BT-Drucksache 16/3812

Neue Kultur der Altersarbeit - Anpassung der gesetzlichen Rentenversicherung an längere Rentenlaufzeiten

Vom 13. Dezember 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/3812
16. Wahlperiode 13. 12. 2006

Antrag
der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Brigitte Pothmer, Markus Kurth,
Kerstin Andreae, Birgitt Bender, Alexander Bonde, Dr. Thea Dückert, Kai Gehring,
Anja Hajduk, Britta Haßelmann, Priska Hinz (Herborn), Elisabeth Scharfenberg,
Christine Scheel und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Neue Kultur der Altersarbeit –
Anpassung der gesetzlichen Rentenversicherung an längere Rentenlaufzeiten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die fehlende Erwerbsintegration von älteren Beschäftigten erweist sich mittler-
weile als Wachstumsbremse. Sie trägt erheblich zum Mangel an Fachkräften und
zur Finanzkrise der Sozialsysteme bei. Wesentliche Ursache ist die Tradition der
Frühverrentung, die immer noch nicht konsequent beendet worden ist. Die Bun-
desregierung hat es bisher versäumt, ein schlüssiges Konzept zur Steigerung der
Erwerbstätigenquote von älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vorzu-
legen. Darunter leidet auch die Akzeptanz der sozial- und generationenpolitisch
erforderlichen Anhebung des Renteneintrittsalters. Der Entwurf eines Gesetzes
zur Verbesserung der Beschäftigungschancen älterer Menschen – u. a. mit der
Initiative 50Plus – mit der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Franz
Müntefering, bereits bestehende Instrumente der Arbeitsmarktpolitik als neu
verkauft, ist in dieser Form nicht ausreichend, die schwierige Arbeitsmarktsitu-
ation Älterer grundlegend zu verbessern.

Die gesetzliche Rentenversicherung ist in den letzten Jahren nachhaltig refor-
miert worden. Jetzt gilt es, auf die längeren Rentenlaufzeiten der Rentnerinnen
und Rentner zu reagieren, auch um eine Stabilisierung der Beitragssätze und des
Rentenniveaus zu erreichen. Bis zum Jahr 2030 wird die durchschnittliche Le-
benserwartung von Männern und Frauen um weitere 3 Jahre steigen. Die bishe-
rige Regelaltersgrenze von 65 Jahren gilt aber bereits seit neunzig Jahren und
wurde bisher nicht an die längere Lebenserwartung und die ausgedehnte Renten-
bezugsdauer angepasst.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

● ein Konzept vorzulegen, aus dem hervorgeht, wie die Erwerbsintegration von

Älteren schrittweise verbessert wird, so dass ältere Beschäftigte, die gesund-
heitlich dazu in der Lage sind, bis 2029 tatsächlich bis 67 Jahre arbeiten kön-
nen,

● alle Regelungen abzuschaffen und neue zu vermeiden, die zur Fortsetzung
der Praxis der Frühverrentung führen,

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● gemeinsam mit der Wirtschaft alles dafür zu tun, um zukünftig eine deutlich
verbesserte Erwerbsbeteiligung von älteren Beschäftigten zu erreichen,

● die Rahmenbedingungen für Lebenslanges Lernen in Deutschland zu verbes-
sern, um die Weiterbildungsbeteiligung älterer Beschäftigter und damit auch
die Erwerbsintegration zu erhöhen,

● die gemeinsamen Anstrengungen vor allem auf ältere Beschäftigte mit gerin-
ger Qualifikation und unterbrochenen Erwerbsverläufen zu konzentrieren,

● die Tarifparteien anzuregen, die erforderlichen Änderungen der Tarif- und
Arbeitsverträge einzuleiten, um die neue Regelaltersgrenze zu verwirklichen
und tarifvertragliche Hürden für die Beschäftigung von älteren Personen zu
beseitigen,

● die schrittweise Anhebung der Regelaltersgrenze von heute 65 Jahren auf 67
Jahre bis zum Jahr 2029 einzuführen,

● in den Rentenversicherungsberichten ab 2008 alle zwei Jahre über die Er-
werbstätigenquote von Beschäftigten ab dem 55. Lebensjahr zu berichten,
eine Bewertung über den Stand der Zielerreichung vorzunehmen und ggf.
weitergehende Maßnahmen vorzuschlagen,

