BT-Drucksache 16/3610

Welt-AIDS-Tag 1. Dezember 2006 - Die besondere Verantwortung für Entwicklungsländer unterstreichen

Vom 29. November 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/3610
16. Wahlperiode 29. 11. 2006

Antrag
der Abgeordneten Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer,
Antje Blumenthal, Dr. Hans Georg Faust, Hartwig Fischer (Göttingen),
Anette Hübinger, Jürgen Klimke, Hartmut Koschyk, Bernward Müller (Gera),
Dr. Georg Nüßlein, Dr. Norbert Röttgen, Arnold Vaatz, Volker Kauder, Dr. Peter
Ramsauer und der Fraktion der CDU/CSU,
der Abgeordneten Christel Riemann-Hanewinckel, Dr. Wolfgang Wodarg,
Dr. Sascha Raabe, Gabriele Groneberg, Dr. Bärbel Kofler, Ute Kumpf,
Walter Riester, Dr. Ditmar Staffelt, Andreas Weigel, Elvira Drobinski-Weiß,
Detlef Dzembritzki, Iris Hoffmann (Wismar), Walter Kolbow, Lothar Mark,
Olaf Scholz, Frank Schwabe, Hans-Jürgen Uhl, Jörg Vogelsänger, Hedi Wegener,
Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD,
der Abgeordneten Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, Daniel Bahr (Münster),
Uwe Barth, Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher,
Patrick Döring, Mechthild Dyckmans, Jörg van Essen, Ulrike Flach, Otto Fricke,
Horst Friedrich (Bayreuth), Hans-Michael Goldmann, Miriam Gruß, Joachim
Günther (Plauen), Dr. Christel Happach-Kasan, Heinz-Peter Haustein, Elke Hoff,
Birgit Homburger, Dr. Werner Hoyer, Michael Kauch, Hellmut Königshaus,
Dr. Heinrich L. Kolb, Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin, Heinz Lanfermann,
Harald Leibrecht, Ina Lenke, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Michael Link
(Heilbronn), Markus Löning, Horst Meierhofer, Patrick Meinhardt, Jan Mücke,
Burkhardt Müller-Sönksen, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Detlef Parr, Cornelia
Pieper, Gisela Piltz, Jörg Rohde, Frank Schäffler, Marina Schuster, Dr. Max Stadler,
Dr. Rainer Stinner, Carl-Ludwig Thiele, Florian Toncar, Christoph Waitz, Dr. Claudia
Winterstein, Dr. Volker Wissing, Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Martin Zeil,
Dr. Guido Westerwelle und der Fraktion der FDP
sowie der Abgeordneten Ute Koczy, Thilo Hoppe, Renate Künast, Fritz Kuhn und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Welt-AIDS-Tag 1. Dezember 2006 – Die besondere Verantwortung für
Entwicklungsländer unterstreichen
Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Welt- AIDS-Tag 2006 erinnert uns:

– Heute vor 25 Jahren, 1981, wurde das HI-Virus entdeckt; ein Virus, das durch
Körperflüssigkeiten übertragen wird und dem aufgrund seiner Variabilität
schwer beizukommen ist.

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– Seit zehn Jahren ist in den Industrieländern die antiretrovirale Kombinations-
therapie möglich, die die Viruslast bei HIV-Patienten deutlich reduzieren
kann. Mit dieser Behandlung kann das Auftreten von AIDS-typischen Krank-
heitssymptomen verzögert und die Lebenszeit der Menschen mit HIV/AIDS
deutlich verlängert werden; Heilung ist nach wie vor nicht möglich.

– Seit zehn Jahren existiert UNAIDS, das zentrale Koordinationsgremium für
die HIV/AIDS-Bekämpfung innerhalb der Vereinten Nationen (UN).

– Vor fünf Jahren, 2001, fand die erste Sondersitzung der UN-Generalver-
sammlung (UNGASS) zu HIV/AIDS statt; im selben Jahr wurde der Global
Fund zur Bekämpfung von AIDS, Tuberkulose und Malaria gegründet.

– Vor einem Jahr, 2005, kündigten die G8-Regierungen die Umsetzung eines
umfassenden Paketes zu Ausweitung von HIV-Prävention, Behandlung und
Pflege an.

