BT-Drucksache 16/1498

Rechtsextremismus ernst nehmen - Bundesprogramme Civitas und entimon erhalten, Initiativen und Maßnahmen gegen Fremdenfeindlichkeit langfristig absichern

Vom 17. Mai 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1498
16. Wahlperiode 17. 05. 2006

Antrag
der Abgeordneten Monika Lazar, Irmingard Schewe-Gerigk, Kerstin Andreae,
Volker Beck (Köln), Cornelia Behm, Kai Boris Gehring, Britta Haßelmann, Undine
Kurth (Quedlinburg), Jerzy Montag, Brigitte Pothmer, Claudia Roth (Augsburg),
Silke Stokar von Neuforn, Dr. Harald Terpe, Wolfgang Wieland, Josef Philip Winkler
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Rechtsextremismus ernst nehmen – Bundesprogramme Civitas und entimon
erhalten, Initiativen und Maßnahmen gegen Fremdenfeindlichkeit langfristig
absichern

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus wachsen schlei-
chend und unterhöhlen zunehmend den demokratischen Grundkonsens in
Deutschland. Es gibt bereits ganze Orte oder Stadtteile, in denen eine rechts-
extreme Jugendszene die dominierende, gelegentlich sogar die einzige zur
Normalität gewordene Jugendkultur darstellt. Für Migrantinnen und Migranten,
für ausländische Besucherinnen und Besucher oder für fremdländisch ausse-
hende Deutsche und zunehmend auch für Andersdenkende sind diese Regionen
Angstzonen. Der Verfassungsschutz warnt vor dem Anwachsen rechtsextremer
Gewalt und weist auf bundesweit steigende Opferzahlen hin. In 134 Fällen fan-
den in den Jahren 1989 bis 2004 die Opfer den Tod. Wenn Neonazis ausländisch
aussehende Menschen angreifen, schauen Zeugen oft schweigend weg. Dadurch
fühlen sich die Täter bestätigt und halten ihr Vorgehen für legitim.

Das Erscheinungsbild der Neonazis hat sich geändert. Nicht alle tragen Sprin-
gerstiefel und Bomberjacken. Aus der Mitte der Gesellschaft werden zuneh-
mend demokratiefeindliche Haltungen vertreten. Die steigende Zahl rechts-
extremer Mandatsträger in Kommunal- und Länderparlamenten in den vergan-
genen Jahren macht diese gefährliche Entwicklung für jeden erkennbar. Auch
Ausländerhass in deutschen Fußballstadien sorgt häufig für Schlagzeilen. Frem-
denfeindlichkeit scheint gesellschaftsfähig geworden zu sein, zumal sich rechts-
extreme Organisationen zunehmend auch sozialer Themen annehmen und eine
antikapitalistische Terminologie verwenden.

Rechtsextremismus ist ein gesamtdeutsches Phänomen mit großer Brisanz. In

den neuen Bundesländern treten damit verbundene Probleme besonders ver-
schärft auf. Der Kampf gegen den Rechtsextremismus ist nur zu gewinnen,
wenn alle staatlichen Ebenen und demokratischen Kräfte in der Gesellschaft
zusammenwirken. Um Rechtsextremismus erfolgreich zu isolieren und zurück-
zudrängen, muss ein breiter gesellschaftlicher Konsens gegen Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit hergestellt werden. Eine starke Zivilgesellschaft ist unver-
zichtbar. Die Bundesregierung trägt dabei eine besonders große Verantwortung

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für das gesamte Land. Von ihr sind zu allen Zeiten entscheidende Impulse für die
öffentliche Meinungsbildung ausgegangen. Auch Wirtschaft und Wissenschaft
sind aufgefordert, sich aktiv gegen den Rechtsextremismus zu engagieren.
Fremdenhass wird zunehmend zum Problem für den internationalisierten Wis-
senschafts- und Wirtschaftstandort Deutschland, wenn sich ausländische Studie-
rende, Forscher, Fachkräfte und Arbeitnehmer in manchen Regionen durch
Rechtsextreme zunehmend bedroht fühlen. Leugnen und Verdrängen des Pro-
blems, wie es auf kommunaler Ebene aus Angst vor einem schlechten Standort-
image häufig zu beobachten ist, erhöht die Gefahr, dass sich demokratiefeind-
liches Denken und rechtsextreme Strukturen verfestigen.

