BT-Drucksache 16/1067

Entwurf eines Gesetzes zur Ausweitung der Opferentschädigung bei Gewalttaten

Vom 28. März 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1067
16. Wahlperiode 28. 03. 2006

Gesetzentwurf
der Abgeordneten Jerzy Montag, Volker Beck (Köln), Monika Lazar, Claudia Roth
(Augsburg), Irmingard Schewe-Gerigk, Silke Stokar von Neuforn, Hans-Christian
Ströbele, Wolfgang Wieland, Josef Philip Winkler und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Entwurf eines Gesetzes zur Ausweitung der Opferentschädigung bei Gewalttaten

A. Problem

Das geltende Opferentschädigungsgesetz (OEG) schließt Menschen ohne deut-
sche Staatsangehörigkeit, die sich nur vorübergehend in Deutschland aufhalten
und hier Opfer von Gewalttaten werden, von Ansprüchen nach dem Opferent-
schädigungsgesetz aus, sofern sie nicht mit Deutschen oder dauerhaft hier leben-
den Personen verheiratet oder in gerader Linie verwandt sind.

Darüber hinaus sind auch Opfer von Gewalttaten von einer staatlichen Opferent-
schädigung nach deutschem Recht ausgeschlossen, sofern die Gewalttat im Aus-
land begangen wurde.

Zudem ist im OEG bislang eine Anpassung an das Lebenspartnerschaftsrecht
unterblieben.

Diese Beschränkungen des OEG haben in der Vergangenheit zu nicht angemes-
senen Anspruchsausschlüssen geführt.

B. Lösung

Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die mit dauerhaft in Deutschland
lebenden Menschen bis zum dritten Grad verwandt sind und sich nur vorüberge-
hend in Deutschland aufhalten, sind in den Kreis der Anspruchsberechtigten
nach dem OEG aufzunehmen.

Die Billigkeitsentscheidung nach § 10b OEG ist auf deutsche Staatsangehörige
und ihnen nach § 1 Abs. 4 und 5 OEG gleichgestellte Personen auszudehnen,
wenn sie im Ausland Opfer einer Gewalttat werden.

Lebenspartner sind Ehegatten gleichzustellen.
C. Alternativen

Keine

Drucksache 16/1067 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

D. Kosten

Die Regelung führt zu nicht genau bezifferbaren Erhöhungen der Ausgaben bei
Bund und Ländern. Diese werden aber im Hinblick auf die zu erwartende gerin-
ge Zahl der zusätzlichen Anwendungsfälle nicht sehr erheblich und insbesonde-
re zur Wahrung des Sozialstaatsprinzips angemessen sein.

Für Inlandstaten wird die vorgeschlagene Ausweitung des OEG auf nahe Fami-
lienangehörige beschränkt, die sich nur vorübergehend in Deutschland aufhal-
ten. Bei Auslandstaten wird die Zahl der Anwendungsfälle dadurch begrenzt,
dass sich die geschädigte Person nur vorübergehend bis höchstens drei Monate
im Ausland aufhalten darf. Darüber hinaus ist die Entschädigung bei Auslands-
taten auch der Höhe nach begrenzt, da nur eine einmalige Härtefallentschädi-
gung ermöglicht wird. Von einer Entschädigung ausgeschlossen bleibt auch
künftig nach § 2 OEG, wer durch sein eigenes Verhalten, insbesondere durch die
Wahl eines gefährlichen Reiseziels, fahrlässig handelt.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/1067

Entwurf eines Gesetzes zur Ausweitung der Opferentschädigung bei
Gewalttaten

Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen:

Artikel 1

Änderung des Opferentschädigungsgesetzes

Das Opferentschädigungsgesetz in der Neufassung vom
7. Januar 1985 (BGBl. I S. 1), zuletzt geändert durch Gesetz
vom …, wird wie folgt geändert:

1. § 1 Abs. 6 Nr. 1 wird wie folgt neu gefasst:

„1. wenn sie mit einem deutschen oder einem Ausländer,
der zu den in Absatz 4 oder 5 bezeichneten Personen
gehört, verheiratet sind, eine Lebenspartnerschaft
führen oder bis zum dritten Grade verwandt sind
oder“.

