BT-Drucksache 16/14062

Auswirkung der FRONTEX-Leitlinien auf den Flüchtlingsschutz

Vom 16. September 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/14062
16. Wahlperiode 16. 09. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Manuel Sarrazin, Volker Beck (Köln),
Marieluise Beck (Bremen), Dr. Uschi Eid, Monika Lazar, Jerzy Montag,
Kerstin Müller (Köln), Claudia Roth (Augsburg), Silke Stokar von Neuforn,
Wolfgang Wieland und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Auswirkung der FRONTEX-Leitlinien auf den Flüchtlingsschutz

Auch in diesem Jahr haben wieder Tausende von Menschen versucht, über den
Atlantik oder das Mittelmeer Europa zu erreichen. Durch die Praxis der Euro-
päischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen
(FRONTEX), die Flüchtlingsschiffe zu orten und dem betreffenden Anrainer-
staat wie Griechenland oder Italien zu melden, werden die Boote oft vor Errei-
chen der Küstengewässer eines Mitgliedstaates auf Hohe See zurückgedrängt.
Das hat zur Folge, dass die auf den Booten befindlichen Personen keine Mög-
lichkeit erhalten, gegebenenfalls einen Asylantrag zu stellen.

Bei Maßnahmen der Migrationskontrolle auf Hoher See wird in aller Regel
staatliche Hoheitsgewalt ausgeübt, die eine Bindung an die Menschenrechte
auslöst. Dies war das – im Kern unbestrittene – Ergebnis einer Studie des deut-
schen Instituts für Menschenrechte aus dem Jahr 2007 (vgl. Kleine Anfrage der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Bundestagsdrucksache 16/8974).

So kann das Umlenken, Zurückweisen, Zurückbegleiten oder Eskortieren von
Flüchtlingsbooten in Häfen von Nicht-EU-Staaten eine sog. effektive Kontrolle
über die betreffenden Personen und damit die Hoheitsgewalt des verantwort-
lichen Staates begründen. Aus Sicht des Hohen Flüchtlingskommissars der Ver-
einten Nationen (UNHCR) ergibt sich bereits in solchen Fällen des vorverlager-
ten Grenzschutzes eine effektive Kontrolle des handelnden Staates über schutz-
suchende Personen und damit eine unmittelbare Verantwortlichkeit desselben
zur Schutzgewährung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Dies ist
z. B. der Fall, wenn sich Flüchtlingsboote den Anweisungen von Schiffen des
Grenzschutzes oder der Seenotrettung nicht widersetzen können, ohne eine
lebensgefährliche Kollision mit diesen Schiffen zu riskieren. Daraus folgt die
Verpflichtung der staatlichen Hoheitsträger, Flüchtlingen und anderen Men-
schen, die internationalen Schutzes bedürfen, auf den kontrollierten bzw. abge-
drängten Schiffen Zugang zum Asylverfahren zu gewähren und das Refoule-
ment-Verbot zu beachten.

Um grenzpolizeiliche Maßnahmen im Rahmen von FRONTEX-Einsätzen auf
eine für alle Beteiligte – Schutzsuchende wie Grenzschutzpolizistinnen und
-polizisten – transparente und rechtlich gesicherte Grundlage zu stellen, werden
derzeit auf europäischer Ebene sog. Leitlinien (Regeln zur Überwachung der
Seegrenzen bei FRONTEX-Einsätzen) verhandelt.

Diese Verhandlungen finden aber faktisch unter Ausschluss parlamentarischer
Kontrolle statt. Die Bundesregierung hat die zuständigen Ausschüsse bis heute

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nicht über den Verhandlungsstand unterrichtet. Auch die EU-Kommission hat
die zugrundeliegenden Dokumente immer noch nicht in das entsprechende
Komitologie-Register eingestellt.

Erst auf Anfrage des Abgeordneten der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Josef Philip Winkler, hat ihm das Bundesministerium des Innern (BMI) am
26. Mai 2009 den Entwurf einer Kommissionsentscheidung im Rahmen des Ko-
mitologieverfahrens ,,Regeln zur Überwachung der Seegrenzen bei FRONTEX-
Einsätzen“ (Dokumenten-Nr.: D003849/01, Vorgang: CMTD(2009)0143) zuge-
leitet. Sie sollen als Kommissionsbeschluss im Komitologieverfahren auf der
Grundlage von Artikel 12 Absatz 5 des Schengener Grenzkodexes (SGK) erge-
hen.

