BT-Drucksache 16/10893

zu demGesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD - Drucksache 16/10570- Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege

Vom 12. November 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/10893
16. Wahlperiode 12. 11. 2008

Beschlussempfehlung und Bericht
des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)

zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD
– Drucksache 16/10570 –

Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung der
Rechtspflege

A. Problem

Die Möglichkeit der großen Straf-, Wirtschaftsstraf- und Jugendkammern, in ge-
eigneten Fällen in reduzierter Besetzung mit zwei statt drei Berufsrichtern zu
verhandeln (Besetzungsreduktion), zuletzt verlängert durch Artikel 5 des Geset-
zes vom 22. Dezember 2006 (BGBl. I S. 3416), läuft am 31. Dezember 2008
aus.

B. Lösung

Der Gesetzentwurf sieht eine Verlängerung der Besetzungsreduktion um weitere
drei Jahre vor, innerhalb derer rechtstatsächliche Erkenntnisse erhoben und die
bisherige Anwendungspraxis evaluiert werden soll.

Annahme des Gesetzentwurfs mit den Stimmen der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der Frak-
tion DIE LINKE.

C. Alternativen

Keine

D. Kosten

Wurden im Ausschuss nicht erörtert.

Drucksache 16/10893 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Beschlussempfehlung

Der Bundestag wolle beschließen,

den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/10570 unverändert anzunehmen.

Berlin, den 12. November 2008

Der Rechtsausschuss

Andreas Schmidt (Mülheim)
Vorsitzender

Siegfried Kauder
(Villingen-Schwenningen)
Berichterstatter

Joachim Stünker
Berichterstatter

Mechthild Dyckmans
Berichterstatterin

Wolfgang Neskovic
Berichterstatter

Jerzy Montag
Berichterstatter

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/10893

Bericht der Abgeordneten Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen),
Joachim Stünker, Mechthild Dyckmans, Wolfgang Neskovic und Jerzy Montag

I. Überweisung
Der Deutsche Bundestag hat die Vorlage auf Drucksache
16/10570 in seiner 183. Sitzung am 16. Oktober 2008 bera-
ten und an den Rechtsausschuss zur alleinigen Beratung
überwiesen.

II. Beratungsverlauf und Beratungsergebnisse im
Ausschuss

Der Rechtsausschuss hat die Vorlage in seiner 117. Sitzung
am 12. November 2008 beraten und mit den Stimmen der
Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN gegen die Stimmen der Fraktion DIE LINKE. be-
schlossen, die Annahme zu empfehlen.

Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wies auf die
Hintergründe der damaligen Einführung der Besetzungs-
reduktion bei den Straf- und Jugendkammern hin, die vor-
rangig der Notsituation der Justiz nach der Wiedervereini-
gung Rechnung tragen sollte. Sie sei nur für eine
Übergangszeit geplant gewesen und nun sei zu befürchten,
dass es zu einer Dauerregelung käme. Es habe sich in den
Ländern eine unterschiedliche Praxis herausgebildet, in eini-
gen Bundesländern sei ein hoher Anstieg der Hauptverfah-
ren in Zweierbesetzung zu verzeichnen, dies sei eine frag-
würdige Entwicklung. Eine dauerhafte Möglichkeit der
Besetzungsreduktion sei verfassungsrechtlich bedenklich.
Bei dem Verfahren vor der großen Strafkammer handele es
sich um die einzige Tatsacheninstanz, deren gesetzliches
Leitbild aus gutem Grund die Besetzung mit drei Berufsrich-
tern sei, die es ermögliche, die Aufgaben in der Hauptver-
handlung sachgerecht zu verteilen. Sie stimme dem Gesetz-
entwurf der Regierungsfraktionen der CDU/CSU und SPD
insofern zu, dass eine umfassende Evaluation der Anwen-
dungspraxis von § 76 Abs. 2 des Gerichtsverfassungsgeset-
zes (GVG) und § 33b Abs. 2 des Jugendgerichtsgesetzes
(JGG) erforderlich sei. Diese solle auf Grundlage der Län-
derumfrage aber bis zum 31. Dezember 2009 erfolgen.

Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stellte daher
folgenden Entschließungsantrag:

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf:

bis zum 31. Dezember 2008 die in Bundestagsdrucksache
16/10570 genannte Länderumfrage vorzulegen, und die
rechtstatsächlichen Erkenntnisse und die bisherige Anwen-
dungspraxis bis zum 31. Dezember 2009 umfassend zu eva-
luieren. Danach wird zu entscheiden sein, ob eine Änderung
der Bestimmungen des § 76 GVG und § 33 b JGG nach dem
31. Dezember 2011 in Betracht kommen kann.

