BT-Drucksache 16/3096

Dem Gesundheitswesen eine stabile Finanzgrundlage geben

Vom 25. Oktober 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/3096
16. Wahlperiode 25. 10. 2006

Antrag
der Abgeordneten Frank Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, Monika Knoche,
Volker Schneider (Saarbrücken), Katja Kipping, Dr. Ilja Seifert, Jörn Wunderlich,
Diana Golze, Elke Reinke, Inge Höger-Neuling, Karin Binder, Dr. Lothar Bisky und
der Fraktion DIE LINKE.

Dem Gesundheitswesen eine stabile Finanzgrundlage geben

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Grundprinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung – GKV – (Solidar-
ausgleich, Parität, Sachleistungsprinzip, Umlageverfahren, Kontrahierungs-
zwang) haben sich bewährt. Sie finden in der Bevölkerung eine breite Akzep-
tanz. Die finanziellen Grundlagen der GKV müssen verteidigt aber auch
weiterentwickelt werden.

Die GKV steht vor großen Herausforderungen, leistungsseitig wie auch finan-
zierungsseitig. Das Einnahmeproblem der GKV hat sich in den letzten Jahren
aufgrund der sinkenden Lohnquote infolge zunehmender Arbeitslosigkeit, re-
duzierter Beiträge für ALG-I/II-Empfänger und des Anwachsens geringfügiger
Beschäftigungsverhältnisse verschärft.

Gleichzeitig wird im deutschen Gesundheitssystem zu wenig, zu viel oder
falsch behandelt. Unzweckmäßige Leistungen und Arzneimittel verursachen
jährliche Kosten von über 10 Mrd. Euro. Die Ursachen für die bestehenden
Probleme liegen in falschen finanziellen Anreizstrukturen, fehlender Integration
der Versorgungssektoren, unzureichender Qualitätssicherung, mangelhafter Prä-
vention sowie Intransparenz. Zudem ist das Krankenversicherungssystem insge-
samt nicht ausreichend in der Lage, die Anbieterdominanz von Pharmakonzer-
nen, Krankenhäusern und Ärzten zurückzudrängen.

Die Ökonomisierung der Gesundheitspolitik stellt spätestens seit den 90er Jah-
ren die Grundlagen des solidarischen und sozialen Systems in Frage. Die Um-
strukturierungen im Gesundheitssystem zielen darauf, das Gesundheitssystem
vermehrt privaten Anbietern und den Kapitalmärkten zu öffnen, Umverteilung
zu Lasten der Beschäftigten, der Einkommensschwachen und der Kranken zu
betreiben und das Gesundheitssystem an den spezifischen Wettbewerbsinteres-
sen der Wirtschaft auszurichten. Dieser Weg wird auch mit der bisher geplanten

Gesundheitsreform beschritten. Der Deutsche Bundestag hält diesen Weg für
falsch und fordert die Bundesregierung auf, eine Kurskorrektur vorzunehmen.

Mit dem Entwurf der Bundesregierung zum GKV-WSG (WSG: Wettbewerbs-
stärkungsgesetz) ist eine Gesundheitsreform, die sich ernsthaft der oben ange-
führten Probleme annimmt, nicht möglich. Denn weder die Verbreiterung der
Finanzierungsbasis auf alle Bürgerinnen und Bürger noch auf weitere Einkom-
mensarten werden mit diesem Gesetz angegangen. Stattdessen werden die ein-

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seitigen Belastungen für die Versicherten der GKV (bis zur Beitragsbemes-
sungsgrenze von 3 562,50 Euro) fortgeschrieben, geringe Einkommen werden
durch die Kopfpauschale überproportional belastet. Ein Wettbewerb der Kassen
kann durch das Wettbewerbsstärkungsgesetz nicht entstehen, weil die Kassen
weiterhin auf einen morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich warten.
Stattdessen werden die Kassen in einen durch Beitragsgleichschaltung erzwun-
genen Wettkampf gezwungen, immer weniger Leistungen zu gewähren.
Gleichzeitig wird mit Wahltarifen und Selbstbehalten in der GKV quasi das
Teilkaskoprinzip für Gesunde und Vollkaskoprinzip für Kranke eingeführt.
Damit werden wesentliche Elemente des bewährten Systems preisgegeben.
Deshalb hält es der Deutsche Bundestag für erforderlich, einen neuen Weg zu
gehen, um dem Gesundheitswesen eine stabile und nachhaltige Finanzierungs-
grundlage zu geben, die die Lasten gerecht verteilt.