Diese praktischen Leitlinien sollen FRONTEX-Einsätze stärker ausgestalten
und enthalten Vorschriften über das Abfangen und Eskortieren von Schiffen,
auf denen sich nachweislich oder mutmaßlich illegale Migrantinnen und
Migranten befinden (Artikel 3). Sie beinhalten die Pflicht zur Rettung aus See-
not und sehen ein Verfahren vor, nach dem der Hafen bestimmt wird, in dem
das aus Seenot gerettete Schiff landen soll (Artikel 4 Annex II). Außerdem
legen sie das Refoulement-Verbot fest (Artikel 5).

Das Zusammenspiel zwischen den vorgesehenen Maßnahmen im Umgang mit
einem vermeintlich von illegalen Migrantinnen und Migranten besetzten Boot
und der Gewährung internationalen Flüchtlingsschutzes wird in den FRON-
TEX-Leitlinien jedoch nicht hinreichend deutlich. Unter welchen Umständen
und zu welchem Zeitpunkt Menschen, die internationalen Schutzes bedürfen,
dies kundtun können, bleibt unklar. Ebenfalls ungeklärt ist die Frage, ob bei der
Festlegung des nächstgelegenen Hafens nach einer Seenotrettung das Refoule-
ment-Verbot Berücksichtigung findet. Gänzlich wurde darauf verzichtet,
Regeln zu erlassen, die das bei einem FRONTEX-Einsatz mit einem aus meh-
reren Mitgliedstaaten gemischten Polizeiteam für einen Asylantrag zuständige
Land festlegen. Weiterhin wird nicht geklärt, wie Grenzschutzbeamtinnen und
-beamte im Rahmen von FRONTEX-Einsätzen mit Personen auf Hoher See
umgehen sollen, die erkennbar besonderen Schutzes im Sinne der Flüchtlings-
aufnahmerichtlinie der EU bedürfen, wie z. B. Minderjährige, Behinderte, äl-
tere Menschen oder Schwangere.

Schließlich ist bisher nicht bekannt, welche Position die Bundesregierung in
den gegenwärtigen Verhandlungen zu den FRONTEX-Leitlinien vertritt.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wird nach Auffassung der Bundesregierung bei folgenden Handlungen im
Rahmen von FRONTEX-Einsätzen, die

a) das Schiff abfangen und die Menschen an Bord festnehmen („seizing the
ship and apprehending persons on board“, Artikel 3d),

b) das Schiff anweisen, seinen Kurs zu ändern („ordering the ship to modify
its course“, Artikel 3e),

c) das Schiff eskortieren oder neben ihm herfahren, bis es den korrekten
Kurs aufnimmt („escorting the vessel or steaming nearby until the ship is
heading on the correct course“, Artikel 3e),

d) das Schiff oder die Personen zu einem Drittland fahren oder auf andere
Weise das Schiff oder die auf ihm befindlichen Personen den Behörden
des Drittlands übergeben („conducting the ship or persons on board to a
third country or otherwise handing over the ship or persons on board to
the authorities of a third country“, Artikel 3f),

effektive Kontrolle über Personen ausgeübt (bitte je Alternative auf-
schlüsseln), und wenn nein, warum nicht?

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2. Falls die Bundesregierung die Ausübung der effektiven Kontrolle über Per-
sonen in Frage 1 bejaht, ist sie dann ebenfalls der Auffassung, dass diese
Kontrolle die Bindung der handelnden Polizisten an Menschenrechte und
mithin die Anwendbarkeit der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und
der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) auch außerhalb des
Hoheitsgebiets der Vertragsstaaten auslöst?

3. Inwiefern kann nach Auffassung der Bundesregierung bei Maßnahmen
nach Artikel 3 (z. B. Anweisen des Schiffes, den Kurs zu ändern) das
Refoulement-Verbot in Artikel 5 Absatz 2 gewahrt werden?

4. Sollen nach Auffassung der Bundesregierung die in Artikel 3a und 3b vor-
gesehenen Maßnahmen – Informations- und Dokumentsüberprüfung
(requesting information and documentation) und Befragung der Personen
an Bord (questioning persons on board) – dazu dienen, herauszufinden, ob
es unter den Anwesenden jemanden gibt, der internationalen Flüchtlings-
schutzes bedarf?

5. Wie haben sich Polizistinnen und Polizisten im Rahmen von FRONTEX-
Einsätzen zu verhalten, wenn bei Maßnahmen gemäß Artikel 3 die betrof-
fenen Personen um Schutz im Sinne der GFK bzw. der EMRK nachsu-
chen?