Während dieser Zeit hat sich HIV/AIDS vor allem in Entwicklungs- und
Schwellenländern zu einer humanitären Katastrophe entwickelt, die soziale und
wirtschaftliche Entwicklungen ganzer Regionen, Staaten und Gemeinden, aber
auch von Familien und Individuen zunichte macht. HIV/AIDS hat ein außer-
ordentliches Zerstörungspotential, mit hohen Zahlen an Erkrankungs- und Sterbe-
fällen gerade in den Altersgruppen, die für die Erwirtschaftung des Einkommens
sowie für die Erziehung der Kinder und die soziale Sicherung der Familien zu-
ständig sind. Der Human Development Report 2005 des Entwicklungspro-
gramms der Vereinten Nationen (UNDP) beschreibt HIV/AIDS als die größte
Rückwärtskraft für die menschliche und menschenwürdige Entwicklung. Der
Ausbau wirksamer Prävention und die Behandlung von 6,5 Millionen Menschen
mit lebensverlängernden antiretroviralen Therapien sind wichtige Voraussetzun-
gen für die Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele (MDGs).

HIV/AIDS und Armut sind eng miteinander verwoben. Die Bekämpfung von
HIV/AIDS und Armutsursachen ist wiederum untrennbar mit Menschenrechts-
fragen wie dem Recht auf sexuelle und reproduktive Gesundheit, Gleichstellung
der Geschlechter und dem universellen Zugang zu einer Basisgesundheitsver-
sorgung verbunden. Dem aktuellen Statusbericht zur HIV/AIDS-Epidemie von
UNAIDS und Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge lebten Ende 2006
knapp über 40 Millionen Menschen mit HIV und AIDS. Allein im Jahr 2006
haben sich 4,3 Millionen Menschen neu mit dem HI-Virus infiziert und 2,9 Mil-
lionen sind an den Folgen von AIDS gestorben. Die meisten Menschen mit HIV/
AIDS leben in Subsahara-Afrika. Mit 25 Millionen HIV/AIDS-Infizierten ist
und bleibt die Region ein Epizentrum der Pandemie, wobei das südliche Afrika
am stärksten betroffen ist.

Doch auch in Osteuropa und Zentralasien nehmen die HIV-Infektionsraten
rapide zu: In weniger als einer Dekade haben sich die Infektionen verzwanzig-
facht, so dass nunmehr 5 Millionen Menschen in dieser Region mit HIV/AIDS
leben. 84 000 Menschen starben 2006 in Osteuropa und Zentralasien an den Fol-
gen von AIDS. Im Vergleich zum Vorjahr 2005 stieg die Zahl der AIDS-Todes-
fälle um 30 Prozent. Hauptinfektionswege sind in der Region der intravenöse
Drogengebrauch und die Übertragung bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr
im Bereich des kommerziellen Sex. Besonders vulnerable Gruppen wie Prosti-
tuierte und Drogennutzer haben keinen Zugang zu Information und Prävention.
Besonders betroffen sind in Osteuropa junge Menschen. Ein Großteil der Betrof-
fenen, die heute Behandlung brauchen, haben keinen Zugang zum öffentlichen
Gesundheitssystem. Es fehlen Ärzte und Gesundheitsfachkräfte. Angst vor
Stigma und Diskriminierung halten sie ab, Ärzte und staatliche Gesundheitsstel-
len aufzusuchen. Dazu kommt, dass die Preise für die AIDS-Medikamente nach
wie vor sehr hoch sind – sozial benachteiligte Menschen können Preise, die fast

an die der Medikamente in Westeuropa heranreichen, nicht bezahlen. Diese

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starke und schnelle Zunahme der HIV-Pandemie in Osteuropa und Zentralasien
ist ein Problem für die betroffenen Länder und, durch die geographische Nähe,
auch für die Bundesrepublik Deutschland. Dies macht eine stärkere HIV-Be-
kämpfung in Osteuropa zwingend notwendig.

