BT-Drucksache 16/2747

Nein zur Rente ab 67

Vom 26. September 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/2747
16. Wahlperiode 26. 09. 2006

Antrag
der Abgeordneten Klaus Ernst, Katja Kipping, Karin Binder, Dr. Lothar Bisky,
Dr. Martina Bunge, Diana Golze, Inge Höger-Neuling, Elke Reinke, Dr. Ilja Seifert,
Volker Schneider (Saarbrücken), Frank Spieth, Jörn Wunderlich, Dr. Gregor Gysi,
Oskar Lafontaine und der Fraktion DIE LINKE.

Nein zur Rente ab 67

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das Vorhaben der Bundesregierung, das Eintrittsalter für die abschlagsfreie
Regelaltersrente von 65 auf 67 Jahre anzuheben, ist arbeitsmarkt- und sozial-
politisch kontraproduktiv, birgt das Risiko erheblicher sozialer Verwerfungen
in sich und ist zudem nicht geeignet, die Finanzierungsbasis der gesetzlichen
Rentenversicherung zu stabilisieren. Die Anhebung des gesetzlichen Renten-
eintrittsalters auf 67 Jahre bedeutet eine weitere drastische Rentenkürzung. Sie
ist eine Bestrafung all derer, die wegen Arbeitslosigkeit oder aus gesundheit-
lichen Gründen die geltende Altersgrenze nicht erreichen und nach der geplan-
ten Änderung mit zusätzlichen Abschlägen in Rente gehen müssen. Die Erhö-
hung der Altersgrenze verschärft den Verdrängungswettbewerb auf dem ersten
Arbeitsmarkt und wird voraussichtlich zu einer noch höheren Arbeitslosigkeit
unter Älteren und – in Verbindung mit den bereits gesetzlich festgelegten Leis-
tungskürzungen in der gesetzlichen Rentenversicherung – zu vermehrter
Altersarmut führen. Gesetzgeberische Maßnahmen dürfen aber nicht dazu bei-
tragen, dass sich für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Lebensab-
schnitte verlängern, die durch Arbeitslosigkeit, Niedrigeinkommen und Alters-
armut gekennzeichnet sind. Die geplante Ausnahmeregelung, nach der
Versicherte mit mindestens 45 Beitragsjahren wie bisher mit 65 Jahren ab-
schlagsfrei in Rente gehen können, geht an den gesellschaftlichen Realitäten
vorbei. Sie benachteiligt insbesondere Frauen und Versicherte mit langen
Arbeitslosigkeitszeiten, da diese die Vorbedingungen für einen früheren
Rentenbezug in den meisten Fällen nicht erreichen werden. Die bisher bekannt
gewordenen Pläne der Bundesregierung zur Verbesserung der Beschäftigungs-
situation älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind unzureichend und
gehen in die falsche Richtung, da sie vor allem auf Deregulierung des Arbeits-
marktes und den Ausbau des Niedriglohnsektors setzen. Die Anhebung des
Renteneintrittsalters für die abschlagsfreie Regelaltersrente geht nicht nur an

den Bedürfnissen und Wünschen der Bevölkerung vorbei, sondern stellt die
Bundesrepublik Deutschland innerhalb Europas auf eine Außenseiterposition.

Drucksache 16/2747 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. auf eine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 Jahre zu
verzichten und es bei der derzeit geltenden Altersgrenze von 65 Jahren zu
belassen,

2. eine sozial gerechte Rentenreform vorzubereiten, die die Veränderungen in
der Arbeitswelt berücksichtigt und insbesondere die Normalitätsannahme
der so genannten Eckrente mit 45 Beitragsjahren hinterfragt,

3. die Erwerbsminderungsrente so zu reformieren, dass Menschen, die aus
gesundheitlichen Gründen vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden
müssen, der Zugang in die Erwerbsminderungsrente erleichtert und diese
ohne Abschläge gewährt wird,

4. die gesetzliche Rentenversicherung zu einer solidarischen Erwerbstäti-
genversicherung umzubauen, in die alle Berufsgruppen, Freiberufler, Selb-
ständige, Abgeordnete und in einem längeren Prozess auch Beamtinnen und
Beamte einbezogen werden, um so die Finanzierungsbasis zu verbreitern,

5. ihre Anstrengungen darauf zu richten, durch eine makroökonomisch fun-
dierte Finanz-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik die Arbeitslosigkeit zu
senken, den Abbau sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zu stoppen
und eine Lohnpolitik zu unterstützen, die Beschäftigte und Rentnerinnen
und Rentner wieder angemessen an Produktivität und wirtschaftlichen
Wachstum beteiligt,

6. die Beschäftigungsmöglichkeiten älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer und die Teilhabe am Erwerbsleben durch die Förderung von Weiterbil-
dung und lebenslangem Lernen, einem besseren Arbeits- und Gesundheits-
schutz, das Einwirken auf die betriebliche Einstellungs- und Personalpolitik
sowie die Schaffung öffentlich geförderter Beschäftigung deutlich zu ver-
bessern.