Begründung

Gemäß § 76 I des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) sind
die großen Strafkammern mit drei Berufsrichtern und zwei
Schöffen besetzt. Das Gesetz zur Entlastung der Rechts-
pflege vom 11. Januar 1993 (RpflEntlG) hat in § 76 II GVG
für die großen Strafkammern die Möglichkeit eingeführt, in

der Hauptverhandlung in der Besetzung mit zwei Berufsrich-
tern und zwei Schöffen zu verhandeln, sofern nicht nach
Umfang und Schwierigkeit der Sache die Mitwirkung eines
dritten Richters notwendig erscheint. Eine vergleichbare
Regelung ist in Artikel 7 Nr. 2 des Gesetzes zur Entlastung
der Rechtspflege (RpflEntlG) für die großen Jugendkam-
mern getroffen worden (§ 33 b II des Jugendgerichtsgesetzes
[JGG]).

Diese Maßnahmen galten zunächst befristet bis zum 28. Feb-
ruar 1998 (Artikel 15 RpflEntlG). Mit Artikel 3 des Gesetzes
zur weiteren Verlängerung strafrechtlicher Verjährungsfris-
ten und zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung der
Rechtspflege vom 22. Dezember 1997 (BGBl. I S. 3232) wur-
den sie zunächst bis zum 31. Dezember 2000 verlängert. Wei-
tere Verlängerungen erfolgten im Zweijahresrhythmus, zu-
letzt durch das Zweite Gesetz zur Modernisierung der Justiz
vom 22. Dezember 2006 (BGBl. I S. 3416). Mit der Einfüh-
rung der Möglichkeit einer Besetzungsreduktion bei Straf-
und Jugendkammern hatte der Entwurf eines Gesetzes zur
Entlastung der Rechtspflege insbesondere die Binnenreser-
ven zum Justizaufbau ausschöpfen wollen, um der „… Not-
situation der Justiz in den neuen Ländern …“ Rechnung zu
tragen (vgl. Bundestagsdrucksache 12/1217, S. 61). Die
Änderungen des § 76 II GVG und § 33 b II JGG, „… die den
Rechtsschutz in besonderer Weise berühren …“, sollten nur
eine vorübergehende Regelung sein (vgl. BT-Drs. 12/1217,
S. 61).

Von 1995 bis 2006 ist der Anteil der Hauptverfahren in Zweier-
besetzung im Bundesdurchschnitt von 49,6 Prozent bis auf
77,1 Prozent angestiegen. Dabei sind große regionale Unter-
schiede zu beobachten: während im Jahre 2006 in Bayern
89,9 Prozent der Fälle in Zweierbesetzung verhandelt wurde,
waren es in Brandenburg nur 54,7 Prozent. Eine tragfähige
Evaluation der Länder über die Gründe für den Anstieg und
die unterschiedlichen Häufigkeiten und die Auswirkungen
auf die Rechtsprechung liegt nicht vor.

Die dauerhafte Möglichkeit der Besetzungsreduktion begeg-
net verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Entscheidung der
Strafkammer über ihre Besetzung nach § 76 II GVG bestimmt
den gesetzlichen Richter i. S. v. Art. 101 GG, § 16 GVG. Ge-
setzlicher Richter ist das Gericht als organisatorische Ein-
heit, das erkennende Gericht als Spruchkörper und der im
Einzelfall zur Entscheidung berufene Richter. Das Gericht
als Spruchkörper umfasst auch die Zusammensetzung der je-
weiligen Richterbank. Gesetzliches Leitbild für die großen
Strafkammern ist die Besetzung mit drei Berufsrichtern. Für
die Angeklagten handelt es sich bei dem Verfahren vor der
Strafkammer grundsätzlich um die einzige Tatsacheninstanz.
Diese Regelung findet ihre Begründung in der Qualität der
Entscheidungen dieser Instanz. Die Gesetzesbegründung
zum RpflEntlG führt daher aus, dass das „… dort herrschen-
de Kollegialitätsprinzip … besonders geeignet [ist], die von
der Ausgestaltung des Rechtsmittels vorausgesetzte beson-
ders hohe Qualität der Entscheidung zu verbürgen. Die Mit-
wirkung mehrerer Berufsrichter ermöglicht es, die Aufgaben
in der Hauptverhandlung sachgerecht zu verteilen, den Tat-

Drucksache 16/10893 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

sachenstoff intensiver und von mehreren Seiten zu würdigen
und Rechtsfragen grundsätzlich besser … zu lösen.“ (vgl.
Bundestagsdrucksache 12/1217, S. 46). Die Gesetzesbegrün-
dung zum RpflEntlG sieht folglich drei Richter als vorzugs-
würdig an, denn sie „… sieht die Gefahren, die für die Quali-
tät der Entscheidungen damit [der Zweier-Besetzung]
verbunden sein können, glaubt aber, sie im Hinblick auf die
besondere Lage für eine vorübergehende Zeit in Kauf neh-
men zu können (vgl. Bundestagsdrucksache 12/1217, S. 47).
Auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH 3
StR 343/98 und 3 StR 199/03) geht davon aus, dass sich die
Dreier-Besetzung bewährt hat. Damit steht der subjektive
Anspruch der Bürgerinnen und Bürger aus Artikel 101 I 2
GG in Frage.