Die AIDS-Pandemie hat inzwischen ein weibliches Gesicht. Ein überproportio-
naler Anteil der Neuinfektionen in allen Regionen der Welt betrifft Frauen und
Mädchen. Nicht nur in Afrika, sondern auch in Osteuropa und Zentralasien infi-
zieren sich verstärkt Frauen und Mädchen mit HIV/AIDS: 2006 lebten 510 000
Frauen in der Region mit HIV/AIDS; dies ist eine deutlicher Anstieg im Ver-
gleich zum Jahr 2003. Vor drei Jahren lebten in Osteuropa und Zentralasien
310 000 Frauen mit HIV/AIDS. Inzwischen sind fast die Hälfte der infizierten
Menschen weltweit Frauen, während es vor zehn Jahren nur 12 Prozent waren.
In Subsahara-Afrika sind fast 60 Prozent der Infizierten weiblich. 25 Jahre nach
Ausbruch der Pandemie ist eine oftmals niedrige gesellschaftliche Stellung der
Frau neben anderen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Faktoren der
Hauptfaktor für die besonders starke Verbreitung von HIV in bestimmten Regi-
onen der Welt. Doch die bisherigen Antworten auf AIDS berücksichtigen nur
ungenügend das verstärkte Risiko für Frauen sowie die Tatsache, dass sie
ungleich mehr unter den Folgen der Epidemie zu leiden haben. Für viele Frauen
in Entwicklungsländern ist es schwer, auf die sexuelle Beziehung zu ihrem Part-
ner Einfluss zu nehmen und die Anwendung von Safer-Sex-Praktiken durch-
zusetzen. Darüber hinaus haben Frauen und Mädchen generell schlechteren
Zugang zu Bildungseinrichtungen und damit auch zu sexueller Aufklärung und
Information zum Thema HIV. Die höhere physiologische Anfälligkeit von
Frauen führt insbesondere in Regionen, wo Gewalt gegen Frauen und junge
Mädchen besonders ausgeprägt ist oder gar instrumentalisiert wird (z. B. Verge-
waltigung von Frauen in Krisen- und Kriegsgebieten), zu erhöhten HIV-Infek-
tionsraten unter Frauen. Auch die Pflege der vielen AIDS-Kranken fällt fast aus-
schließlich Frauen und jungen Mädchen zu. Noch immer sind Frauen in den zen-
tralen Entscheidungsgremien, die die politischen Konzepte und Maßnahmen im
Bereich HIV/AIDS festlegen und durchführen, unterrepräsentiert. In Entwick-
lungsländern konnten Beratungs- und Testangebote im Zeitraum 2001 bis 2005
von vier auf 16,5 Millionen Menschen ausgeweitet werden. Dieser Fortschritt
reicht aber noch lange nicht aus: In ihrem aktuellen Status-Bericht zur AIDS-
Epidemie stellen UNAIDS und Weltgesundheitsorganisation fest, dass aktuell
nur eine von acht Personen, die Beratung und Testung wünschen, versorgt wer-
den können.

AIDS tötet immer mehr junge Menschen. Jede Minute stirbt ein Kind an den
Folgen der Immunschwäche, das sind 500 000 im Jahr. Etwa die Hälfte der HIV-
positiven Kinder in Entwicklungsländern stirbt in den ersten zwei Lebensjahren,
nur wenige werden älter als fünf Jahre. Weltweit leben heute 2,3 Millionen Kin-
der mit HIV. Inzwischen ist jeder sechste HIV-Infizierte unter 15 Jahren alt. Auch
hier verzeichnet Osteuropa, wie Russland und die Ukraine, eine Explosion der
Infektionsraten, so dass z. B. in der Ukraine jeder zehnte Infizierte ein Kind ist.

Immer noch kennt weltweit weniger als die Hälfte aller jungen Menschen die
Gefahren, die mit ungeschütztem Geschlechtsverkehr verbunden sind. Selbst in
besonders von der Epidemie betroffenen Regionen haben 80 Prozent der Men-
schen über 15 Jahre keinen Zugang zu Aufklärungsmaterial.

Waisen sind die unsichtbaren Opfer von AIDS. 15 Millionen Mädchen und Jun-
gen haben Mutter, Vater oder beide Eltern durch AIDS verloren. Allein in den
vergangenen zwei Jahren kamen 3,5 Millionen hinzu. Und das Schlimmste steht
noch bevor: Angesichts der enormen Zahl infizierter Erwachsener wird die Zahl
der durch AIDS verwaisten Kinder bis zum Jahr 2025 auf rund 25 Millionen

steigen. Das birgt sozialen Sprengstoff für die betroffenen Länder und Regionen.
Zudem sind Waisen, die oftmals ohne jegliche Erziehung durch Eltern, Schule

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oder Kinderheime aufwachsen und in extremer Armut leben, die zentrale Risi-
kogruppe in Bezug auf HIV/AIDS.