● die verfassungsrechtliche bedenkliche, verteilungspolitisch fragwürdige und
ungerechte Sonderregelung für eine neue abschlagsfreie Altersrente nach
45 Versicherungsjahren nicht einzuführen,

● die Regelaltersgrenze für eine abschlagsfreie Erwerbsminderungsrente wei-
terhin bei 63 Jahren zu belassen, wenn die Versicherten die gesetzlichen
Voraussetzungen erfüllen,

● darauf hinzuwirken, dass Versicherten, die eine Teilrente beziehen, eine Wei-
terbeschäftigung ermöglicht wird,

● die bisherigen gesetzlichen Regelungen, individuell flexibel in Rente gehen
zu können, auszuweiten und um weitere Varianten zu ergänzen.

Berlin, den 13. Dezember 2006

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Begründung

Die Praxis der Frühverrentung hat in den letzten Jahrzehnten zu einer massiven
Unterbeschäftigung von Älteren über 55 Jahre geführt und die Rentenlaufzeiten
erheblich verlängert. Bisher hat die Bundesregierung noch kein Konzept vorge-
legt, wie sie die Rahmenbedingungen verändern will, damit Ältere auch tatsäch-
lich bis zum 67. Lebensjahr erwerbstätig bleiben. Die bloße Modifizierung be-
reits bestehender arbeitsmarktpolitischer Instrumente durch den Gesetzentwurf,
der unter dem Label „Initiative 50Plus“ präsentiert wird, ist dafür nicht aus-
reichend. Die Ausgaben der Rentenversicherung hängen nicht allein vom Ren-
tenniveau ab. Sie hängen zu einem wesentlichen Teil auch von den Renten-
laufzeiten ab. Zwischen 1960 und 2005 erhöhte sich die Rentenbezugsdauer von
9,9 auf 17,2 Jahre. Trotz bereits bestehendem Facharbeitermangel bleiben die
Potenziale von Älteren untergenutzt.

Nach der jüngsten Bevölkerungsvorausberechnung wird die durchschnittliche

Lebenserwartung von 60-jährigen Männern und Frauen bis zum Jahr 2030 um
weitere drei Jahre gegenüber dem Jahr 2005 steigen. Bis dahin werden die Jahr-

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gänge der „Babyboomer“ das Rentenalter erreicht haben. Die heute 40- bis 54-
Jährigen umfassen rd. 19,2 Millionen Menschen und stellen heute somit rd.
23 Prozent der Bevölkerung. Trotz der kontinuierlich gestiegenen Renten-
bezugsdauer und Lebenserwartung gilt die bisherige Altersgrenze aber bereits
seit 90 Jahren. Die Erhöhung der Altersgrenze wird verhindern, dass die daraus
entstehenden Kosten allein von den Beitragszahlern zu tragen sein werden. Ein
Teil der Kosten wird auch von jenen getragen, denen die längeren Rentenlauf-
zeiten zugute kommen werden. Eine Anhebung der Regelaltersgrenze beschnei-
det nicht die Länge des Ruhestandes, sondern wird dazu führen, die weitere Aus-
dehnung der Rentenlaufzeiten zu begrenzen.

Wenn das Rentenalter erhöht wird, müssen ältere Beschäftigte die Chance erhal-
ten, bis zum Rentenalter tatsächlich arbeiten zu können. Firmen, die mehr ältere
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigen, können damit ihren Fach-
kräftemangel beheben. Dies setzt allerdings auch die Bereitschaft zu kontinuier-
licher Qualifizierung voraus. Maßnahmen zur Förderung lebenslangen Lernens
und zur Gesundheitsförderung müssen zum Selbstverständnis von Betrieben ge-
hören und die Rahmenbedingungen dafür von staatlicher Seite verbessert wer-
den.