6. Wie haben sich Polizistinnen und Polizisten im Rahmen von FRONTEX-
Einsätzen zu verhalten, wenn gemäß Artikel 3 Personen erkennbar oder
mutmaßlich Anspruch auf besonderen Schutz haben, z. B. Minderjährige,
Behinderte, ältere Menschen oder Schwangere?

7. Gilt die Situation in Artikel 4 Absatz 1 (persons in distress at sea) über das
Vorliegen eines sinkenden Schiffes hinaus auch bei

a) erkennbar oder mutmaßlich seeuntüchtigen oder manövrierunfähigen
Schiffen,

b) Schiffen mit erkennbar oder mutmaßlich hungernden, verdursteten oder
bereits toten Personen an Bord,

c) Schiffen mit solchen Personen an Bord, die erkennbar oder mutmaßlich
Anspruch auf besonderen Schutz haben, z. B. Minderjährige, Behin-
derte, ältere Menschen oder Schwangere?

8. Sind die sich aus den Leitlinien ergebenden Handlungsanweisungen nur
einschlägig für Boote, die innerhalb des Seegebietes eines FRONTEX-
koordinierten Einsatzes gesichtet werden, und wenn ja, wie ist dann mit
Schiffen umzugehen, die außerhalb des Operationsgebietes gesichtet
werden?

9. Besteht die Pflicht zu Hilfe zu eilen gemäß Artikel 4 nur dann, wenn die
auf einem solchen Boot befindlichen Personen eigenständig ein Signal ab-
geben, oder reicht auch schon die Sichtung eines solchen Schiffes durch
beteiligte Grenzschutzeinheiten oder Dritte aus?

10. Können sich Personen, die nach Artikel 4 aus Seenot gerettet wurden, auf
das Refoulement-Verbot der GFK bzw. der EMRK berufen?

11. Droht Personen, die nach Artikel 4 aus Seenot gerettet werden, dass die an
einem FRONTEX-Einsatz teilnehmenden Polizistinnen und Polizisten im
Sinne der Artikel 3d, 3e oder 3f auf den Kurs des Schiffes auf eine Weise
einwirken, dass es zurück auf die Hohe See oder in ein Drittland gelenkt
wird?

12. Wie beurteilt die Bundesregierung das Verhältnis zwischen der in Erwä-
gungsgrund 6 und im Annex II (5.3) zu Artikel 4 (Rettung aus Seenot) be-
schriebenen Vorgehensweise, Boote, die in Seenot geraten sind, gegebe-

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nenfalls in das Land zurückzugeleiten, aus dem sie gekommen sind, und
dem in Artikel 5 Absatz 2 niedergelegten Refoulement-Verbot?

13. Wie wird sichergestellt, dass die in Seenot geratenen und nach Artikel 4 ge-
retteten Personen, die internationalen Flüchtlingsschutz bedürfen, nicht im
Sinne von Annex II (5.3) in das Land zurückgebracht werden, aus dem sie
geflohen sind?

14. Soll angesichts des Einsatzes von Polizisten aus typischerweise mehreren
Mitgliedstaaten in den FRONTEX-Leitlinien auch festgelegt werden, unter
wessen Hoheitsgewalt die unter Umständen aufgegriffenen Personen ste-
hen?

15. In welchem Verhältnis stehen die FRONTEX-Leitlinien zum Schengener
Grenzkodex (VO (EG) Nr. 562/2006)?

16. Warum wurde der Deutsche Bundestag durch die Bundesregierung bis
heute weder über den Beginn noch den Verlauf dieses Komitologieverfah-
rens informiert?

17. Handelt es sich bei dem gewählten Komitologieverfahren um ein sog. Re-
gelungsverfahren mit Kontrolle, in dem das Europäische Parlament über
ein Vetorecht verfügt, und wenn nein, warum nicht?

18. Werden die Leitlinien, wie angekündigt, als Kommissionsbeschluss erge-
hen, und wenn nein, warum nicht?

19. Welchen Grad der Verbindlichkeit sollen die Leitlinien haben?

20. Wie ist der gegenwärtige Stand des Verfahrens?

21. Sind der UNHCR und andere Akteure aus dem Bereich des internationalen
Flüchtlingsschutzes an den Verhandlungen zu diesem Dokument beteiligt,
und falls nein, warum nicht?

22. Falls der UNHCR und weitere Akteure beteiligt sind, ist geplant, sie bis
zum Schluss in die Verhandlungen mit einzubeziehen, und wenn nein,
warum nicht?

23. Wann rechnet die Bundesregierung mit der Verabschiedung der FRON-
TEX-Leitlinien?

Berlin, den 16. September 2009

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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