Oftmals sind die Großeltern oder Verwandte die einzigen, die sich um die Wai-
sen kümmern. Doch auch diese sind oft traumatisiert und überfordert. Sie muss-
ten den Tod der eigenen Kinder erleben und müssen sich zusätzlich um weitere
und eigene Kinder und um die Enkelkinder kümmern. Doch auch diese in Afrika
verbreitete Struktur der Aufnahme von Waisen durch die Großfamilie ist durch
die Zahl der AIDS-Waisen überfordert. Das allgemein gut funktionierende Stüt-
zungssystem der so genannten Extended Families bricht mittlerweile unter der
Last von HIV/AIDS zusammen. Eine Konsequenz ist die rasante Zunahme von
Kinderhaushalten, vor allem im südlichen Afrika.

Die oben aufgeführten Entwicklungen machen deutlich, dass die Bekämpfung
von HIV/AIDS verstärkt und verbessert werden muss: Die 3by5-Initiative der
WHO nannte das Ziel, dass bis zum Jahr 2005 drei Millionen Menschen aus Ent-
wicklungsländern Zugang zur antiretroviralen Therapie haben sollten. Das Ziel
wurde nicht erreicht: Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation haben
heute ca. 1,6 Millionen Menschen in Entwicklungsländern Zugang zu antiretro-
viraler Behandlung. Die 3by5-Initiative war ein wichtiger Schritt, da sie zeigte,
dass die Behandlung auch in strukturschwachen Regionen möglich und wirksam
ist. Die Zahl der Menschen, die in Entwicklungsländern Zugang zu antiretrovi-
raler HIV-Behandlung haben, hat sich seit Ende 2001 verdreifacht. Die Versor-
gungslücke bleibt dennoch immens. Bestenfalls eine/einer von zehn Afrikane-
rinnen/Afrikanern und eine/einer von sieben Asiatinnen/Asiaten erhielten 2005
diese dringend benötigte Therapie.

Prävention und Behandlung sind zwei Seiten einer Medaille. Menschen mit HIV/
AIDS, die Behandlung erhalten, können für viele weitere Jahre am sozialen und
wirtschaftlichen Leben mitwirken. Der Behandlung selbst kommt außerdem eine
zentrale präventive Bedeutung zu: Erst wenn Menschen wissen, dass sie nach
einem positiven HIV-Test eine Behandlungsoption haben, sind sie bereit, sich auf
freiwilliger Basis beraten und testen zu lassen. Und erst wenn sich Menschen
über ihren HIV-Status bewusst sind, können sie die Ansteckung anderer verhin-
dern, sei es durch abstinentes Verhalten, Safer Sex oder die Verhinderung der
Mutter-zu-Kind-Übertragung durch Medikamenteneinsatz während Schwanger-
schaft und Geburt. Zudem verringert die konkrete Behandlung die Infektiosität.

Klar ist dabei: Auch wenn die Behandlung mit der antiretroviralen Therapie das
Leben der Patienten verlängert, ist eine Heilung heute noch nicht möglich. Die
Behandlung ist dennoch von zentraler Bedeutung, um Millionen Betroffene wei-
terhin an den sozialen und wirtschaftlichen Prozessen zur beteiligen. Die jetzt in
Behandlung befindlichen Menschen in Entwicklungsländern werden in den kom-
menden Jahren eine zweite Generation der antiretroviralen Medikamente benöti-
gen, da das HI-Virus Resistenzen bildet. Der flächendeckende und kostengüns-
tige Zugang zu entsprechenden sog. Second Line-Medikamenten steht noch in
sehr weiter Ferne, unter anderem weil die pharmazeutische Industrie für die
Entwicklung solcher Medikamente keine ausreichenden Absatzchancen sieht.
Hier müssen mit staatlicher Unterstützung Anreize für die pharmazeutische
Forschung geschaffen werden, zum Beispiel durch öffentlich-private Partner-
schaften.

Weiterhin besteht ein großes Problem darin, dass aufgrund des durch das
TRIPS-Abkommen der Welthandelsorganisation bestehenden Patentschutzes
die Kosten für Medikamente der zweiten oder dritten Behandlungslinie für Men-
schen in Entwicklungsländern viel zu hoch liegen, und die Möglichkeit einer Er-
teilung von Zwangslizenzen zur Produktion oder zum Export nicht besteht. Die
Preise für die Einstiegsmedikamente sind in den vergangenen Jahren vor allem

durch den Wettbewerb mit generischen Produkten gesunken.

