BT-Drucksache 16/2743

Für ein menschenwürdiges Existenzminimum

Vom 26. September 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/2743
16. Wahlperiode 26. 09. 2006

Antrag
der Abgeordneten Klaus Ernst, Katja Kipping, Karin Binder, Dr. Lothar Bisky,
Dr. Martina Bunge, Diana Golze, Inge Höger-Neuling, Elke Reinke, Dr. Ilja Seifert,
Volker Schneider (Saarbrücken), Frank Spieth, Jörn Wunderlich, Dr. Gregor Gysi,
Oskar Lafontaine und der Fraktion DIE LINKE.

Für ein menschenwürdiges Existenzminimum

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Knapp 7,5 Millionen Erwachsene und Kinder in diesem Land müssen von Leis-
tungen der Grundsicherungssysteme nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch
(SGB II) oder SGB XII leben. Die derzeitige Höhe der Regelsätze in diesen
Grundsicherungssystemen, die die Bundesregierung mit ihrem Entwurf einer
Regelsatzverordnung fortschreiben will, ist aber zu niedrig, um das soziokultu-
relle Existenzminimum zu gewährleisten und Armut zu verhindern. Millionen
Menschen in diesem Land werden damit von gesellschaftlicher Teilhabe aus-
geschlossen. Grundsicherungsbezieher und Grundsicherungsbezieherinnen
drohen durch die Kopplung des Regelsatzes an die Rentenentwicklung und die
Erhöhung der Mehrwertsteuer außerdem Kaufkraftverluste und eine Unter-
schreitung des Existenzminimums. Aber nicht nur die Leistungshöhe und ihre
Fortschreibung, auch das Verfahren der Regelsatzbestimmung ist problema-
tisch. Der Aufbau der Regelsätze ist nicht geeignet, die Bedarfe von Erwachse-
nen und Kindern adäquat abzubilden. Das Verfahren der Regelsatzbemessung
nach dem so genannten Statistikmodell ist immer weniger in der Lage, ein ver-
lässliches unterstes soziales Netz im Sozialstaat zu definieren. Die weitgehende
Abschaffung der individualisierten Einmal- und Sonderleistungen hat zu nicht
hinnehmbaren sozialen Härten geführt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf,

1. als einen ersten Schritt auf dem Weg zu einer sozialen Grundsicherung den
Regelsatz der Grundsicherungssysteme nach SGB II und SGB XII zeitnah
auf 420 Euro zu erhöhen;

2. die Fortschreibung der Regelsätze künftig nach der Entwicklung der Lebens-
haltungskosten und nicht nach dem aktuellen Rentenwert vorzunehmen;
3. ein Verfahren zur Bestimmung und zum Aufbau der Regelsätze zu ent-
wickeln, das den spezifischen Bedarfslagen von Erwachsenen, Kindern und
Jugendlichen gerecht wird;

4. unter Beteiligung von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, Wohl-
fahrtsverbänden und Betroffenenorganisationen ein Bedarfsbemessungssys-
tem zu erarbeiten, das sich nicht allein am Verbrauchsverhalten der unteren

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Einkommensgruppen orientiert, sondern die Bedarfsdeckung und die Siche-
rung gesellschaftlicher Teilhabe ins Zentrum stellt;

5. eine Öffnungsklausel zu schaffen, die es ermöglicht notwendige zusätzliche
Bedarfe zu decken und dem sozialrechtlichen Individualisierungsgebot
Rechnung zu tragen.

Berlin, den 26. September 2006

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Das staatlich festgesetzte soziokulturelle Existenzminimum, das die Leistungs-
höhe in den steuerfinanzierten Grundsicherungssystemen bestimmt, ist immer
weniger in der Lage, den vielen Menschen, die mit ihm auskommen müssen, ein
Leben in Würde zu garantieren und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.
Statt jedoch ein menschenwürdiges Existenzminimum zu schaffen, das sich am
Grundsatz der Sicherung gesellschaftlicher Teilhabe orientiert, wird immer wie-
der die weitere Absenkung des Leistungsniveaus gefordert. Die Existenz skan-
dalös niedriger Löhne in Teilen des Arbeitsmarkts wird zum Anlass genommen,
das soziokulturelle Existenzminimum in Frage zu stellen, anstatt dafür zu sorgen,
dass die Löhne und Gehälter, die am Arbeitsmarkt gezahlt werden, vor Armut
und Angewiesenheit auf staatliche Transferleistungen schützen. Mit der Be-
hauptung, Arbeit würde sich nicht mehr lohnen, wird versucht, eine Absenkung
der staatlichen Unterstützungsleistungen zu rechtfertigen. Wie Sozialverbände
und Sozialexperten und Sozialexpertinnen nachgewiesen haben, wird das Lohn-
abstandsgebot jedoch gegenwärtig in der Regel nicht verletzt und würde auch
bei einer deutlichen Erhöhung der Regelsätze in den meisten Fällen nicht be-
rührt. Wo es dennoch zu Überschneidungen zwischen niedrigen Löhnen und
Transferleistungen kommt, muss diese nicht durch Senkung der Unterstützungs-
leistungen, sondern durch Erhöhung von Löhnen und Erwerbstätigengfreibeträ-
gen aufgelöst werden. Auch das Argument, eine Erhöhung des soziokulturellen
Existenzminimums und die damit verbundene Schaffung menschenwürdiger
Existenzbedingungen für Millionen von Menschen sei nicht finanzierbar, ver-
mag nicht zu überzeugen, wenn gleichzeitig die Unternehmenssteuern weiter
gesenkt und Erben und Erbinnen großer Vermögen entlastet werden und die
Regierung dadurch auf weitere Steuereinnahmen in Milliardenhöhe verzichtet.

