BT-Drucksache 16/4099

Anwendung des Völkerstrafgesetzbuches

Vom 17. Januar 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4099
16. Wahlperiode 17. 01. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Wolfgang Wieland, Jerzy Montag, Volker Beck (Köln), Monika
Lazar, Silke Stokar von Neuforn, Irmingard Schewe-Gerigk, Hans-Christian
Ströbele, Josef Philip Winkler und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Anwendung des Völkerstrafgesetzbuches

Das Völkerstrafgesetzbuch trat 2002 in Kraft, um Deutschlands strafrechtliche
Verantwortung in der Welt wahrzunehmen. „Bei Völkermord, Verbrechen gegen
die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen darf es künftig nirgendwo auf dieser
Welt mehr Straflosigkeit geben“, erklärte die damalige Bundesministerin der
Justiz, Dr. Herta Däubler-Gmelin, im Deutschen Bundestag. Die Einleitung von
Strafverfahren bei Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch fällt deshalb nach
einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers nicht unter das politische Op-
portunitätsprinzip. Die Ermittlungen werden von der Generalbundesanwältin
geführt. Ein Absehen von der Strafverfolgung ist nur unter engen gesetzlichen
Voraussetzungen nach Ausübung pflichtgemäßen Ermessens durch die General-
staatsanwältin möglich.

Seit 2002 ist eine Vielzahl völkerrechtlicher Verbrechen begangen worden.
Viele Überlebende, Opfer und deren Angehörige befinden sich in Deutschland.
In einem Fall erlaubte die Bundesregierung einem Tatverdächtigen, dem ehe-
maligen usbekischen Innenminister Sakirdschan Almatov, trotz Verdachts der
Begehung schwerer Menschenrechtsverstöße sowie trotz EU-Reisebeschrän-
kungen (Artikel 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2005/792/GASP des Rates
der Europäischen Union vom 14. November 2005 betreffend restriktive Maß-
nahmen gegen Usbekistan) Ende 2005 aus angeblich humanitären Gründen
nach Deutschland ein- und wieder auszureisen, ohne Berücksichtigung einer
möglichen Strafverfolgung.

Bei der Generalbundesanwältin sind nach Auskunft der Bundesregierung auf
eine schriftliche Frage des Abgeordneten Florian Toncar vom 15. September
2006 (Nummer 20 auf Bundestagsdrucksache 16/2692) insgesamt 58 Anzeigen
wegen völkerrechtlicher Verbrechen eingereicht worden. Über Ermittlungen des
Generalbundesanwalts von Amts wegen ist nichts bekannt. In keinem einzigen
Fall ist bislang eine Anklage wegen Verletzung des Völkerstrafgesetzbuches er-
hoben worden. In lediglich zwei Fällen werden Ermittlungsverfahren geführt.
Seine veröffentlichten Ablehnungsentscheidungen begründete der damalige Ge-
neralbundesanwalt Kai Nehm zumeist damit, dass er nach pflichtgemäßer Aus-

übung seines Ermessens nach § 153f der Strafprozessordnung wegen des Vor-
liegens einer reinen Auslandstat und der Aussichtslosigkeit deutscher Ermitt-
lungshandlungen von der Einleitung von Strafverfolgungsmaßnahmen absehe.

Drucksache 16/4099 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Personal- und Sachmittel wurden nach Inkrafttreten des Gesetzes
am 30. Juni 2002 bei der Bundesanwaltschaft für Ermittlungstätigkeiten
nach dem Völkerstrafgesetzbuch zusätzlich bereitgestellt?

2. Bildet die Ermittlungstätigkeit wegen Verstößen gegen das Völkerstraf-
gesetzbuch die alleinige Aufgabe einer Organisationseinheit innerhalb der
Bundesanwaltschaft?

Wenn ja, welche und wie viele Beschäftigte aufgeschlüsselt nach Dienst-
gruppen umfasst diese Einheit?

Wenn nein, wie viele Beschäftigte betreuen in Vollzeit ausschließlich Ver-
fahren wegen Verletzung des Völkerstrafgesetzbuches?

3. Wie viele neue Anzeigen sind seit der Auskunft der Bundesregierung auf die
schriftliche Frage des Abgeordneten Florian Toncar vom 15. September
2006 (Nummer 20 auf Bundestagsdrucksache 16/2692) wegen Straftaten
nach dem Völkerstrafgesetzbuch bei der Generalbundesanwältin eingereicht
worden?