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Die Behandlung von AIDS wurde in den letzten Jahren verstärkt thematisiert.
Die Afrikaerklärung der G8-Regierungen anlässlich des Weltwirtschaftsgipfels
2005 fordert den universellen Zugang zur Prävention, Behandlung und Pflege
bis 2010 (Universal Access). Seit der ersten Sondersitzung der UN-Generalver-
sammlung (UNGASS) zu HIV/AIDS in New York 2001 besteht internationale
Einigkeit über den notwendigen Dreiklang dieser Elemente: Ohne dass Präven-
tion, Behandlung und Pflege ineinander greifen, kann eine effektive Bekämp-
fung von HIV/AIDS nicht gewährleistet werden.

Die eigentliche Verhinderung der HIV-Übertragung, also die Vermeidung von
neuen HIV/AIDS-Infektionen durch die verschiedenen bewährten und eviden-
ten Wege der Prävention, muss wieder die ihr zustehende angemessene Bedeu-
tung im Gesamtkonzept der AIDS-Bekämpfung bekommen, da es die beste
Möglichkeit ist, einen großen Anteil der Bevölkerung vor einer Erkrankung zu
bewahren. Ein Gesamtkonzept muss zudem von allen Akteuren kohärent betrie-
ben werden. Dies ist aus ethischen und menschenrechtlichen, aber auch aus
Gründen der sozialen und ökonomischen Nachhaltigkeit geboten.

Der Statusbericht zur AIDS-Epidemie von UNAIDS und WHO aus dem Jahr
2005 stellte fest, dass Anstrengungen zur schnellen Ausweitung und Sicherung
des Zugangs zu antiretroviraler Behandlung untergraben werden, wenn der Teu-
felskreis immer neuer HIV-Infektionen nicht durchbrochen wird. Dieser Durch-
bruch kann nur durch originäre Präventionsmaßnahmen geschehen. Doch welt-
weit hat nur ein Fünftel der HIV-gefährdeten Personen Zugang zu grundlegen-
den Präventionsleistungen. Der Bericht bemängelt, dass Präventionsstrategien
allzu oft nicht breit genug angelegt sind, und dass es ihnen an Intensität und
langfristigen Visionen mangelt. Um dafür zu sorgen, dass die Präventionsmaß-
nahmen auch erfolgreich sind, müssen kurzfristige Zeitrahmen in langfristige
programmatische Strategien überführt werden.

Nach Schätzungen von UNAIDS und der WHO werden 2007 18,1 Mrd. US-
Dollar für die AIDS-Bekämpfung benötigt (für 2008 wird der Finanzbedarf
schon auf 22,1 Mrd. US-Dollar geschätzt). 10 Mrd. US-Dollar werden 2007
davon allein für eine angemessene Ausweitung von wirksamen Präventionspro-
grammen gebraucht (2008: 11,4 Mrd. US-Dollar).

Dem Global Fund zur Bekämpfung von AIDS, Tuberkulose und Malaria kommt
in der Finanzierung der Gesundheitsarbeit in ärmeren Ländern eine wichtige
Rolle zu. 20 Prozent der verfügbaren Finanzressourcen für die AIDS-Eindäm-
mung und je zwei Drittel aller in ärmeren Ländern verfügbaren Finanzmittel für
die Eindämmung von Tuberkulose und Malaria werden über den Fonds gene-
riert. Über 55 Prozent der gesamten Projektgelder des Fonds gehen an Projekte
im südlichen Afrika. Unter anderem konnte somit die HIV-Behandlung für fast
400 000 Menschen finanziert werden. Über die laufenden Förderungspro-
gramme seit 2002 sollen bis Ende 2007 Beratungs- und Testangebote für über
62 Millionen Menschen finanziert werden.

