BT-Drucksache 16/12113

Überprüfung und Korrektur der Strategie beim Afghanistanengagement vor dem NATO-Gipfel in Kehl/Straßburg beginnen

Vom 4. März 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/12113
16. Wahlperiode 04. 03. 2009

Antrag
der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei, Kerstin Müller (Köln),
Ute Koczy, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Alexander Bonde,
Dr. Uschi Eid, Kai Gehring, Thilo Hoppe, Omid Nouripour, Claudia Roth
(Augsburg), Manuel Sarrazin, Rainder Steenblock, Josef Philip Winkler
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Überprüfung und Korrektur der Strategie beim Afghanistanengagement
vor dem NATO-Gipfel in Kehl/Straßburg beginnen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich 2008 in besorgniserregendem Maße
negativ entwickelt, die Anzahl der Sicherheitsvorfälle liegt auf dem höchsten
Stand seit 2001. Ebenfalls wurde ein trauriger Höhepunkt an zivilen Gewalt-
opfern verzeichnet. Dies trägt zu einer Vertrauenskrise der internationalen Prä-
senz in Afghanistan bei. Verstärkt wird sie durch die geringe Sichtbarkeit der
Aufbauerfolge für viele Afghaninnen und Afghanen. Afghanische Polizei,
Justizsystem und Verwaltung sind weiterhin zu schwach entwickelt. Anhaltend
hohe Korruption untergräbt zusätzlich das Ansehen der Regierung.

Gleichzeitig schwelt innerhalb der NATO, aber auch mit der afghanischen Re-
gierung ein Streit um die richtige Militärstrategie in Afghanistan. Weiterhin ste-
hen sich mit ISAF und OEF zwei unterschiedlich legitimierte Missionen und
Ansätze gegenüber. Die inzwischen zurückgenommene Weisung des NATO-
Oberbefehlshabers John Craddock zur vorbehaltlosen Tötung von Drogenhänd-
lern ist die Fortsetzung einer kontraproduktiven Logik des Terrorkrieges, welche
den festen Boden des Völkerrechts verlässt und so den gesamten Aufbaubemü-
hungen schadet. In Kernfragen existiert derzeit keine einheitliche Strategie oder
Politik.

Die neu angetretene US-Administration unter Barack Obama hat ihre Besorgnis
angesichts des negativen Trends in Afghanistan zum Ausdruck gebracht und
strategische Fehler der Vergangenheit eingeräumt. Um die Erfolgsaussichten
wieder zu verbessern und konkrete Kurskorrekturen zu finden, soll eine 60-tä-
gige umfassende Überprüfung des Engagements durchgeführt werden.

Das deutsche und europäische Engagement im zivilen Bereich muss ebenfalls
dringend überprüft werden. Eine selbstkritische Bilanzierung und Evaluierung
der Aufbaubemühungen, die andere Nationen vorgenommen haben oder vor-
nehmen, fehlt in Deutschland bisher völlig. Das ist jedoch die Voraussetzung für
eine dringend notwendige und erfolgversprechende Kurskorrektur.

Die Bundesregierung bleibt jede Antwort schuldig, wie die negative Dynamik
bei den Aufbaubemühungen umgekehrt werden kann.

Drucksache 16/12113 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Präsident Barack Obama hat eine Aufstockung der Militärpräsenz um 30 000
Soldatinnen und Soldaten angekündigt. Um dadurch nicht sogar eine schädliche,
den Konflikt weiter beschleunigende Wirkung in Kauf zu nehmen, sind
dringend eine transatlantische Klärung und Vereinheitlichung der Strategie not-
wendig. Diese muss den zivilen Aufbau in den Mittelpunkt aller Anstrengungen
stellen und gemeinsame Ziele für eine Abzugsperspektive benennen. Der
NATO-Gipfel am 3. und 4. April 2009 muss genutzt werden, um gemeinsam
einen echten Strategiewechsel beim Wiederaufbau in Afghanistan einzuleiten.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

● angesichts der amerikanischen Ankündigung einer Überprüfung der Afgha-
nistanstrategie endlich eine eigene Bilanzierung und kritische Überprüfung
des deutschen Engagements in Afghanistan vorzunehmen, um dringend not-
wendige Kurskorrekturen mit Aussicht auf Erfolg zu ermöglichen;

● sich für Kurskorrekturen beim deutschen, europäischen und beim Gesamt-
engagement einzusetzen und eigenständige konkrete Vorschläge und Bei-
träge einzubringen;