Da die meisten Arbeits- und Tarifverträge eine andere Regelaltersgrenze vorse-
hen, ist auch hier eine Anpassung erforderlich. Arbeitnehmer und Arbeitnehme-
rinnen empfinden diese Altersgrenze häufig als einschränkend und diskriminie-
rend, wie die Klage einiger Lufthansapiloten zeigt. Arbeitgeber und Beschäf-
tigte können ihre langfristigen Planungen auf die neue Situation einstellen.
Sofern sich aus der regelmäßigen Berichterstattung ergeben sollte, dass eine bes-
sere Erwerbsintegration von Älteren nicht gelingt, ist der Gesetzgeber verpflich-
tet, weitere Maßnahmen zur Integration Älterer in das Erwerbsleben einzuleiten.

Die Erwerbsminderungsrente soll Beschäftigten eine existenzielle Sicherheit
geben, wenn diese aus gesundheitlichen Gründen bzw. einer Behinderung aus
dem Berufsleben ausscheiden müssen. In den letzten Jahren konnte die gutach-
terliche Prüfung kontinuierlich verbessert werden. Da die Kriterien für den Zu-
gang in eine Erwerbsminderungsrente objektivierbar sind, ist die Beibehaltung
des Referenzalters von 63 Jahren für den abschlagsfreien Bezug einer Erwerbs-
minderungsrente gerechter als die von der Bundesregierung vorgeschlagenen
Ausnahme- und Sonderregelungen für langjährige bzw. besonders langjährige
Versicherte.

Die Einführung einer neuen abschlagsfreien Altersrente für Versicherte mit min-
destens 45 Beitragsjahren ist zum einen aus sozial- und gleichstellungspoli-
tischen Gründen nicht akzeptabel. Die vorgesehene Sonderregelung wäre auch
verfassungsrechtlich bedenklich. Versicherte mit gleichen Anwartschaften
(45 Entgeltpunkte) erhielten deutlich unterschiedliche Leistungen, wenn ein Teil
der Versicherten mit 65 Jahren ohne Abschläge in Rente gehen könnte und dies
Versicherten mit Lücken in ihrer Erwerbsbiographie oder einem späteren Be-
rufseintritt, verwehrt wäre. Diese Kritik wurde von allen namhaften Verbänden
und dem Sozialbeirat erhoben.

Im Jahre 2004 erreichten 41 Prozent der Männer und nur 5 Prozent der Frauen
45 und mehr Beitragsjahre. Die Privilegierung von Männern bleibt auch beste-
hen, wenn Zeiten der Kindererziehung und Pflege in die Berechnung eingehen.
Damit führt die Sonderregelung zu einer mittelbaren Diskriminierung von
Frauen. Enorm wären zudem die Verteilungswirkungen zu Lasten derer, die
keine entsprechende Anzahl von Versicherungsjahren vorzuweisen hätten, wie
z. B. Personen mit einer längeren akademischen Ausbildung oder mit langer
Erwerbslosigkeit. Profitieren würden hingegen Personen, die über ohnehin
hohe Rentenanwartschaften verfügen. Es käme zu einer Umverteilung von jähr-

lich 2 Mrd. Euro von unten nach oben. So würde die Verkäuferin mit unterbro-
chener Erwerbsbiographie mit ihren Beiträgen die abschlagsfreie Rente des gut

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verdienenden Angestellten im Öffentlichen Dienst mitfinanzieren, der ein gan-
zes Berufsleben in gesicherter Stellung verbracht hat. Diese Sonderreglung
wahrt Besitzstände zu Lasten sozial- und geschlechtergerechter Lösungen.

Bei einer Emnid-Befragung aus diesem Jahr wünschten sich 61 Prozent der Be-
fragten, das Renteneintrittsalter zwischen 60 und 67 Jahren selbst wählen zu
können. Das individuell flexible Rentenalter ist bereits heute möglich, aber ver-
mutlich noch zu wenig bekannt bzw. zu wenig passgenau auf unterschiedliche
Lebensentwürfe abgestimmt. Mit weiteren Variationen sollte an die bestehenden
gesetzlichen Regelungen angeknüpft und diese weiter entwickelt werden. Bis
zur Vollendung des 65. Lebensjahres können Rentenabschläge durch die vorzei-
tige Inanspruchnahme einer Rente wegen Alters schon nach geltendem Recht
durch Zahlung von Beiträgen ausgeglichen werden. Teilzahlungen sind mög-
lich. Diese Möglichkeiten sollten erweitert werden.

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