In Afrika und den meisten anderen hochprävalenten Regionen wird HIV/AIDS
in erster Linie sexuell übertragen und ist daher als STI (Sexually Transmitted In-
fection) zu werten. HIV/AIDS-Aufklärung ist daher auch Sexualaufklärung, die
in erster Linie durch die Institutionen und Dienstleistungen der Familienplanung
und der sexuellen und reproduktiven Gesundheit gewährleistet wird. Eine ver-
stärkte Nutzung dieser bewährten Infrastruktur, die insbesondere auch gender-
bezogen arbeitet, kann zu einer effektiveren und nachhaltigeren Gestaltung der
HIV/AIDS-Bekämpfung führen. Der direkte Zusammenhang zwischen sexuel-
ler und reproduktiver Gesundheit ist augenfällig und eine Integration beider
Konzepte ist ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu einer Bekämpfung von
AIDS. Unnötigerweise wird in der nationalen Entwicklungszusammenarbeit

wie auch in multilateralen Organisationen hier eine Trennung vorgenommen.

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Bei der Prävention stehen Aufklärungsmaßnahmen in Form von zielgruppen-
spezifischer, altersangepasster Aufklärung an zentraler Stelle. Im Vordergrund
sollten dabei Kinder und Jugendliche stehen, denn diese können noch angespro-
chen und informiert werden, bevor sie sexuell aktiv werden. Der bereits ange-
führten Problematik, dass insbesondere Jugendliche von AIDS betroffen sind,
sollte durch entsprechende auf diese Altersgruppe zugeschnittene Maßnahmen
entgegnet werden.

Darüber hinaus muss sichergestellt werden, dass Präventionsmittel auch in aus-
reichender Menge zur Verfügung stehen. Dies ist ein Problem vor allem in
Afrika und Asien. Laut UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA) stehen in Subsahara-
Afrika pro Jahr und Mann nur etwa sechs bis acht Kondome zur Verfügung. Das
Kondom für die Frau, das Femidom, ist noch weniger verfügbar, darüber hinaus
sehr teuer und daher für viele Menschen nicht zugänglich.

Der deutsche Vorsitz in der Reproductive Health Supplies Coalition (RHSC) ist
ein guter Ansatzpunkt für entsprechende Aktivitäten. Darüber hinaus gilt es,
zukünftige und vor allem von Frauen kontrollierbare Präventionsmittel und ent-
sprechend notwendige Forschung zu fördern. Nationale Aktivitäten bei der
Suche nach einem Impfstoff müssen gebündelt werden, um Forschung und Ent-
wicklung in diesem Bereich zu beschleunigen.

Neben der erwähnten Stärkung von Prävention dürfen andere Aspekte der HIV/
AIDS-Bekämpfung jedoch nicht aus den Augen verloren werden. So ist es von
grundlegender Bedeutung, dass die Gesundheitssysteme in Entwicklungslän-
dern allgemein gestärkt werden. Derzeit steht insbesondere Afrika vor einem
Problem, was die personelle Ausstattung des Gesundheitswesens betrifft: Dort
gibt es durchschnittlich nicht einmal eine Fachkraft pro 1000 Menschen – 10 bis
15 Mal weniger als in europäischen Ländern – und durch Abwerbung und Ab-
wanderung werden es immer weniger. Diese weltweite Krise im Gesundheits-
personal muss gelöst werden, um zu einer Stabilisierung der Gesundheitssys-
teme beizutragen und damit eine effektive Pflege von HIV/AIDS- Kranken zu
gewährleisten.

Auch der Zugang zu Medikamenten muss weiterhin verbessert werden. Denn
trotz der erwähnten Fortschritte in diesem Bereich ist noch lange kein universel-
ler Zugang zu kostengünstigen Medikamenten in Sicht. Insbesondere aufgrund
mangelnder Absatzerwartungen schenkt die Pharmaindustrie der Entwicklung
der zweiten Behandlungslinien der antiretroviralen Therapien, der Entwicklung
eines Impfstoffes gegen HIV/AIDS sowie der Bereitstellung der Medikamente
in an die Bedürfnisse in Entwicklungsländern angepassten Dosierungen (z. B.
kindgerechte Dosierungen, Kombinationspräparate) und Darreichungsformen
(z. B. ohne Notwendigkeit der Kühlung) keine ausreichende Beachtung.

