BT-Drucksache 16/3544

Perspektiven für die Generation Praktikum schaffen

Vom 22. November 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/3544
16. Wahlperiode 22. 11. 2006

Antrag
der Abgeordneten Kai Gehring, Grietje Bettin, Ekin Deligöz, Katrin Göring-
Eckardt, Britta Haßelmann, Priska Hinz (Herborn), Krista Sager, Marieluise Beck
(Bremen), Dr. Thea Dückert, Hans-Josef Fell, Ute Koczy, Renate Künast, Elisabeth
Scharfenberg, Irmingard Schewe-Gerigk, Dr. Gerhard Schick, Silke Stokar von
Neuforn, Dr. Harald Terpe, Josef Philip Winkler, Margareta Wolf (Frankfurt)
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Perspektiven für die Generation Praktikum schaffen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Praktika sind ein wichtiger Teil der Ausbildungsphase. Für die Berufswahl-
orientierung und Qualifizierung junger Menschen bekommen Praktika in der
wissensbasierten Ökonomie eine zunehmende Bedeutung. Gleichzeitig hat
auch der Praktikumsgeber die Chance, potenzielle Nachwuchskräfte für die
Beschäftigung im eigenen Unternehmen kennen zu lernen und zu gewinnen.

Eine steigende Anzahl von Praktikantinnen und Praktikanten gehört der
Gruppe der Hochschulabsolventinnen und -absolventen an. Statt einer ihrer
Qualifikation entsprechenden festen Anstellung finden sie zunächst nur Prak-
tikastellen. Um „Lücken im Lebenslauf“ zu vermeiden, sehen sie sich dazu
veranlasst, nach dem Studium Praktika zu absolvieren. Die Unternehmen sind
damit in der komfortablen Situation, aus einem breiten Pool an Hochqualifi-
zierten auswählen zu können, die ihnen gegen geringe oder gar keine Bezah-
lung zur Verfügung stehen. Unter den Unternehmen gibt es „schwarze Schafe“,
die diese Situation auf dem Bewerbermarkt ausnutzen und Praktikantinnen und
Praktikanten unter unfairen Bedingungen beschäftigen. Dies kann im Extrem-
fall dazu führen, dass sich hochqualifizierte Absolventinnen und Absolventen
von einem gering- oder unbezahlten Praktikum zum nächsten hangeln. Damit
droht ihnen eine lange Warteschleife prekärer Beschäftigungsverhältnisse, ein-
hergehend mit schleichender Dequalifizierung und sinkenden Chancen bei der
Jobsuche. Diese Entwicklung wird mit dem Begriff Generation Praktikum
bezeichnet.

Um solche Warteschleifen zu vermeiden, soll ein Praktikum nach dem Studium
die zeitlich begrenzte Ausnahme bleiben. Verbessert ein Praktikum nicht die

individuellen Berufsperspektiven, wird es zur Sackgasse. Generell qualifiziert
ein Hochschulstudium zu einem sofortigen Einstieg in eine entsprechende Be-
rufstätigkeit. Ein guter und schneller Übergang vom Studium in den Beruf
muss daher das Ziel sein. Politik, Arbeitgeber, Tarifpartner, Arbeitsagenturen,
Hochschulen, Studierende, Absolventinnen und Absolventen sind aufgerufen,
dazu beizutragen und ihrer jeweiligen Verantwortung gerecht zu werden.

Drucksache 16/3544 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Das Phänomen Generation Praktikum hat negative Auswirkungen auf den Ein-
zelnen und die Gesellschaft: Praktika ersetzen reguläre Beschäftigungsverhält-
nisse und verdrängen dadurch sozialversicherungspflichtige Stellen. Dem Staat
und der Gesellschaft entgehen dadurch Steuern und Sozialversicherungs-
beiträge. Zudem fällt der erschwerte Berufseinstieg der Generation Praktikum
mitten in die „Rushhour des Lebens“: Innerhalb einer kurzen Zeitspanne sind
zentrale private und berufliche Weichenstellungen verdichtet. Dazu gehören
mitunter Ausbildungsabschluss, Berufseinstieg, Rückzahlung von Studienkre-
diten, Einstieg in die private Altersvorsorge und Familiengründung. Es ist zu
befürchten, dass Angehörige der Generation Praktikum aufgrund ihrer geringen
Lebensplanungssicherheit gerade die Familiengründung verschieben oder ganz
auf sie verzichten.

Die Einführung von Studiengebühren bzw. von Studienkrediten zur Bezahlung
der Studiengebühren in fast allen unionsregierten Bundesländern führt zu neuen
Belastungen der Generation Praktikum. Die Rückzahlungspflicht der Studien-
darlehen beginnt oftmals unmittelbar oder wenige Monate nach dem Studien-
abschluss. Wenn die Tilgung in die häufig prekäre Berufseinstiegsphase der
Absolventinnen und Absolventen fällt, schränkt sie die finanzielle Bewältigung
der weiteren Aufgaben in der „Rushhour des Lebens“ ein. Wenn die Rückzah-
lung dagegen bis zur ersten regulären Beschäftigung gestundet wird, steigt der
individuelle Schuldenberg durch die fortlaufende Verzinsung weiter.