Dabei ist auch die Erhebung einer Wertschöpfungsabgabe zur Umbasierung der
Arbeitgeberbeiträge zu prüfen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf für die Einführung einer solidarischen Bürgerinnen- und
Bürgerversicherung im Gesundheitswesen vorzulegen. Im Einzelnen muss der
Gesetzentwurf nachfolgend benannte Grundsätze berücksichtigen:

1. Ausweitung des Versichertenkreises

Die Solidarität macht derzeit an der Beitragsbemessungsgrenze bzw. spätestens
an der Versicherungspflichtgrenze halt, denn Menschen mit einem Einkommen
über 3 562,50 Euro monatlich zahlen keinen ihrem Einkommen entsprechen-
den prozentualen Beitrag und/oder weichen ab Erreichen der Versicherungs-
pflichtgrenze von 3 937,50 Euro monatlich auf die private Krankenversiche-
rung aus.

Die Lasten müssen gerechter verteilt werden. Der Solidargedanke kann nur ge-
währleistet werden, wenn alle, auch Selbstständige, Beamte, Freiberufler, in die
gesetzliche Krankenversicherung einbezogen werden. Um dieses Ziel zu errei-
chen, wird die Versicherungspflichtgrenze aufgehoben.

Eine zeitlich befristete Übergangsregelung für privat Versicherte wird geschaf-
fen. Die private Krankenversicherung kann zukünftig Zusatzversicherungen
anbieten.

2. Gerechte Finanzierung

Alle zahlen nach ihrer Leistungsfähigkeit in die GKV ein, d. h. alle Einkom-
mensarten werden beitragspflichtig. Am Grundsatz der entgeltbezogenen pari-
tätischen Beitragsfinanzierung wird festgehalten. Dazu dienen die folgenden
Maßnahmen:

a) Grundsätzlich werden Einkommen aus unselbstständiger und selbstständiger
Arbeit sowie Kapital-, Miet- und Zinseinkünfte und sonstige Einkommen
zur Beitragszahlung herangezogen.

b) Die Beitragsbemessungsgrenze wird zukünftig aufgehoben werden. Dies
wird in einem Stufenplan erfolgen. Zur besonderen sozialen Gestaltung der
Beitragsbemessungsgrundlagen werden zwei getrennte Beitragssäulen für
Arbeits-, Renten- sowie Transfereinkommen einerseits und für Vermögens-
einkommen andererseits eingeführt. Die Beitragsbemessungsgrenze wird in
beiden Säulen im ersten Schritt bei der der Rentenversicherung angesetzt. In
der Beitragsbemessung auf Vermögenseinkommen (2. Säule) wird über den
Sparerfreibetrag hinaus (62,50 Euro/Verheiratete 125 Euro) ein monatlicher

Freibetrag in Höhe von 200 Euro eingestellt.

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c) Das erforderliche Finanzvolumen ergibt sich aus den im gesellschaftlichen
Konsens bestimmten Aufgaben der GKV. Einseitige Belastungen wie Son-
derbeiträge, Praxisgebühren und Zuzahlungen führen zur sozialen Ausgren-
zung und werden zurückgenommen.

d) Alle Einkommen werden mit einem einheitlichen prozentualen Beitragssatz
belegt.

3. Aufgabenorientierte Ausgabenpolitik

Die durch die Verbreiterung der Einnahmebasis erzielten zusätzlichen Einnah-
men werden zur Stärkung der Finanzierungsbasis der GKV sowie zur Leis-
tungsverbesserung im Rahmen der im gesellschaftlichen Konsens bestimmten
Ziele und zur Beitragsentlastung verwandt.

4. Individueller Versicherungsanspruch

Es gilt das Individualprinzip. Mit der Geburt erhält jeder Mensch einen eigen-
ständigen Krankenversicherungsanspruch. Nicht erwerbstätige Personen ohne
eigene Einkünfte sind beitragsfrei versichert.

5. Gleiche Bedingungen für alle Krankenkassen

Für den geforderten Kassenwettbewerb um Qualität der Versorgung und Leis-
tung müssen die Krankenversicherungen gleiche Startbedingungen haben. Um
Fehlsteuerungen im bestehenden System aufzuheben ist die Einführung eines
morbiditätsorientierten (krankheitsbezogenen) Risikostrukturausgleichs unab-
dingbar. In diesem gegliederten Krankenversicherungssystem ist die Zahl der
Krankenkassen deutlich zu reduzieren.

Zur unmittelbaren Sicherung der GKV-Finanzen ist schon vor der Einführung
einer Bürgerversicherung ein Vorschaltgesetz erforderlich, das folgende Maß-
nahmen beinhalten muss:

● Aufhebung der Kürzungen der Beitragszahlungen für Arbeitslose in die
GKV,

● Beibehaltung des Bundeszuschusses in Höhe von 4,2 Mrd. Euro jährlich
an die GKV, mit der versicherungsfremde Leistungen wie Schwangerschaft
und Mutterschutz finanziert werden,

● Ermäßigung des Steuersatzes für Arznei-, Heil- und Hilfsmittel auf 7 Pro-
zent.

Berlin, den 24. Oktober 2006

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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