BT-Drucksache 16/12323

Flüchtlinge entsprechend den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie schützen

Vom 18. März 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/12323
16. Wahlperiode 18. 03. 2009

Antrag
der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Monika Lazar, Jerzy
Montag, Irmingard Schewe-Gerigk, Silke Stokar von Neuforn, Hans-Christian
Ströbele, Wolfgang Wieland und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Flüchtlinge entsprechend den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie schützen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Mit den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes vom 17. Februar 2009
(C-465/07) ist erneut (vgl. bereits Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom
24. Juni 2008 – 10 C 43/07) klar geworden, dass die deutsche flüchtlingsrecht-
liche Praxis bisher bei der Gewährung von Schutz insbesondere im Bereich der
Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen zu restriktiv verfahren ist.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung zu Folgendem auf:

1. Die Bundesregierung möge durch entsprechende Anweisung an das Bundes-
amt für Migration und Flüchtlinge dafür Sorge tragen, dass Flüchtlinge aus
Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten künftig entsprechend der Vorgaben der
Qualifikationsrichtlinie (Richtlinie 2004/83/EG) Schutz erhalten.

2. Die Bundesregierung möge das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
anweisen, seine den Flüchtlingsschutz verweigernden Entscheidungen der
Vergangenheit, die den Vorgaben der genannten Richtlinie nicht entsprachen,
von Amts wegen aufzuheben und den Betroffenen Schutz zu gewähren.

Berlin, den 18. März 2009

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Begründung

Bereits in der Anhörung des Deutschen Bundestages zum Richtlinienumset-

zungsgesetz (Bundestagsdrucksache 16/5065) war darauf hingewiesen worden
(vgl. insbesondere die Stellungnahme von Dr. Reinhard Marx), dass die vor-
geschlagene Regelung des § 60 Absatz 7 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG)
– unter Berücksichtigung der bis dahin ergangenen Rechtsprechung des Bun-
desverwaltungsgerichts – Flüchtlinge aus Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten
nicht entsprechend der europarechtlichen Vorgaben schützt. Die Koalitions-
fraktionen der CDU/CSU und SPD sahen sich jedoch nicht in der Lage, einem

Drucksache 16/12323 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
die Schutzlücke schließenden Änderungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN zu folgen. Deshalb musste das Bundesverwaltungsgericht
(Urteil vom 24. Juni 2008 – 10 C 43/07) § 60 Absatz 7 AufenthG – entgegen
seinem Wortlaut – einschränkend auslegen, weil ansonsten die Vorgaben der
Qualifikationsrichtlinie nicht eingehalten werden können. Der Europäische
Gerichtshof hat nunmehr bekräftigt, dass bei der Feststellung, ob ein Flüchtling
Schutzes bedarf, weil „eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unver-
sehrtheit […] in Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffne-
ten Konflikts“ vorliegt, keine übersteigerten Maßstäbe angelegt werden dürfen.
Vielmehr gilt Folgendes:

– Das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder
der Unversehrtheit der Person, die die Gewährung des subsidiären Schutzes
beantragt, setzt nicht voraus, dass diese Person beweist, dass sie aufgrund
von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch be-
troffen ist.

– Das Vorliegen einer solchen Bedrohung kann ausnahmsweise als gegeben
angesehen werden, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kenn-
zeichnende Grad willkürlicher Gewalt nach der Beurteilung der zuständigen
nationalen Behörden, die mit einem Antrag auf subsidiären Schutz befasst
sind, oder der Gerichte eines Mitgliedstaats, bei denen eine Klage gegen die
Ablehnung eines solchen Antrags anhängig ist, ein so hohes Niveau erreicht,
dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson
bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls in die be-
troffene Region, allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes
oder dieser Region, tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausge-
setzt zu sein.

Damit ist Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen nunmehr individueller Schutz
nicht erst dann zu gewähren, wenn sie andernfalls „sehenden Auges in den Tod
abgeschoben“ würden. Vielmehr ist eine deutlich niedrigere Gefahrprognose
ausreichend, um Schutz zu gewähren. Dem sollte die Praxis der Flüchtlings-
anerkennung entsprechen.

Es sollte dabei eine selbstverständliche Verpflichtung der deutschen Behörden
sein, dass sie selbst die Entscheidungen der Vergangenheit korrigieren, in denen
Flüchtlingen z. B. aus Somalia, Afghanistan und dem Irak Schutz nach zu
strengen Kriterien verweigert wurde. Erinnert sei dran, dass das Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge sehr viele Flüchtlinge aus dem Irak von Amts wegen
mit – widersinnigen – Verfahren zum Widerruf ihres Flüchtlingsstatus über-
zogen hat. Dies zeigt immerhin, dass es dem Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge ohne weiteres möglich ist, auch umgekehrt – zum Schutz von
Flüchtlingen – zu ermitteln, wo es in der Vergangenheit nach zu strengen Krite-
rien Schutz verweigert hat. Jenseits der Frage, ob – jedenfalls für die Fälle nach
Ablauf der Umsetzungsfrist der Qualifikationsrichtlinie – eine z. B. europa-
rechtliche Pflicht besteht, die Fehler der Vergangenheit von Amts wegen zu
korrigieren, sollte dies eine humanitäre Selbstverständlichkeit sein. Denn viele
Flüchtlinge werden nicht von selbst von der bestehenden Möglichkeit erfahren,
dass sie einen Asylfolgeantrag aufgrund des Urteils des Europäischen Gerichts-
hofes stellen können. Deshalb ist es geboten, dass das Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge von sich aus derartige Verfahren einleitet, die nach den allge-
meinen verfahrensrechtlichen Grundsätzen zu Gunsten der Betroffenen jeder-
zeit möglich sind (vgl. auch Kopp, 10. Auflage, Verwaltungsverfahrensgesetz,
§ 51, Rn. 2a).

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