Die neuen, modularisierten Bachelor-Studiengänge bieten konzeptionell ideale
Voraussetzungen für eine Integration und einheitliche Anrechnung von Praktika
im Studium. Wenn die Studieninhalte in den neuen Studiengängen jedoch ein-
fach verdichtet werden, schränkt dies die Möglichkeit der Studierenden ein, zu-
sätzliche Berufspraxis durch Praktika oder Nebenjobs zu gewinnen. Deshalb
müssen gerade hier Praktika fest ins Studium integriert sein und mit Credit
Points angerechnet werden. Auch der Übergang vom BA-Studium in den Beruf
sollte möglichst ohne den Umweg über Praktika erfolgen. Hier sind die Arbeit-
geber gefragt, in ihrer Einstellungspraxis nicht nur auf von ihnen propagierte
Defizite dieses Abschlusses gegenüber den traditionellen Abschlüssen zu ver-
weisen.

Für die Entwicklung zur Wissensgesellschaft braucht Deutschland in Zukunft
deutlich mehr Akademikerinnen und Akademiker als bisher. Deswegen muss
alles unternommen werden, um junge Menschen zu Aufnahme und Abschluss
eines Studiums zu motivieren. Abschreckende reale Perspektiven wie die Ge-
neration Praktikum sind dabei kontraproduktiv. Praktika können und sollen
eine sinnvolle Ergänzung vor und während der Ausbildung, nicht aber eine bil-
lige Beschäftigungsform danach sein. Die Bundesregierung hat die Problematik
der Generation Praktikum bis vor kurzem vollständig und hartnäckig ignoriert.
Zwar hat sie im September 2006 Handlungsbedarf eingeräumt, bislang aber
keinerlei Lösungsvorschläge vorgelegt. Zusammen mit Arbeitgebern, Tarifpart-
nern, Arbeitsagenturen, Hochschulen, aber auch Studierenden, Absolventinnen
und Absolventen muss die Bundesregierung dafür sorgen, dass die Missstände
der Generation Praktikum bald der Vergangenheit angehören.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

● dazu beizutragen, dass Praktikantinnen und Praktikanten besser über ihre
Rechte informiert werden. Der bereits bestehende gesetzliche Anspruch auf
Urlaub, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, einen Praktikumsvertrag und
ein qualifiziertes Zeugnis ist Praktikantinnen und Praktikanten oft nicht be-
kannt und wird deshalb häufig nur unzureichend eingefordert;

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/3544

● sich gemeinsam mit den Ländern für eine verbesserte Integration von Prak-
tika in die Studienordnungen einzusetzen. Um den Praxisbezug der wissen-
schaftlichen Ausbildung und die berufspraktische Qualifikation der Absol-
ventinnen und Absolventen zu stärken, sollten Praktika verpflichtender
Bestandteil aller Studiengänge sein. Dies gilt in besonderem Maße für die
gestuften Bachelor-Studiengänge;

● die „Teams Akademische Berufe“ der örtlichen Agenturen für Arbeit weiter
zu stärken. Als zielgruppengerechte Stellen- und Informationsbörsen für
Akademikerinnen und Akademiker an Hochschulstandorten helfen sie mit
ihren Beratungsangeboten, die Zeitspanne zwischen Abschluss und Berufs-
einstieg zu verkürzen und die Beschäftigungsfähigkeit von Studierenden
weiter zu verbessern;

● sich für die Aufnahme der beruflichen Entwicklung von Hochschulabsol-
ventinnen und -absolventen in die kontinuierliche empirische Arbeitsmarkt-
forschung einzusetzen;

● sich für eine Selbstverpflichtung zur zeitlichen Begrenzung der Praktikums-
dauer einzusetzen. Eine grundsätzliche Befristung von Praktika innerhalb
eines Studiums und im Anschluss daran auf maximal 4 Monate ist in den
meisten Fällen völlig ausreichend. Ausnahmen von dieser Regel gelten vor
allem dort, wo Studienordnungen für komplexe Lernerfahrungen längere
studienbegleitende oder vor- bzw. nachgelagerte Praktika vorsehen. In allen
anderen Fällen besteht bei einer längeren Praktikumsdauer die Gefahr, dass
reguläre Vollzeitstellen durch Praktika ersetzt werden;

● sich für eine tarifliche Aufwandsentschädigung für Praktikantinnen und
Praktikanten einzusetzen;

● sich für ein unabhängiges Qualitätszertifikat „Faires Praktikum“ einzuset-
zen. Ein solches Gütesiegel zeichnet faire Praktikastellen anhand von über-
prüfbaren Mindeststandards aus;

● sich für faire Praktikabedingungen in allen Bundesbehörden einzusetzen.
Einrichtungen der öffentlichen Hand müssen eine Vorbildfunktion einneh-
men und überprüfbare Qualitätsstandards für Praktika gewährleisten.

Berlin, den 22. November 2006

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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