Deutschland spielt im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft und des G8-Vorsit-
zes 2007 eine aktive und gestaltende Rolle im Bereich der HIV/AIDS-Bekämp-
fung.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

– integrierte Strategien und Programme zur Ausweitung von Prävention,
Behandlung und Pflege zu unterstützen;

– sich im Rahmen des G8-Prozesses und der damit befassten Institutionen da-
für einzusetzen, dass die Bedeutung eines integrierten Ansatzes zur Bekämp-
fung von HIV/AIDS in Entwicklungsländern gestärkt wird;

– sich dafür einzusetzen, dass der Prävention bei der HIV/AIDS-Bekämpfung
der Stellenwert zukommt, der ihr aus ethischen, sozialen und ökonomischen

Nachhaltigkeitsgründen gebührt;

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/3610

– dass vorausschauende Präventionsstrategien erarbeitet werden, die alle
Kräfte bündeln, um der sich schnell und weiträumig ausbreitenden Epidemie
Herr zu werden;

– in der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit dafür Sorge zu tragen, dass
die nationalen Regierungen in den betroffenen Ländern ihre Aufgaben und
Verantwortung beim Kampf gegen und zum Schutz ihrer Bevölkerung vor
AIDS auch tatsächlich wahrnehmen;

– die bewährten Strukturen der sexuellen und reproduktiven Gesundheit zu
prüfen, verstärkt zu nutzen und in der Programmarbeit der Durchführungs-
organisationen zu verankern;

– sich dafür einzusetzen, dass Kondome und Femidome bedarfsgerecht bereit-
gestellt werden und darauf hinzuwirken, deren Akzeptanz und ausreichenden
Gebrauch zu fördern;

– auf die Bedarfsdeckung mit Kondomen und Femidomen zu achten, da regel-
mäßige Engpässe und die Nichtverfügbarkeit von Präventionsmitteln deren
Akzeptanz langfristig konterkarieren;

– sich für die Bekämpfung der bestehenden Verhütungsmittelkrise aktiv zu
engagieren und sich dabei eng mit multilateralen Gebern und anderen Betei-
ligten abzustimmen, und den deutschen Vorsitz in der Reproductive Health
Supplies Coalition (RHSC) entsprechend zu nutzen;

– sich für die Ausschöpfung aller bewährten wissenschaftlichen Methoden der
HIV/AIDS-Bekämpfung einzusetzen, einschließlich Nadelaustauschpro-
grammen und der Nutzung von Kondomen;

– ihren Einfluss auf internationaler Ebene auch in persönlichen Kontakten zu
nutzen, um Diskriminierung und Stigmatisierung von Menschen mit HIV/
AIDS zu überwinden und hierdurch eine offene Auseinandersetzung mit dem
Thema HIV/AIDS, ohne die eine Bekämpfung dieser Krankheit nicht denk-
bar ist, zu ermöglichen;

– sich dafür einzusetzen, dass die Entwicklung und Umsetzung neuer Techno-
logien und Methoden des Infektionsschutzes gefördert und diese so bald wie
möglich zur Anwendung gebracht werden. Hierzu zählen zum Beispiel die
Förderung von Mikrobizidforschung und Femidomen;

– Anreize zu schaffen, um die pharmazeutische Forschung an neuen Technolo-
gien und Methoden sowie an die Bedürfnisse von Entwicklungsländern an-
gepassten Medikamenten ebenso voranzutreiben wie die Entwicklung eines
HIV-Impfstoffes;

– sich im internationalen Rahmen dafür einzusetzen, dass das TRIPS-Abkom-
men nicht zur Folge hat, dass Menschen in Entwicklungsländern aufgrund
eines zu hohen Preises oder der Nichtverfügbarkeit von Generika vom Zu-
gang zu antiretroviralen Medikamenten der zweiten oder dritten Behand-
lungslinie ausgeschlossen sind, sowie die Entwicklung neuer Medikamente
als Generika zu ermöglichen;

– die Bestimmungen des TRIPS-Abkommens zum Schutze der öffentlichen
Gesundheit auf ihre Funktionsfähigkeit zu überprüfen;

– mögliche zukünftige Methoden, wie zum Beispiel Mikrobizide, in die umfas-
senden Präventionsstrategien aufzunehmen;

– bereits bestehende HIV-Bekämpfungsstrategien so anzupassen, dass sie
Mann und Frau gleichermaßen berücksichtigen;

– Programme, die Mädchen und Frauen bestärken, besonders zu fördern und

dabei die spezielle Zielgruppe der Frauen und Mädchen in die Programm-

Drucksache 16/3610 – 8 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

gestaltung einzubeziehen, um kulturelle Angemessenheit und größtmögliche
Schutzwirkung zu erzielen;