Berlin, den 26. September 2006

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Die Anhebung der Altersgrenze ist entgegen anders lautenden Aussagen der
Bundesregierung kein geeignetes Mittel, um die Finanzierungsbasis der gesetz-
lichen Rentenversicherung zu stabilisieren: Die finanziellen Entlastungen
durch die Anhebung der Regelaltersgrenze sind gering. Sie betragen maximal
0,3 bis 0,5 Beitragspunkte, da der Nachhaltigkeitsfaktor sowie die Ausnahme-
regelung für Beitragszahlerinnen und Beitragszahler mit 45 Beitragsjahren den
Großteil der finanziellen Gewinne durch die Anhebung der Altersgrenze wie-
der zunichtemacht. Die Ursachen für die Finanzkrise der Rentenversicherung
sind außerdem weniger dem demografischen Wandel als vielmehr der hohen
Arbeitslosigkeit, der Zunahme nicht versicherungspflichtiger Beschäftigungs-
verhältnisse und der schwachen Lohnentwicklung geschuldet. Hier gilt es anzu-
setzen, um die Rentenkassen spürbar und nachhaltig zu stabilisieren. Zudem
könnte durch die Umwandlung der gesetzlichen Rentenversicherung in eine
Erwerbstätigenversicherung, in die alle Berufsgruppen und auch Selbständige
einzahlen, die Solidar- und Finanzierungsbasis der Rentenversicherung erwei-

tert werden.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/2747

Die Anhebung des gesetzlichen Rentenalters auf 67 Jahre birgt aber erhebliche
soziale Risiken in sich. Bereits heute entsprechen die Erwerbsbiografien der
meisten Beschäftigten den Anforderungen an den so genannten Eckrentner
(Durchschnittsverdienerinnen/Durchschnittsverdiener mit 45 Beitragsjahren)
nicht mehr. Männer können im Durchschnitt 41 Beitragsjahre vorweisen,
Frauen nur 26. Von den 55- bis 64-Jährigen standen im Jahr 2003 nur noch rund
40 Prozent im Erwerbsleben. Nur ein Fünftel der Neurentnerinnen und Neu-
rentner wechselt direkt aus einer versicherungspflichtigen Beschäftigung in den
Ruhestand. Die überwiegende Mehrzahl bezieht die Rente nach einer Phase der
Arbeitslosigkeit, der Altersteilzeit, der geringfügigen Beschäftigung oder der
Nichterwerbstätigkeit. Zwei Drittel aller Rentnerinnen und Rentner erreichen
aufgrund von frühzeitigem Rentenbeginn und den damit verbundenen Abschlä-
gen schon jetzt nicht die volle Altersrente. Das faktische Renteneintrittsalter ist
zwar gestiegen, liegt aber nach wie vor bei Männern nur bei 63,1 Jahren (West)
bzw. 62 Jahren (Ost), bei Frauen bei 63,3 Jahren (West) bzw. bei 61 Jahren
(Ost). Die Lage Älterer auf dem Arbeitsmarkt ist nach wie vor schlecht. Die
Arbeitslosigkeit liegt bei den 50- bis unter 65-Jährigen mit gut 18 Prozent deut-
lich höher als die der gesamten Bevölkerung. Mehr als die Hälfte der Betriebe
in Deutschland beschäftigt keine Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über
50 Jahre. Wie auch der Fünfte Bericht zur Lage der älteren Generation in der
Bundesrepublik Deutschland feststellt, wird es auch in Zukunft vielen Beschäf-
tigten gar nicht möglich sein, bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter in einem
gesicherten und auskömmlichen Beschäftigungsverhältnis zu arbeiten.

Die von der Bundesregierung und vielen Experten genährten Hoffnungen, dass
sich die Lage für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf dem Arbeits-
markt in absehbarer Zeit merklich verbessern wird, sind irreal. Selbst die sog.
Rürup-Kommission geht in ihren zu optimistischen Prognosen davon aus, dass
die Arbeitslosigkeit 2010 noch bei 10 Prozent liegen und selbst bis 2020 nicht
unter 7 Prozent sinken wird. Nach Schätzungen anderer Experten wird die
Unterbeschäftigung noch bis zum Jahr 2030 größer sein als der Rückgang des
Erwerbspersonenpotenzials. Außerdem werden von einer zukünftig eventuell
verstärkten Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften gering Qualifizierte
nicht profitieren und in höherem Alter weiterhin von einem hohen Arbeitslosig-
keitsrisiko betroffen sein. Bisher hat die Bundesregierung keine Strategien ent-
wickelt, die geeignet wären, die Lage Älterer am Arbeitsmarkt deutlich zu
verbessern. Insbesondere fehlt es an Konzepten, wie die betriebliche Personal-
politik beeinflusst werden, der Arbeitsplatz- und Gesundheitsschutz verbessert,
altengerechte Arbeitsplätze und Arbeitszeitmodelle entwickelt und die Formel
vom lebenslangen Lernen in der beruflichen Realität umgesetzt werden kann.