2. § 4 Abs. 1 Satz 3 wird wie folgt neu gefasst:

„Hatte er im Geltungsbereich dieses Gesetzes keinen
Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt, oder ist die

Schädigung auf einem deutschen Schiff oder Luftfahr-
zeug oder an einem sonstigen Ort außerhalb des Gel-
tungsbereichs dieses Gesetzes eingetreten, so ist der
Bund Kostenträger.“

3. In § 10b wird ein neuer Satz 3 angefügt:

„Eine besondere Härte nach Satz 1 liegt auch dann vor,
wenn der Tatort im Ausland liegt, sofern die geschädigte
Person zu dem Personenkreis des § 1 Abs. 1, 4 oder 5
Nr. 1 gehört, sie ihren gewöhnlichen und rechtmäßigen
Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes hat, und
sie sich zum Tatzeitpunkt nur vorübergehend bis höchs-
tens drei Monate am Tatort aufhielt.“

Artikel 2

Inkrafttreten

Dieses Gesetz tritt am Tage nach der Verkündung in Kraft.

Berlin, den 28. März 2006

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

gungsanspruch nach dem OEG geltend machen (Antwort der B. Besonderer Teil

Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 1. Februar 1996, Bun-
destagsdrucksache 13/3654).

Zu Artikel 1

Zu Nummer 1 (§ 1)
Drucksache 16/1067 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Begründung

A. Allgemeiner Teil

I. Dem Staat obliegt das alleinige Recht zur Gewaltausübung
und damit zur Verbrechensbekämpfung und -verhütung.
Daraus erwächst zugleich die Pflicht des Staates, auf seinem
Hoheitsgebiet und damit im Bereich seiner Hoheitsgewalt
alle Menschen vor Straftaten zu schützen. Aus diesem Terri-
torialprinzip erwächst auch das Entschädigungsrecht. Kann
der Staat seine Pflicht, die Menschen auf seinem Hoheitsge-
biet vor Gewalttaten zu schützen, im Einzelfall nicht ge-
währleisten, so muss er hierfür die Verantwortung tragen und
die Opfer entschädigen (Bundessozialgericht, Urteil vom
7. November 1979, 9 RVg 2/78). Das Territorialprinzip trifft
keine Unterscheidung nach dem Status der Gewaltopfer. Die
staatliche Gemeinschaft ist gegenüber jedem Opfer einer Ge-
walttat in der Pflicht – entsprechend dem Gebot sozialer Ge-
rechtigkeit – Hilfe zu gewähren, wenn durch die Gewalttat
wirtschaftliche Nachteile drohen.

Auch die vom Rat am 29. April 2004 verabschiedete Richt-
linie zur Entschädigung für Opfer von Straftaten (Richtlinie
2004/80/EG, ABl. L 261 vom 6. August 2004, S. 15) folgt
grundsätzlich dem Territorialprinzip. Nach Artikel 12 Abs. 2
der Richtlinie haben alle Mitgliedstaaten dafür Sorge zu tra-
gen, dass den Opfern von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet
vorsätzlich begangenen Gewalttaten eine angemessene Ent-
schädigung gewährt wird. Nach Artikel 1 dieser Richtlinie
gilt diese (Mindest-)Pflicht jedes Mitgliedstaates unter-
schiedslos für dessen Staatangehörige wie für andere Per-
sonen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt dort haben.

II. Gleichwohl unterscheidet das deutsche Opferentschädi-
gungsgesetz (OEG), das Territorialprinzip insoweit ein-
schränkend, hinsichtlich Anspruchsbegründung und -um-
fang zwischen unterschiedlichen Opfergruppen. So werden
die Ansprüche u. a. danach abgestuft, ob das Opfer die deut-
sche Staatsangehörigkeit besitzt, wie lange es bereits recht-
mäßig in Deutschland lebt oder ob es sich nur vorübergehend
hier aufhält. Bei letzterem besteht ein Anspruch nach dem
OEG nur dann, wenn das Opfer mit einem Deutschen oder
einer mehr als drei Jahre dauerhaft rechtmäßig in Deutsch-
land lebenden Person verheiratet oder in gerader Linie ver-
wandt war.