– alle staatlichen, religiösen und zivilgesellschaftlichen Autoritäten an ihre
Verantwortung in diesem Bereich zu erinnern;

– über die deutsche Entwicklungszusammenarbeit Frauen eine stärkere Mit-
sprache in den nationalen und kommunalen Gremien zu ermöglichen, in
denen Entscheidungen zur AIDS-Politik getroffen werden;

– Frauen verbesserten Zugang zu Bildung, sexueller und reproduktiver Ge-
sundheitsfürsorge, Schwangerschaftsvorsorge, Prävention von Mutter-Kind-
Übertragung sowie antiretroviraler Therapie und anderen erforderlichen
Medikamenten zu ermöglichen;

– der Feminisierung der AIDS-Epidemie dadurch zu begegnen, dass sich ins-
gesamt die Bekämpfung von AIDS stärker auf Frauen konzentriert;

– Programme zu fördern, die das Verständnis junger Männer für die Probleme,
die Position ihrer Schwestern, Freundinnen und zukünftigen Frauen vermit-
teln, um so eine notwendige komplementäre Seite für das Empowerment der
Frauen zu wecken;

– besondere Aufmerksamkeit auf die HIV-Prävention bei Kindern und Jugend-
lichen und wo nötig, deren Behandlung zu legen;

– Maßnahmen gegen die Mutter-Kind-Übertragung und die Aufklärung darü-
ber zu stärken;

– Aufklärung von Jungen und Mädchen gleichermaßen zu fördern und gleich-
berechtigten Zugang zu Bildungs- und Aufklärungseinrichtungen zu gewähr-
leisten;

– die psychosoziale Betreuung von AIDS-Waisen zu fördern, da über diese Be-
treuung neben der HIV-Prävention auch Kriminalitätsprävention betrieben
werden kann;

– die soziale Integration von AIDS-Waisen und familienähnliche Strukturen
für ihr gesundes Aufwachsen zu fördern;

– besondere Programme für die Generation der Großeltern von AIDS-Waisen
aufzulegen;

– durch besondere Programme Stigmatisierung, Ausgrenzung, Kriminalisie-
rung und Missbrauch von AIDS-Waisen zu verhindern;

– in diesem Zusammenhang auch die Mitglieder von sog. Extended Families zu
unterstützen, die oft für zahlreiche AIDS-Waisen Verantwortung überneh-
men, obwohl sie kaum die eigenen Kinder ausreichend ernähren können;

– Lehren aus den Erfahrungen in der Prävention und Behandlung aus hochprä-
valenten Gebieten zu ziehen und diese auf die sich negativ entwickelnde
Situation in Osteuropa und Zentralasien zu übertragen unter Berücksich-
tigung der kulturellen und epidemischen Unterschiede;

– die Erfahrungen von erfolgreichen Pilotländern, z. B. Thailand, in Prävention,
Behandlung und Fürsorge zu nutzen und auf die sich negativ entwickelnde
Lage in Osteuropa und Zentralasien unter Berücksichtigung der kulturellen
und infektiologischen Besonderheiten zu übertragen;

– Programme in Schulen zu fördern und langfristig zu gestalten, so dass Schü-
lerinnen und Schüler während der gesamten Schullaufbahn altersgerecht mit
dem Thema HIV und AIDS sowie Sexualität und Gender konfrontiert blei-
ben;

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 9 – Drucksache 16/3610

– sich konsequent für eine ganzheitliche Stärkung der Gesundheitssysteme in
Entwicklungsländern einzusetzen und dazu beizutragen, die weltweite Krise
im Gesundheitspersonal zu lösen;

– gezielt den Ausbau von Krankenhäusern und Gesundheitszentren zu fördern,
um die gesundheitsbezogenen MDGs zu erreichen;

– innerhalb der Weltbank und des IWF darauf einzuwirken, dass diese Organi-
sationen verstärkt auf den Ausbau des lokalen Gesundheitssektors drängen
und begleitend tätig sind;

– sich dafür einzusetzen, dass der universelle Zugang zu HIV-Prävention, -Be-
handlung und -Pflege tatsächlich gewährleistet wird.

Berlin, den 29. November 2006

Volker Kauder, Dr. Peter Ramsauer und Fraktion
Dr. Peter Struck und Fraktion
Dr. Guido Westerwelle und Fraktion
Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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