BT-Drucksache 16/3027

Beschäftigungspolitik für Ältere - für ein wirtschafts- und arbeitsmarktpolitisches Gesamtkonzept

Vom 18. Oktober 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/3027
16. Wahlperiode 18. 10. 2006

Antrag
der Abgeordneten Kornelia Möller, Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, Klaus Ernst,
Ulla Lötzer, Volker Schneider (Saarbrücken), Dr. Herbert Schui, Dr. Axel Troost,
Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Beschäftigungspolitik für Ältere – für ein wirtschafts- und arbeitsmarktpolitisches
Gesamtkonzept

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Insgesamt fehlen in der Bundesrepublik Deutschland in millionenfacher
Höhe Arbeitsplätze. Eine offensive makroökonomisch fundierte Beschäfti-
gungspolitik zur Schaffung von mehr existenzsichernden Arbeitsplätzen so-
wie eine Arbeitszeitverkürzung sind daher unumgänglich.

2. Wenn es zu wenig Arbeitsplätze – vor allem alterns- und altersgerechte –
gibt, sind gerade unter den derzeitigen Arbeitsmarktbedingungen benach-
teiligte Gruppen besonders von Arbeitslosigkeit betroffen. Ältere sind eine
davon. Eine Verbesserung der Lage Älterer auf dem Arbeitsmarkt ist nur
möglich, wenn insgesamt die Dynamik auf dem Arbeitsmarkt zunimmt und
Beschäftigung aufgebaut wird. Darüber hinaus ist eine sich speziell auf
Benachteiligungen, in diesem Fall Älterer, orientierende Arbeitsmarktpolitik
notwendig.

3. Die Ursachen für die schlechte Arbeitsmarktsituation älterer Menschen sind
vielfältig, weswegen sich pauschale und eindimensionale Lösungsangebote
verbieten. So ist das Arbeitslosigkeitsrisiko für hoch qualifizierte und ge-
sunde Ältere weitaus geringer als für niedrig Qualifizierte mit einem hohen
gesundheitlichen Verschleiß. Wesentliche Bestandteile einer alters- und
alternsgerechten Arbeitsgestaltung mit dem Ziel des Erhalts und des Aus-
baus der Beschäftigungsfähigkeit sind daher Weiterbildung und Arbeits- und
Gesundheitsschutz. Als weiterer wichtiger Grund für die hohe Arbeitslosig-
keit Älterer ist anzuführen, dass öffentlich geförderte Beschäftigungsmög-
lichkeiten für diese Gruppe fehlen, wenn Ältere unter den derzeitigen Rah-
menbedingungen keine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt haben.

4. Der Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit liegt nicht nur in der Hand der Be-
schäftigten und der aktiven Arbeitsförderung, sondern gehört maßgeblich in

den Verantwortungsbereich der Unternehmen. Es kann nicht allein Aufgabe
der Beschäftigten sein, sich an verändernde Arbeitsorganisationen und -auf-
gaben anzupassen, sondern in erster Linie müssen die Unternehmen in die
Pflicht genommen werden, alterns- und altersgerechte Arbeitsbedingungen
zu schaffen, wozu es gesetzlicher Rahmenbedingungen und Verpflichtungen
bedarf.

Drucksache 16/3027 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

5. Die vorherige und auch die jetzige Bundesregierung haben bisher keine
tauglichen Konzepte vorgelegt, um die Beschäftigungssituation Älterer zu
verbessern. Die geplante Rente mit 67 würde deren Situation weiter ver-
schärfen. Die im Rahmen der Initiative „50 plus“ angekündigten Kombi-
lohnvarianten sind weder neu noch tauglich. Kombilöhne führen zu Mit-
nahme- und Verdrängungseffekten. Ältere werden in den Niedriglohnsektor
abgeschoben und ein Absinken des allgemeinen Lohnniveaus bewirkt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

im Zusammenspiel mit einer offensiven Beschäftigungspolitik zur Steigerung
der Nachfrage nach Arbeitskräften ein differenziertes Gesamtkonzept zur Ver-
besserung der Beschäftigungssituation Älterer zu entwickeln und zu verfolgen,
das durch folgende Schwerpunkte charakterisiert ist:

● Die Möglichkeit zur Altersteilzeit muss weitergeführt und weiterentwickelt
werden, indem Altersteilzeit auch als tatsächliche Teilzeit in Form einer ver-
kürzten Wochenarbeitszeit ermöglicht wird, um der realen Belastbarkeit von
älteren Beschäftigten gerecht zu werden.

● Die berufliche Weiterbildung im Betrieb und für Erwerbslose muss gestärkt,
ausgebaut und qualitativ zu einem lebenslangen Lernen auf der Grundlage
eines individuellen Rechts auf Weiterbildung weiterentwickelt werden, um
die individuelle Beschäftigungsfähigkeit zu verbessern sowie das Arbeits-
losigkeitsrisiko zu senken.