Zu Nummer 1

Die Regelsatzverordnung vom 3. Juni 2004, die seit der Einführung des SGB
XII die Grundlage für die neuen Regelsätze bildete, ist bei Fachleuten auf
massive Kritik gestoßen, da bei einzelnen Ausgabenposten zum Teil deutliche
prozentuale Abschläge vorgenommen wurden, die sachfremd und fehlerhaft
begründet waren und offenbar dem gezielten Kleinrechnen von Ansprüchen
dienten. Zwar hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales bei der nun
vorgenommenen Neubestimmung des Eckregelsatzes auf Basis der Einkom-
mens- und Verbrauchsstichprobe von 2003 diese sachfremden Abschläge teil-
weise zurückgenommen. Wie der Paritätische Wohlfahrtsverband in seiner
Expertise (Martens 2006) zeigt, werden aber nach wie vor bestimmte Bedarfe
nur unzureichend berücksichtigt. So werden insbesondere in den Abteilungen
„Nahrung, Getränke, Tabak u. Ä.“, „Gesundheitspflege“, „Verkehr“, „Nachrich-

tenübermittlung“ und „Bildungswesen“ weiterhin Abschläge vorgenommen, die
fachlich nicht begründbar sind und an den tatsächlichen Bedarfen der Betroffe-

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nen vorbeigehen. Ferner werden bei der Neubestimmung des Regelsatzes Preis-
steigerungen, die seit Erhebung der Datenbasis stattgefunden haben, nicht be-
rücksichtigt. Der Regelsatz von 345 Euro ist deshalb zu niedrig bemessen, um
die verfassungsmäßigen Vorgaben an das soziokulturelle Existenzminimum zu
erfüllen, und müsste um wenigstens 20 Prozent erhöht werden. Die Erhöhung
des Regelsatzes auf 420 Euro berücksichtigt die neuen Berechnungen des Pari-
tätischen Wohlfahrtsverbands. Sie kann aber nur ein erster Schritt auf dem Weg
zu einer bedarfsorientierten sozialen Grundsicherung sein, deren Höhe sich an
der Armutsrisikogrenze orientiert.

Zu Nummer 2

Mit der Einführung der „Riester-Rente“ 2001 und dem Rentenversicherungs-
nachhaltigkeitsgesetz von 2004 wurde die Rentenanpassungsformel modifiziert.
Durch die so genannte Riester-Treppe wirkt sich seitdem der Verbreitungsgrad
der privaten Altersvorsorge und durch den Nachhaltigkeitsfaktor das Verhältnis
von Beitragszahlern und Beitragszahlerinnen und Rentnern und Rentnerinnen
dämpfend auf die Entwicklung des aktuellen Rentenwertes aus. Zwar wird durch
die Niveausicherungsklausel ausgeschlossen, dass es zu Minusrunden bei der
Rente kommt. Der Zuwachs der Bruttolöhne muss aber mindestens 1,1 Prozent
betragen, damit überhaupt Rentensteigerungen zustande kommen. In Verbin-
dung mit der schlechten Lohnentwicklung haben die Dämpfungsfaktoren bereits
2005 und 2006 zu Nullrunden bei der Rente geführt und auch bis 2009 sind
voraussichtlich keine Rentensteigerungen zu erwarten. Da der für die Grund-
sicherung für Arbeitsuchende und das SGB XII maßgebliche Regelsatz regulär
nur alle fünf Jahre neu bestimmt und in der Zwischenzeit gemäß der Entwick-
lung des aktuellen Rentenwertes fortgeschrieben wird, bedeuten Nullrunden bei
der gesetzlichen Rente auch Nullrunden bei den Regelsätzen. Bei Stagnation der
Höhe von Transferleistungen kommt es durch Preissteigerungen aber zu realen
Kaufkraftverlusten, die aufgrund der Mehrwertsteuererhöhung im nächsten Jahr
besonders deutlich ausfallen werden. Diese Kaufkraftverluste sind bei den
Grundsicherungssystemen besonders problematisch, da sie hier das soziokul-
turelle Existenzminimum betreffen, das keine Spielräume aufweist und durch
Mehrbelastungen unterschritten wird. Um das Niveau der Grundsicherungen
nicht der politisch forcierten Erosion preiszugeben, muss die Regelsatzanpas-
sung daher auf eine andere Basis gestellt und gemäß der Entwicklung der
Lebenshaltungskosten vorgenommen werden.