4. Wie hat die Generalbundesanwältin Entscheidungen zur Nichtaufnahme von
Ermittlungen seit der letzten Auskunft der Bundesregierung begründet?

5. In wie vielen Fällen hat die Generalbundesanwältin von Amts wegen
Ermittlungsverfahren eingeleitet?

6. In wie vielen Fällen hat die Generalbundesanwältin von Amts wegen Vor-
ermittlungen geführt, ohne dass sie ein förmliches Ermittlungsverfahren ein-
geleitet hat?

7. Wenn keine oder nur wenige Fälle von Amts wegen verfolgt wurden, wie
erklärt sich die Bundesregierung die Zurückhaltung der Generalbundes-
anwältin, Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch zu verfolgen?

8. a) Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, wie die Generalbundes-
anwältin den Ermessenspielraum nach § 153f Abs. 2 der Strafprozessord-
nung bei reinen Auslandstaten ausübt?

Wenn ja, nach welchen Kriterien wird der Ermessensspielraum ausgeübt?

b) Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, wie die Generalbundes-
anwältin den Ermessensspielraum nach § 153f Abs. 2 bei Taten ausübt,
bei denen die Notwendigkeit besteht, Ermittlungen im Ausland zu führen?

Wenn ja, nach welchen Kriterien wird der Ermessenspielraum ausgeübt?

9. Soll nach Ansicht der Bundesregierung das nach § 153f Abs. 2 der Strafpro-
zessordnung eingeräumte Ermessen regelmäßig zu einem Absehen von
Strafverfolgungsmaßnahmen führen, sofern sich der Tatverdacht gegen
Nicht-Deutsche richtet, die Tat nicht gegen einen Deutschen begangen
wurde, eine Auslandstat vorliegt und der Tatverdächtige weder im Inland
aufhältig ist noch ein Aufenthalt zu erwarten ist?

Wenn nein, warum nicht?

Wenn ja, wie soll dann nach Auffassung der Bundesregierung das Ver-
sprechen der früheren Bundesministerin der Justiz, Dr. Herta Däubler-Gme-
lin, eingelöst werden, dass es in Zukunft bei Völkermord, Verbrechen gegen
die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen künftig nirgendwo mehr auf der
Welt Straflosigkeit geben wird?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/4099

10. Berücksichtigt die Generalbundesanwältin die Anwesenheit von Opfern
und sonstigen wichtigen Tatzeugen im Inland bei der Ausübung des Er-
messens in Fällen des § 153f Abs. 2 der Strafprozessordnung?

11. Wie erklärt die Bundesregierung, dass Verstöße gegen die materiellen
Strafbestimmungen der Artikel 5 ff. des Römischen Statuts des Internatio-
nalen Strafgerichtshofs (Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlich-
keit, darin eingeschlossen das Verbrechen der Folter, Kriegsverbrechen und
Aggression) in anderen europäischen Staaten wie Spanien, Frankreich,
Belgien, dem Vereinigten Königreich und den Niederlanden zu Ermitt-
lungsverfahren und Anklagen geführt haben, obwohl sich in vielen Fällen
Beschuldigte ebenfalls nicht im Zugriffsbereich der Justiz befanden?

12. Warum hat die Bundesregierung bisher in keinem Fall von Straftaten nach
dem Völkerstrafgesetzbuch von ihrem Weisungsrecht gemäß § 147 Nr. 1,
§ 146 des Gerichtsverfassungsgesetzes Gebrauch gemacht und die Gene-
ralbundesanwältin angewiesen, Ermittlungsverfahren einzuleiten bzw. eine
effektivere Verfolgung von Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch
sicherzustellen?

13. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass in Staaten, die Handlungen
legalisieren, die Straftaten nach dem deutschen VStGB sind, von einer Ver-
folgung solcher Straftaten durch solche Staaten im Sinne des § 153f Abs. 2
Nr. 4 StPO nicht ausgegangen werden kann, und dass in solchen Fällen ein
Absehen von der Verfolgung durch die deutsche Staatsanwaltschaft nicht in
Frage kommen kann?

14. Wenn ja, teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die USA mit dem
Military Commission Act 2006 Handlungen, wie z. B. Folter durch Schlaf-
entzug und ähnliche Verhörpraktiken, legalisiert hat, die nach deutschem
Recht sehr wohl Straftaten gegen das VStGB sein können?

Berlin, den 17. Januar 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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