Entsprechend dieser Abstufung werden bislang Menschen
von einem Entschädigungsanspruch ausgeschlossen, die sich
nur vorübergehend in Deutschland aufhalten, z. B. um ihre
dauerhaft hier lebenden Verwandten dritten Grades zu besu-
chen und hier Opfer einer Gewalttat werden. Dies führte in
der Vergangenheit zu Härtefällen. Bei den Brandanschlägen
von Solingen und Mölln kamen – neben anderen Opfern –
zwei türkische Mädchen zu Tode, die damals als Nichten in
den jeweiligen Opferfamilien zu Besuch waren. Die Hinter-
bliebenen dieser Mädchen konnten daher keinen Entschädi-

Anspruchsberechtigten aufzunehmen. Damit wird der
Schutz des OEG auf Familienbesuche naher Angehöriger
wie Geschwister sowie Nichten und Neffen bzw. Tanten und
Onkel erstreckt. Ermessensgelenkte Härtefallregelungen,
wie sie mit § 10b OEG 1993 nachträglich in das OEG einge-
führt würden, stellen für diese Fälle keinen ausreichenden
Ausgleich sicher.

Die vorgeschlagene, maßvolle Ausdehnung des Anwendungs-
bereichs in § 1 Abs. 6 OEG sichert zugleich die Überschau-
barkeit der finanziellen Mehraufwendungen. Gleichwohl wird
zu beobachten sein, inwieweit sich die vorgeschlagene Rege-
lung in der Praxis bewährt und als ausreichend erweist. Sollte
sich hierbei weiterer Ergänzungsbedarf ergeben, wird der
Gesetzgeber darauf in einem gesonderten Schritt reagieren
müssen.

III. Darüber hinaus greift das Opferentschädigungsgesetz
nicht bei Straftaten im Ausland, sondern nur dann, wenn die
Straftat im Inland begangen wurde. Für die Opfer einer
Straftat macht es jedoch keinen Unterschied, ob die Straftat
im In- oder Ausland begangen wurde. Dennoch endet das
Opferentschädigungsgesetz bislang strikt an der Grenze.
Dies führt in nicht wenigen Fällen zu Ungerechtigkeiten. So
wurde einer Mutter, deren beide Kinder durch den Vater er-
mordet wurden, die Entschädigung versagt, weil der Tatort
Mallorca war (Bundessozialgericht, Urteil vom 10. Dezem-
ber 2002, Az. B 9 VG 7/01 R). Für die Mutter macht es kei-
nen Unterschied, ob das Verbrechen auf Mallorca oder auf
Sylt begangen wurde. Der gleiche Wertungswiderspruch
würde sich ergeben, wenn die Familie dauerhaft in Deutsch-
land lebt und Mutter und Kind nicht die deutsche Staatsan-
gehörigkeit gehabt hätten.

Daneben zeigen auch terroristischen Anschläge, z. B. der
Bombenanschlag auf eine jüdische Synagoge in Djerba, dass
deutsche Touristen im Ausland einem erhöhten Risiko aus-
gesetzt sein können. Zwar können die Opfer solcher terroris-
tischer Anschläge im Ausland eine Entschädigung aus einem
speziellen Fonds für terroristische Straftaten erhalten. Hier-
auf besteht indes kein Anspruch. Durch die Fondslösung un-
terliegen die Opfer vielmehr der Dispositionsgewalt des
Haushaltsgesetzgebers.

Vor diesem Hintergrund hatten die Fraktionen von
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD in der 15. Wahl-
periode bereits einen Antrag eingebracht, in dem die
Bundesregierung aufgefordert wurde, die Ausweitung des
Opferentschädigungsgesetzes auf oben bezeichnete Aus-
landstaten zu prüfen (Bundestagsdrucksache 15/808). Da
dieser Prüfungsauftrag bislang nicht zu einer gesetzlichen
Regelung geführt hatte, besteht der gesetzgeberische Hand-
lungsbedarf fort.
Deshalb sieht der Gesetzentwurf vor, Verwandte bis zum
drittten Grade (in gerader und Seitenlinie) in den Kreis der

Bislang beschränkte § 1 Abs. 6 Nr. 1 OEG den Kreis der Ver-
sorgungsberechtigten auf sich vorübergehend in Deutsch-

Zu Nummer 2 (§ 4)

Ziel der Regelung ist die Gewährung von Leistungen nach
dem OEG auch bei Gewalttaten, die außerhalb des Geltungs-
bereichs des Gesetzes begangen wurden. Daher empfiehlt
sich eine Kostentragungsregelung entsprechend den Rege-
lungen für – exterritoriale – Seeschiffe und Flugzeuge durch
den Bund.