Deshalb ist die Erhöhung des gesetzlichen Rentenalters sowohl aus arbeits-
marktpolitischen als auch aus sozialpolitischen Gründen abzulehnen. Sie ver-
schärft für viele Menschen die Probleme des Übergangs von Erwerbsarbeit in
die Rente und die Einkommenssituation im Alter. Entweder müssen noch grö-
ßere Differenzen zwischen tatsächlichem und gesetzlichem Renteneintrittsalter
durch Abschläge „bezahlt“ werden oder die Übergangsphasen zwischen dem
Ende der (vollen) Erwerbstätigkeit und der Rente werden länger und prekärer.
Wenn eine stärkere Integration der Älteren in existenzsichernde Erwerbstätig-
keit bis zum gesetzlichen Rentenalter nicht gelingt, bedeutet die Heraufsetzung
der Regelaltersgrenze noch zusätzliche Rentenkürzungen durch Abschläge.
Denn diejenigen, die das Renteneintrittsalter von 67 Jahren nicht erreichen,
müssen mit Abschlägen von bis zu 7,2 Prozent in Rente gehen. Außerdem
entgehen ihnen durch die mangelnde Möglichkeit weiterer Erwerbstätigkeit
zusätzliche Entgeltpunkte. Besonders hart trifft dies Arbeitslose. Denn auf-
grund einer bis Ende 2007 befristeten Übergangsregelung müssen Arbeits-

losengeld-II-Bezieherinnen und -Bezieher künftig zum frühestens möglichen
Zeitpunkt unter Inkaufnahme der entsprechenden Abschläge Altersrente be-

Drucksache 16/2747 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
antragen. Da auch die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I zum 1. Februar
2006 drastisch verkürzt worden ist und die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit
zum Jahr 2012 abgeschafft wird, bedeutet die Erhöhung der Regelaltersgrenze
für viele die Entlassung in eine Rente mit hohen Abschlägen und damit in die
Altersarmut.

Die Erhöhung des gesetzlichen Rentenalters lässt sich auch nicht damit rechtfer-
tigen, dass die heutigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in höherem Alter
im Durchschnitt gesünder und leistungsfähiger seien als ihre Kollegeninnen und
Kollegen in früheren Zeiten. Dies trifft längst nicht auf alle zu und variiert stark
nach Berufsfeld und Qualifikationsgrad. Zwar nehmen körperliche Belastungen
in vielen Bereichen ab, psychische Beanspruchungen jedoch zu. Zudem gibt es
nach wie vor eine Reihe von Branchen und Berufen, in denen die Beschäftigten
hohen Belastungen ausgesetzt sind, so dass die wenigsten von ihnen ihre Tätig-
keit bis zum Renteneintritt fortführen können. Menschen, die aus gesundheitli-
chen Gründen aus dem Erwerbsleben ausscheiden müssen, dürfen aber nicht mit
Abschlägen bei der gesetzlichen oder der Erwerbsminderungsrente bestraft wer-
den. Dass Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten, die vor dem 60. Lebensjahr
in Anspruch genommen werden, gesetz- und grundrechtswidrig sind, hat kürz-
lich auch das Bundessozialgericht (Teilurteile vom 16. Mai 2006, B4 RA 22/
05 R) festgestellt. Selbst wenn im Übrigen für Ältere eine Verbesserung ihrer Ar-
beitsmarktsituation einträte, bedürfte dies keiner gesetzlichen Veränderungskor-
rektur.

Nachdem in Dänemark das Eintrittsalter zur gesetzlichen Rente von 67 auf
65 Jahre gesenkt wurde, gilt in keinem Land der Europäischen Union ein
Eintrittsalter für die abschlagsfreie Regelaltersrente, das höher als 65 Jahre
liegt. In manchen Ländern bewegt sich das gesetzliche Renteneintrittsalter
sogar deutlich darunter. Die Bundesregierung würde Deutschland mit ihrem
Vorhaben daher innerhalb Europas auf eine Außenseiterposition stellen.

Schließlich wollen die meisten Beschäftigten nicht länger arbeiten, 74 Prozent
würden sogar lieber eher als mit 65 Jahren in den Ruhestand gehen. Damit geht
die Rente mit 67 auch an den Wünschen und Bedürfnissen der Bevölkerung
vorbei.

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