Zu Nummer 3

Bei der Bestimmung der Regelsätze nach dem so genannten Statistik-Modell
werden als Referenzgruppe die Haushalte volljähriger Alleinstehender ohne
Sozialhilfebeziehende zugrunde gelegt. Bei dieser Gruppe handelt es sich zu
einem überproportional hohen Anteil um ältere Menschen, die in der Regel ge-
ringere Ausgaben tätigen als jüngere, also gerade für das Verbrauchsverhalten
von Familien mit Kindern nicht repräsentativ sind. Außerdem liegen die Kon-
sumausgaben der Referenzgruppe über ihren monatlichen Einnahmen; sie muss
sich also „entsparen“ bzw. verschulden, um ihren Lebensunterhalt zu finanzie-
ren. Der vorliegende Regelsatzverordnungsentwurf bezieht sich zudem auf
Daten, die zu einem Zeitpunkt erhoben wurden, zu dem eine erhebliche Dunkel-
ziffer bei der Inanspruchnahme von Sozialhilfe bestand, die Verbrauchsaus-
gaben der Referenzgruppe also durch eine hohe Zahl „verdeckter Armer“ nach
unten gedrückt wurden. Besonders problematisch am Bestimmungsverfahren
und am Aufbau der Regelsätze ist die Ableitung des Bedarfs von Kindern und
Jugendlichen aus dem Verbrauchsverhalten der Referenzgruppe, da in dieser
kinder- und jugendspezifische Bedarfe überhaupt nicht berücksichtigt sein kön-
nen. Auch lassen sich diese nicht einfach durch erwachsenenspezifische Ausga-

ben wie für Tabak oder Alkohol ausgleichen. Um den Bedürfnissen von Kindern
und Jugendlichen gerecht zu werden, bedarf es daher eines anderen Verfahrens,

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das in der Lage ist, die spezifischen Bedarfslagen dieser Gruppe angemessen
abzubilden.

Zu Nummer 4

Das Verfahren zur Bestimmung des soziokulturellen Existenzminimums gemäß
dem Statistikmodell nach § 28 Abs. 2 SGB XII ist aber auch insgesamt proble-
matisch, da es sich an den Einkommen und Verbrauchsgewohnheiten der unteren
20 Prozent der Bevölkerung orientiert, und nicht an real vorhandenen Bedarfen
von Grundsicherungsbeziehern und -bezieherinnen. Bei einer Verarmung der
unteren Einkommensgruppen und einer Ausweitung von Niedriglohnsektoren,
wie sie gegenwärtig stattfinden und die durch den politisch forcierten Ausbau des
Niedriglohnsektors sowie die Erhöhung der Mehrwertsteuer noch befördert wur-
den, hat dies zur Konsequenz, dass auch das soziokulturelle Existenzminimum,
das das letzte soziale Netz im Sozialstaat bildet, unter Druck gerät. Eine Be-
messung des Existenzminimums, die ausschließlich auf die Entwicklung der
unteren Einkommensgruppen abstellt, kann unter diesen Bedingungen dem
durch Artikel 1 Abs. 1 sowie Artikel 20 des Grundgesetzes verankerten staat-
lichen Auftrag, die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein
zu schaffen, nicht mehr gerecht werden. Es gilt daher unter Einbeziehung von
Fachleuten und Betroffenen mittelfristig neue Verfahren zur Bemessung des
soziokulturellen Existenzminimums zu entwickeln, die Bedarfe auch qualitativ
ermitteln und sich an der Sicherstellung armutsfester Grundsicherungsleistungen
und gesellschaftlicher Teilhabe orientieren.

Zu Nummer 5

Die weitgehende Pauschalierung der früheren Leistungen für einmalige und
Sonderbedarfe wird dem Bedarf der Menschen in zahlreichen Einzelfällen nicht
gerecht, führt zu nicht hinnehmbaren Härten und widerspricht dem sozialstaat-
lichen Individualisierungsgebot. Daher ist eine Öffnungsklausel erforderlich,
die auch künftig die Deckung solch notwendiger Bedarfe ermöglicht.

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