Die Gewähr des gesetzlichen Richters steht im engen Zusam-
menhang mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 GG).
Sie verwirklicht die Forderungen aus Art. 3 im Besonderen
für den Bereich der Gerichtsverfassung. Die unterschied-
liche Anwendung von § 76 II GVG in den Bundesländern
führt zu einer Verfahrensungerechtigkeit und widerspricht
damit dem Zweck des Artikel 101 I 2 GG. Insgesamt steht
eine der verfassungsrechtlichen Grundaussagen der Justiz,
der Schutz des Vertrauens des Rechtssuchenden und der
Öffentlichkeit auf unparteiliche und sachliche Rechtspre-
chung, in Frage.

Ein Auslaufen der Regelung zum Ende des Jahres 2008 führt
zu einer plötzlichen Mehrbelastung der Justiz, welche durch
kurzfristige gerichtsorganisatorische Maßnahmen nicht auf-
zufangen ist. Erst auf Grundlage einer umfassenden Evalua-
tion der Anwendungspraxis und der Auswirkungen auf die
Qualität der Rechtsprechung kann verfassungsrechtlich
sinnvoll abgewogen werden, ob von dem bisherigen gesetz-
lichen Leitbild der Dreierbesetzung abgesehen werden kann.

Der Entschließungsantrag wurde mit den Stimmen der Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Frak-
tionen FDP, DIE LINKE. und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
abgelehnt.

Die Fraktion der FDP erklärte, sie stimme sowohl dem Ge-
setzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD als auch
dem Entschließungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN zu. Sie unterstrich, es sei notwendig die Bundes-
regierung aufzufordern, innerhalb eines Jahres ein trag-
fähiges, langfristiges und verlässliches Gesamtkonzept vor-
zulegen, um entscheiden zu können, wie es weitergehen soll.

Schon deshalb sei eine Verlängerung notwendig. Für eine
Zweierbesetzung bei den Großen Strafkammern sehe sie
allerdings keine Gründe. Es sei im Übrigen zu bedenken,
dass dann auch die Besetzung der anderen Spruchkörper,
z. B. beim Verwaltungsgericht, überprüft werden müsse.

Die Fraktion der SPD erwiderte auf den Beitrag der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, innerhalb eines Jahres
sei eine Evaluierung nicht zu leisten. Die Länderabfrage
könne sie von der Bundesregierung kurzfristig erhalten, hier-
für bräuchte es keine Aufforderung durch den Entschlie-
ßungsantrag. Hinzuweisen sei im Übrigen, dass es die Län-
der waren, die eine Endfristung gefordert hätten. Nach der
Evaluierung und einer empirischen Untersuchung sei mehr
zu leisten als nur zu überlegen, ob man zu einer Dreierbeset-
zung zurückkehren sollte. Die Frage sei, wie die Systematik
im Strafrecht angesichts der heutigen Belastung, insbeson-
dere in den Strafkammern, in Zukunft aussehen soll. Es seien
grundsätzliche Fragen zu klären, z. B. ob man Strafkammern
nicht mit unterschiedlicher Besetzung einführen sollte. Die-
se grundsätzlichen Fragen seien nicht in einem Jahr zu lösen.

Die Fraktion DIE LINKE. äußerte ihre Befürchtung, dass
die ständige Befristung der Regelung zu einer Dauerlösung
werde, nachdem mehrmals in letzter Minute die Befristung
verlängert worden sei. Die Zweierbesetzung sei bei ihrer
Einführung von vielen Strafkammervorsitzenden auch aus
dem Grund negativ aufgenommen worden, weil die Straf-
kammer am Landgericht die einzige Tatsacheninstanz sei. Es
sei erforderlich, auch wegen der jüngeren Richter, dass die-
ses Kollegialsystem in der Dreierbesetzung erhalten bleibe.
Es sei eine unglückselige Entwicklung, dass überall das Kol-
legialsystem abgebaut worden sei. Um aber die richtige
Richtung zu unterstützen, werde sie dem Entschließungsan-
trag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zustimmen,
den Gesetzentwurf jedoch ablehnen.

Die Fraktion CDU/CSU bekräftigte, es sei in 15 Jahren
nicht gelungen zu evaluieren. Deshalb solle man nun zügig
vorgehen. Sie hob hervor, dass die Begründung des Gesetz-
entwurfs ergebnisoffen ist. Man könne im Rahmen der Eva-
luierung auch zu einem bisher nicht erörterten Ergebnis
kommen. Man könne überlegen, die Zweierbesetzung an den
Strafkammern zu der üblichen Besetzung zu machen und die
Möglichkeit eröffnen, wie beim erweiterten Schöffengericht
mit drei Richtern zu tagen.

Berlin, den 12. November 2008

Siegfried Kauder
(Villingen-Schwenningen)
Berichterstatter

Joachim Stünker
Berichterstatter

Mechthild Dyckmans
Berichterstatterin

Wolfgang Neskovic
Berichterstatter

Jerzy Montag
Berichterstatter

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