Der Einsatz gegen Rechtsextremismus muss mit einem offensiven Werben für
eine Kultur der Demokratie einhergehen. In vielen Regionen Deutschlands
haben sich bereits Netzwerke von Initiativen gebildet, die Neonazis den kultu-
rellen Kampf ansagen. Sie klären auf – z. B. auf Veranstaltungen, in Schulen und
in öffentlichen Verwaltungen. Sie helfen Opfern rechtsextremer Gewalt, ihre
schrecklichen Erlebnisse zu verarbeiten oder juristische Schritte einzuleiten. Sie
tauschen sich untereinander aus und lernen voneinander, welche Gegenkonzepte
wirksam sind. Diese zivilgesellschaftlichen Aktivitäten bilden eine Grundsäule
unseres demokratischen Gemeinwesens. Sie brauchen Unterstützung und Förde-
rung. Sie müssen weiter gestärkt werden.

Oft fehlen aber auch engagierte Menschen, die gegen die demokratiefeindlichen
Entwicklungen vorgehen und die die demokratische Kultur stärken wollen, so-
wie die nötige Unterstützung von öffentlicher Seite. Gerade in solchen Regionen
sind mobile Beratung und Opferhilfe, wie sie durch die Bundesprogramme bis-
her unterstützt werden, dringend notwendig. Eine inhaltliche Abwehrhaltung so-
wie die finanziell desolate Situation in vielen Ländern und Gemeinden sind oft
Gründe dafür, dass die Initiativen vor Ort allein gelassen werden. Häufig ist es
ihnen unmöglich, lokale Finanzzuweisungen zu erhalten. Derzeit beteiligen sich
die Bundesländer an Einzelprojekten gegen Rechtsextremismus nur mit einer
Finanzierung zwischen null und fünfzig Prozent. Vielfach ist kein Interesse vor-
handen, sich finanziell stärker zu engagieren.

Auch wenn die Möglichkeiten des Bundes eingeschränkt sind, muss alles unter-
nommen werden, um die Existenz der engagierten Initiativen und Vereine lang-
fristig zu sichern. Unser Gemeinwesen kann es sich nicht leisten, dass diese klei-
nen Träger demokratischen Engagements ihre unverzichtbare Arbeit einstellen
müssen.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

– die Bundesprogramme gegen den Rechtsextremismus in ihrem bewährten
inhaltlichen Profil und mit einer besseren Mittelausstattung weiterzuführen;

– über die Modellprojektförderung hinaus dafür Sorge zu tragen, dass erfolg-
reiche Strukturprojekte, insbesondere die Mobilen Beratungsteams sowie die
spezifischen Opferberatungsstellen, eine angemessene institutionelle Förde-
rung erhalten, beispielsweise durch das Einrichten einer Stiftung mit Bundes-
beteiligung oder durch Aufgabenerweiterung einer bereits bestehenden Stif-
tung;

– sich dafür einzusetzen, dass sich auch die öffentlichen Verantwortungsträger
in den Ländern und Kommunen angemessen an der Finanzierung der Arbeit
engagierter Initiativen gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und
Antisemitismus zu beteiligen;

– alle Möglichkeiten auszunutzen, um auch weiterhin Finanzierungslösungen
für Initiativen zu finden, die in ihrer Existenz gefährdet sind, weil in den Re-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/1498

gionen die bestehenden Probleme verharmlost und keine finanziellen Mittel
für ihre Arbeit bereitgestellt werden;

– die Bürgerinnen und Bürger mehr als bisher zu stärkerem zivilgesellschaft-
lichen Engagement gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und An-
tisemitismus zu ermutigen und dieses Engagement für unsere demokratischen
Grundwerte zu würdigen und anzuerkennen;

– einen Schwerpunkt ihrer Aufklärungs- und Informationsarbeit auf die Berei-
che Schule und Jugendhilfe zu legen, um insbesondere Jugendliche und
Heranwachsende für die Gefahren des Rechtsextremismus zu sensibilisieren
und sie in ihrer Zivilcourage, ihrem demokratisches Bewusstsein und zivil-
gesellschaftlichen Engagement zu stärken;

– alle Versuche zurückzuweisen, zivilcouragierte Aktivisten gegen Rechts-
extremismus zu diffamieren.

Berlin, den 17. Mai 2006

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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