● konkret von deutscher Seite mit einer Verdoppelung der deutschen Mittel und
einer raschen Ausweitung des deutschen Kontingents in der Polizeiausbil-
dung noch im Jahr 2009 einen konstruktiven Aufschlag zu machen;

● sich gegenüber der neuen US-Administration nachhaltig für eine Beendigung
kontraproduktiver Militärstrategien wie der OEF-Mission einzusetzen und
damit den gesamten Einsatz unter ein klares völkerrechtliches UN-Mandat in
Übereinstimmung mit der afghanischen Regierung zu nehmen;

● mit der US-amerikanischen Regierung das Zeitfenster für eine Verständigung
über Kurskorrekturen in Afghanistan zu nutzen, realistische Ziele für den
Aufbau zu vereinbaren und einen klaren Zeithorizont für die afghanische
Übernahme der Verantwortung zu formulieren;

● sich als Konsequenz seines inzwischen zurückgenommenen inakzeptablen
Befehls zur Tötung von Drogenhändlern für eine Absetzung des NATO-
Oberbefehlshabers John Craddock auszusprechen;

● die Bekämpfung der Drogenökonomie durch eine abgestimmte, international
ausgerichtete Initiative voranzutreiben;

● sich dafür einzusetzen, dass die zivile und entwicklungspolitische Seite des
Aufbaus nachhaltig gestärkt und das Verhältnis nicht weiter in Richtung der
militärischen Komponenten verschoben wird;

● entsprechende Angebote der EU zu diskutieren und aktiv einzubringen, in
Form von substantiellen und umfangreichen Aufstockungen vor allem im
Bereich der Ausbildung von Polizei, Aufbau von Verwaltung und Justiz,
Schaffung von Arbeitsplätzen sowie ländlicher Entwicklung und Bildung,
die sich an den großen Herausforderungen und den Bedürfnissen der Men-
schen vor Ort orientieren;

● die Kritik hinsichtlich einer Zivilisten gefährdenden Kriegsstrategie ernst zu
nehmen und völkerrechtliche sowie menschenrechtliche Voraussetzungen
von Befehlen, Mandaten und Einsatzregeln genau zu kontrollieren und ein-
zuhalten;

● die künftige Afghanistanstrategie einzubetten in eine regionale Politik, die
vor allem Iran, Pakistan und Indien miteinbezieht.

Berlin, den 4. März 2009

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/12113

Begründung

Die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich 2008 weiter verschärft und ist damit
auf das tiefste Niveau seit dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 gefallen. Nach
ISAF-Angaben stieg die Gewalt 2008 im Vergleich zum Vorjahr um 28 Prozent.
Im insgesamt ruhigeren Norden ist die Bundeswehr an einigen Standorten eben-
falls mit einer Verschärfung konfrontiert. Im Laufe des Jahres 2008 wurde nach
VN-Angaben mit 2 100 Toten ein trauriger Höhepunkt an zivilen Gewaltopfern
und damit ein Anstieg von 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr verzeichnet.
Neben den brutalen Gewaltakten von Aufständischen sind dafür zu ca.
40 Prozent Kampfhandlungen der afghanischen und der verbündeten Streit-
kräfte verantwortlich. Mit 294 getöteten NATO-Soldatinnen und -Soldaten war
auch diese Zahl höher als in den Jahren zuvor.

In jüngster Zeit hat auch die afghanische Regierung angesichts dieser steigenden
Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung wiederholt Militäraktionen der interna-
tionalen Gemeinschaft kritisiert. Zugleich existieren schwere Vorwürfe gegen-
über der afghanischen Regierung und ihrer Sicherheitskräfte hinsichtlich der
Missachtung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten. Um das Vertrauen
der afghanischen Bevölkerung zurückzugewinnen, muss der Schutz der Zivil-
bevölkerung höchste Priorität erhalten und ihre Rechte müssen unbedingt ge-
achtet werden.

Zu lange lag das Hauptaugenmerk in Afghanistan vor allem von amerikanischer
Seite auf dem von George W. Bush erklärten „Krieg gegen den Terrorismus“,
während der Staatsaufbau und die Schaffung selbsttragender Strukturen ver-
nachlässigt wurden. Es ist mittlerweile Konsens in der internationalen Gemein-
schaft und in der afghanischen Regierung, dass Sicherheit nicht allein durch
militärische Mittel zu gewährleisten ist. Die Weiterführung der außerhalb eines
Mandats der Vereinten Nationen agierenden OEF als „Anti-Terror“-Einsatz ist
kontraproduktiv und untergräbt die Legitimität von ISAF und der internationa-
len Präsenz. Eine Militärstrategie, wie sie in der verbindlichen Weisung des
NATO-Oberbefehlshabers John Craddock zur Tötung von Mittelsmännern im
Drogenhandel auch ohne eindeutige Beweislage zum Ausdruck kam, ist kontra-
produktiv und muss beendet werden (SPIEGEL ONLINE, 29. Januar 2009).
Ebenso problematisch sind militärische Alleingänge gegen Extremisten im
pakistanischen Grenzgebiet, bei denen die Zivilbevölkerung massiv gefährdet
wird. Eine klare völkerrechtliche Grundlage aller internationalen Aktivitäten in
Afghanistan muss gewährleistet sein. Die Kompetenz der Vereinten Nationen im
Aufbauprozess muss weiter verstärkt und in die Fläche getragen werden.