● Der Kündigungsschutz für Ältere muss verbessert werden und ab einem
Lebensalter von 55 Jahren und einer Betriebszugehörigkeit von 10 Jahren
ordentliche Kündigungen ausschließen.

● Weitere Einflussmöglichkeiten auf die Personalpolitik der Betriebe bei-
spielsweise durch ein Bonus-/Malus-System in der Arbeitslosenversiche-
rung müssen unter Berücksichtigung möglicher Verdrängungs- und Drehtür-
effekte geprüft werden, um die Anreize zur Entlassung Älterer zu senken
und Einstellungen zu begünstigen. Die seit dem 1. Februar 2006 ersatzlos
gestrichene Erstattungsregel zum Arbeitslosengeld durch den Arbeitgeber
sollte weiterentwickelt und wieder eingeführt werden. Als Beispiel dient das
österreichische Modell, bei dem Einstellungen honoriert werden und Ent-
lassungen von Älteren zu Strafzahlungen führen, die in einen Topf zur
Finanzierung von arbeitsmarktpolitischen Integrationsprojekten fließen.
Ähnliche Bonus-/Malus-Regelungen sind auch hinsichtlich altersgerechter
Arbeitszeitmodelle denkbar.

● Maßnahmen zur Stärkung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes und zur
Vermeidung von gesundheitlichem Verschleiß und von Beeinträchtigungen
des Gesundheitszustandes müssen ergriffen und die Beschäftigungsfähigkeit
Älterer verbessert werden. Belastungen in der Arbeit müssen während des
gesamten Erwerbslebens verringert und die Gesundheitsvorsorge verbessert
werden. Auch hier müssen Anreizsysteme (beispielsweise gekoppelt mit den
Krankenversicherungsbeiträgen der Arbeitgeber) für die Unternehmen ge-
prüft werden, die eine gute betriebliche Gesundheitsförderung durchführen.
Zusätzlich müssen ausreichende, gesetzlich einzuhaltende Qualitätskriterien
für den Gesundheitsschutz entwickelt und ein betriebliches Gesundheits-
management unter Beteiligung von Betriebs- oder Personalräten muss zur
Pflicht werden. Außerdem müssen Erholzeiten erhöht und durch Arbeits-
platzrotation ein Belastungswechsel herbeigeführt werden.

● Konzepte für alters- und alternsgerechte Arbeitsplätze und Arbeitsorganisa-
tion müssen entwickelt werden, um einem frühen Ausscheiden aus dem

Betrieb entgegenzuwirken.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/3027

● Die Beratung der Betriebe zu Weiterbildungsmöglichkeiten, Verbesserung
des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, alters- und alternsgerechter Arbeits-
platzgestaltung und Arbeitszeitmodelle müssen verbessert werden.

● Für auf dem ersten Arbeitsmarkt derzeit Chancenlose muss öffentlich geför-
derte Beschäftigung ermöglicht werden, die sozialversicherungspflichtig ist,
mindestens entsprechend eines Mindestlohns von 8 Euro entlohnt wird und
einen gesicherten Übergang in die Rente darstellt.

Berlin, den 21. September 2006

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Im Jahr 2005 gab es 1,2 Millionen Arbeitslose, die älter als 50 Jahre waren. Die
Arbeitslosenquote der 50- bis 65-Jährigen liegt mit rund 18 Prozent deutlich
über dem Durchschnitt und die Beschäftigungsquote der 55- bis 64-Jährigen
betrug im Jahr 2004 lediglich 41,4 Prozent. Die Verbesserung der Lage Älterer
auf dem Arbeitsmarkt ist daher dringend geboten.

Eine wirksame Beschäftigungspolitik für Ältere kann nur als wirtschafts- und
arbeitsmarktpolitisches Gesamtkonzept Erfolg haben, Flickschusterei, wie bis-
her im Zusammenhang mit der Initiative „50 plus“ angekündigt, reicht hierzu
nicht aus. Auch Jutta Allmendinger, Direktorin des Institutes für Arbeitsmarkt
und Berufsforschung (IAB) weist in einem Artikel der „Berliner Zeitung“ vom
13. September 2006 darauf hin, dass die Pläne von Franz Müntefering an der
Realität vorbei gingen. „Wir haben herausgefunden, dass Betriebe kaum wegen
Lohnzuschüssen einstellen“, sagt Jutta Allmendinger. Vielmehr würden die Be-
triebe einstellen, wenn sie aufgrund einer verbesserten Auftragslage zusätzli-
chen Bedarf an Arbeitskräften haben. Daher muss neben den oben aufgeführten
spezifischen Ansätzen zur Verbesserung der Beschäftigungssituation Älterer
vor allem die Nachfrage nach Arbeitskräften gesteigert werden. Dazu müssen
die Finanz-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik beschäftigungsfördernd aus-
gerichtet werden. Hierzu gehören als erste Schritte ein Zukunftsinvestitions-
programm, ein gerechteres Steuersystem, die Unterstützung einer produktivi-
tätsorientierten Lohnpolitik und die Einführung eines gesetzlichen Mindest-
lohns in Höhe von 8 Euro die Stunde.

