern unabhängig zu gestalten;

2. unverzüglich ein Investitionsprogramm des Bundes auf den Weg zu bringen
sowie die längerfristigen Investitionen in den Ausbau der Infrastruktur für
Bildung, Betreuung und Erziehung durch ein nachhaltiges Finanzierungs-
konzept zu sichern;

3. den Qualitätsanspruch der frühkindlichen Bildung durch eine allgemeine An-
hebung der Qualifikation von Erzieherinnen und Erziehern sowie Tagespfle-
gepersonen auf Hochschulniveau zu gewährleisten;

4. darauf hinzuwirken, dass die Länder im Rahmen ihrer Qualitätsoffensive der
Kinderbetreuung verbesserte Betreuungsschlüssel zwischen Erzieherinnen
und Erziehern und Kindern gewährleisten;

5. zur Qualitätssicherung der Tagespflege eine Regelung zu schaffen, die alle
Tagespflegeleistungen, die entgeltlich, über 10 Stunden in der Woche und auf
eine gewisse Dauer angelegt erbracht werden, beim Jugendamt meldepflich-
tig macht. Die Qualität der Tagespflege ist durch das Jugendamt durch beglei-
tende Unterstützung, Vernetzungs- und Weiterbildungsangebote und regel-
mäßige Qualitätsüberprüfungen sicherzustellen;

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6. ein Konzept vorzulegen, welches Existenzsicherung und tarifgebundene Ent-
lohnung der Tagespflegepersonen als sozialversicherungspflichtige Ange-
stellte regionaler Tagespflegestellen nach skandinavischem Vorbild sicher-
stellt und mit Ländern und Kommunen schnellstmöglich den Dialog über
dessen Umsetzung zu beginnen;

7. die Arbeitsbedingungen von Erzieherinnen und Erziehern zu verbessern,
Prekarisierungstendenzen entschieden zu begegnen und sicherzustellen, dass
Erzieherinnen und Erzieher sowie Tagespflegepersonen in tariflicher Fest-
anstellung, die dem Grundsatz des gleichen Lohns für gleichwertige Arbeit
entsprechen muss, beschäftigt werden;

8. für den weiteren Ausbau der Betreuungsinfrastruktur eine verbindliche
Quote für den Anteil an Tagespflegeplätzen an der Gesamtzahl der Plätze
festzulegen, die den Anteil der Kindertagespflegeangebote wirksam be-
grenzt.

Berlin, den 27. Februar 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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