Größter Nachholbedarf besteht beim Polizei- und Justizaufbau. EUPOL ist wei-
terhin nicht voll handlungsfähig. Deutschland und die beteiligten EU-Staaten
hängen mit der Entsendung von Beamten hinterher. Es müssen endlich die
notwendigen Strukturen geschaffen werden, um den Polizeiaufbau massiv zu
stärken. Das ist auch Voraussetzung für den Kampf gegen den Drogenanbau und
-schmuggel in Afghanistan, der nicht in erster Linie militärisch bekämpft
werden kann. Die Ausweitung alternativer Einnahmequellen, die 2008 zu einem
19-Prozent-Rückgang des Anbaus beigetragen haben, müssen gestärkt werden.

Das Gesamtengagement der EU muss sich stärker an den Realitäten und dem
Bedarf vor Ort anpassen und zur Gewährleistung der Sicherheit und des Wohl-
befindens der Bevölkerung beitragen. Beim zivilen Wiederaufbau muss drin-
gend die Abstimmung verbessert werden. Ein großer Teil der Mittel für den Wie-
deraufbau kam nicht vor Ort bei den Afghaninnen und Afghanen an. Aufbauleis-
tungen und Hilfe müssen stärker regional und inhaltlich an den Bedürfnissen der
Bevölkerung ausgerichtet sein. Der dies berücksichtigende gute Ansatz der
regionalen Entwicklungsfonds (PDF) muss weiterentwickelt werden. Es bedarf
dringend einer kritischen Überprüfung und Bilanzierung des internationalen,
aber insbesondere auch des deutschen Ansatzes, darunter die z. B. vom deut-

Drucksache 16/12113 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
schen Dachverband der Entwicklungsorganisationen VENRO geforderte Über-
prüfung der zivil-militärischen Zusammenarbeit. Die Bundesregierung lässt
bisher keine Ansätze zu dieser überfälligen Überprüfuing erkennen, um eine
positive Dynamik beim Aufbauprozess zu bewirken. Ohne deutliche Kurs-
korrekturen wird sich dies nicht bewerkstelligen lassen.

Zu Beginn des Jahres 2009 existiert eine massive Vertrauenskrise der inter-
nationalen Präsenz und der afghanischen Regierung in Afghanistan. Eine am
9. Februar 2009 veröffentlichte gemeinsame Umfrage von ARD, BBC und ABC
zeigt den dramatischen Vertrauensverlust, auch wenn sich noch eine Mehrheit
für den Verbleib der internationalen Präsenz ausspricht. Die neue US-Regierung
hat die Aufstockung des Afghanistankontingents um 30 000 Soldatinnen und
Soldaten angekündigt. Eine militärfixierte Strategie wird Afghanistan nicht
befrieden können. Ohne eine massive Aufstockung der zivilen Hilfe und der
Bemühungen beim Staatsaufbau droht das Missverhältnis zwischen zivilem und
militärischem Engagement weiter zu wachsen. Um einen Strategiewechsel in
Afghanistan einzuleiten und diesen mitzugestalten muss die EU zu einer eigenen
Aufbauoffensive bereit sein und die zukünftige Strategie eng mit den USA
abstimmen, welche bisher die mit Abstand meisten Ressourcen für den Aufbau
bereitstellen. Mit Barack Obama regiert jetzt ein Präsident, der sich zu mehr
multilateraler Abstimmung bekennt. Der angekündigte gesamtregionale Ansatz
und diplomatische Umgang mit Iran sind hoffnungsvolle Zeichen. Deutschland
und Europa dürfen bei der Diskussion um die neue Afghanistanstrategie nicht
den Anschluss verlieren und müssen jetzt eigene Vorstellungen für einen Strate-
giewechsel einbringen. Die Zeit bis zum NATO-Gipfel am 3. und 4. April 2009
in Kehl/Straßburg muss dafür genutzt werden.

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