Zu Nummer 3 (§ 10b)

Die Erweiterung der Härtefallregelung auf Auslandstaten er-
möglicht es, den Opfern von Gewalttaten im Ausland einen
angemessenen Ausgleich für das erlittene Unrecht zu ge-
währen. Diese Regelung bedeutet zwar eine Ausweitung

Reisen in besonders gefährdete Gebiete regelmäßig keine
Entschädigung nach dem OEG auslösen können. Allerdings
kann es hier Grenzfälle geben, in denen die Gefährlichkeit
der bereisten Region unklar bleibt. Nicht zuletzt kann bei der
Bemessung eines Härtefallausgleichs nach § 10b OEG das
Entschädigungsrecht des Landes berücksichtigt werden, in
dem die Gewalttat begangen wurde. Sollte der im Ausland
geschädigten Person bereits nach dortigem Recht eine Ent-
schädigung gewährt werden, kann dies im Rahmen der Er-
messensentscheidung durch die deutschen Behörden berück-
sichtigt werden.

Zu Artikel 2 (Inkrafttreten)

Die Vorschrift regelt das Inkrafttreten des Gesetzes.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/1067

land aufhaltende Ausländer, die mit einem Deutschen oder
Ausländer nach den Absätzen 4 und 5 verheiratet oder in ge-
rader Linie verwandt waren. Verwandte in Seitenlinie, die
z. B. ihre dauerhaft in Deutschland lebenden Angehörigen
besuchten, waren nicht vom Kreis der Anspruchsberechtig-
ten erfasst. Sie konnten allenfalls über die Härtefallregelung
des § 10b OEG einen Ausgleich erhalten.

Mit der vorgeschlagenen Erweiterung auf Verwandtschafts-
verhältnisse bis zum dritten Grad erhalten auch nahe Ver-
wandte – insbesondere Geschwister, Nichten und Neffen
bzw. Onkel und Tanten – einen Anspruch nach dem OEG,
wenn sie z. B. ihre dauerhaft in Deutschland lebenden Ver-
wandten besuchen und hier Opfer einer Gewalttat werden.
Die Entschädigung dieser Personengruppe soll als An-
spruchslösung ausgestaltet werden, um Härtefälle auszu-
schließen.

Lebenspartnerschaft und Ehe sind in Deutschland zivilrecht-
lich gleichgestellt. Insbesondere bestehen gleiche Unter-
haltspflichten. Als Opfer von Gewalttaten befinden sich Le-
benspartner in der gleichen Situation wie Ehepartner. Von
daher ist eine Gleichstellung auch im OEG geboten.

über das Territorialprinzip hinaus. Sie knüpft jedoch weiter-
hin an eine enge Beziehung des Opfers an den deutschen
Staat an, indem nur solche Personen erfasst werden, die ent-
weder die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder dauer-
haft – also für mindestens drei Jahre – in Deutschland ihren
Lebensmittelpunkt begründet haben. Aus Sicht der Opfer
macht es keinen Unterschied, ob das ihnen zugefügte Un-
recht während eines Mallorca- oder eines Sylturlaubs ein-
getreten ist. Ausländische Reiseziele werden inzwischen
ebenso häufig und selbstverständlich angesteuert wie inlän-
dische. Da der deutsche Staat im Ausland jedoch regelmäßig
weniger Möglichkeiten hat, die Sicherheit vor Straftaten zu
gewährleisten, kann auch seine Entschädigungspflicht nur in
eingeschränkter Form bestehen. Deshalb erscheint es sach-
gerecht, die Entschädigung in diesen Fällen auf eine einma-
lige Härtefallleistung zu beschränken.

Darüber hinaus ermöglicht es eine Ermessensregelung, mit-
verschuldete Gefahrenlagen bei Auslandsreisen durch die
Geschädigten angemessen zu berücksichtigen. Zwar ist be-
reits nach geltendem Recht ein Anspruch nach dem OEG
ausgeschlossen, wenn der Geschädigte aufgrund eigenen
Verschuldens die Gefahrensituation veranlasst hat, so dass

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