Zu einer offensiven Beschäftigungspolitik gehört auch der Verzicht auf eine
Verlängerung der Lebensarbeitszeit durch eine Erhöhung des Renteneintritts-
alters auf 67 Jahre. In einer aktuellen IAB-Studie wurde herausgefunden,
dass durch die Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre im Jahr 2030 mindes-
tens 1,2 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze erforderlich sein werden, wodurch
die Situation noch weiter verschärft wird. Stattdessen muss die wöchentliche
Arbeitszeit verkürzt werden, um die vorhandene Arbeit gerechter zu verteilen
und gesundheitliche Belastungen gerade für ältere Beschäftigte zu reduzieren.
Zudem muss eine weitere Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse und
der Abbau sozialversicherungspflichtiger Arbeitsverhältnisse aufgehalten wer-
den, indem als erste Schritte ein gesetzlicher Mindestlohn zur Verhinderung
von Prekär- und Armutslöhnen eingeführt wird, die Regelungen zur gering-
fügigen Beschäftigung abgeschafft werden, die Sozialversicherungspflicht auf
alle Erwerbstätigen ausgeweitet wird (auch Selbständige und Beamte), Be-

fristungsmöglichkeiten eingeschränkt werden und das Prinzip des „Equal Pay“
in der Leiharbeit festgeschrieben wird.

Drucksache 16/3027 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
Ein wichtiger Grund für die hohe Arbeitslosigkeit Älterer ist die mangelnde be-
rufliche Weiterbildung. Diese muss verstärkt vor allem präventiv während des
Berufslebens und nicht erst bei eingetretener Erwerbslosigkeit durchgeführt
werden und allen zur Verfügung stehen. Momentan gibt es eine stark unter-
schiedlich ausgeprägte Weiterbildungsteilnahme. Während sie bei hoch Quali-
fizierten recht gut ist, haben knapp drei Viertel der über 45-Jährigen ohne Be-
rufsabschluss noch nie an einer Weiterbildung teilgenommen. Hinzu kommt als
weitere wichtige Ursache für das häufig frühe Ausscheiden aus der Erwerbs-
tätigkeit, dass der gesundheitliche Verschleiß in vielen Berufen sehr hoch ist.
Bisher ist es wegen schlechter Arbeitsbedingungen und hohen Gesundheits-
belastungen für einige Berufsgruppen nur schwer möglich, die Regelalters-
grenze für die abschlagsfreie Rente wegen Alters zu erreichen. Dies ist bei-
spielsweise nur bei 53 Prozent der Maurer oder bei 53 Prozent der Schweißer
der Fall.

Die Bundesrepublik Deutschland bleibt im europäischen Vergleich, bezogen auf
die Beschäftigungsquoten Älterer, hinter vielen Staaten zurück. Bisher wurde zu
wenig für den Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit durch Qualifizierung und
verstärkten Arbeits- und Gesundheitsschutz getan. Auch im internationalen Ver-
gleich ist das Niveau der beruflichen Weiterbildung in der Bundesrepublik
Deutschland auf einem sehr niedrigen Stand angelangt.

In vielen europäischen Ländern sind zudem – im Gegensatz zu Deutschland –
die umfassenden beruflichen und sozialen Kompetenzen älterer Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer besonders gefragt. Internationale Unternehmen schät-
zen mit steigender Tendenz diese Gruppe abhängig Beschäftigter wegen ihrer
Qualifikationen und vielseitigen Fähigkeiten, die jüngere Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer erst erwerben müssen. Die deutsche Wirtschaft ist jetzt und
vor allem zukünftig auf die umfassenden Kompetenzen älterer Erwerbstätiger
angewiesen.

Die bisherigen und auch die geplanten Initiativen der vorherigen und der jetzi-
gen Bundesregierung tragen nicht zur Lösung der Probleme bei, sondern ver-
stärken diese. Sie setzen bisher vor allem auf Deregulierung und die Aus-
weitung des Niedriglohnsektors, was die Unsicherheit für Ältere eher noch
erhöht. So wurden etwa für Ältere die Befristungsmöglichkeiten erleichtert,
obwohl dies auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine
Form von Altersdiskriminierung darstellt. Zudem wurde im Zwischenbericht
der Hartz I bis III Evaluation konstatiert, dass die erleichterte Befristung keine
Beschäftigungswirkung mit sich bringt. Die nun geplante Rente mit 67 stellt
faktisch eine Rentenkürzung dar und setzt Ältere noch stärker dem Risiko der
Arbeitslosigkeit und Armut im Alter aus. Mit der Initiative „50 plus“ soll zwar
gegengesteuert werden, aber weder die so genannte Entgeltsicherung noch Ein-
gliederungszuschüsse, die hier eine wichtige Rolle spielen sollen und die es bis-
her schon gab, konnten die Beschäftigungssituation von Älteren auf dem Ar-
beitsmarkt nachhaltig verbessern.

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