BT-Drucksache 16/10101

Lage der Menschenrechte von Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen und die Gewährleistung der bürgerlichen und politischen Rechte in der Türkei

Vom 11. August 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/10101
16. Wahlperiode 11. 08. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Alexander
Bonde, Kai Gehring, Thilo Hoppe, Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), Winfried
Nachtwei, Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin, Dr. Gerhard
Schick, Rainder Steenblock, Jürgen Trittin, Josef Philip Winkler und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Lage der Menschenrechte von Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen und die
Gewährleistung der bürgerlichen und politischen Rechte in der Türkei

Der im Mai 2008 von Human Rights Watch (HRW) publizierte Bericht
„We Need a Law for Liberation: Gender, Sexuality, and Human Rights in a
Changing Turkey” dokumentiert die in der Türkei seit langem andauernde
Gewalt und Misshandlung aufgrund von sexueller Orientierung und Ge-
schlechtsidentität. Dokumentiert werden Fälle von Gewalt, Schikanierung
durch Polizisten und Morddrohungen. Dabei wird auch der psychische Druck
deutlich, den Lesben und Schwule innerhalb ihrer Familien erleiden. In der
türkischen Gesetzgebung gibt es keinen ausdrücklichen Schutz der Men-
schenrechte von Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen.

Auch Menschenrechtsverteidiger und Nichtregierungsorganisationen (NROs)
leiden an der vorherrschenden Homophobie und werden regelmäßig schikaniert
und in ihrer Arbeit behindert. Am 7. April 2008 führte die Polizei eine Razzia
in den Räumen der NRO Lamba Istanbul durch, die sich seit mehr als zehn Jah-
ren für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen einsetzt. Die
Polizei rechtfertigte ihr Vorgehen nach Angaben von HRW damit, dass die Or-
ganisation Prostitution ermögliche und fördere. Das Büro des Gouverneurs von
Istanbul reichte eine Klage gegen Lambda Istanbul ein, mit der Begründung,
dass Name und Zielsetzung der Organisation „gesetzeswidrig und unmoralisch
seien“. Das Istanbuler Zivilgericht gab dieser Klage am 29. Mai 2008 statt. Die
Richter folgten der Argumentation der Staatsanwaltschaft, der Verein verstoße
gegen das Verfassungsgebot zum Schutz der Familie und gegen die „Moral“,
auch sei der Name „Lambda“ nicht türkisch. Lambda Istanbul hat gegen das
Verbot Rechtsmittel eingelegt.

Mitte Juli 2008 wurde der 26-jährige Ahmet Yildiz auf offener Strasse erschos-
sen. Presseberichten zufolge verweisen die Umstände des Mordes auf einen
politischen Tathintergrund. Es gibt Anzeichen, dass der offen homosexuell le-

bende Student Opfer der als „Ehrenmord“ bezeichneten Praxis familiärer Hin-
richtung geworden ist. Ahmet Yildiz hat sich bei Lambda Istanbul engagiert.
Nach Angaben der türkischen Regierung gab es allein in 2007 220 „Ehren-
morde“ in der Türkei. Der Mord an Ahmet Yildiz ist möglicherweise der erste
– zumindest als solcher bekannt gewordene – „Ehrenmord“ aufgrund der
Homosexualität des Opfers.

Drucksache 16/10101 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Der Bericht von HRW zu Menschenrechtsverletzungen wegen der sexuellen
Orientierung oder Geschlechtsidentität nennt ein breites Spektrum an Proble-
men, einschließlich Vergewaltigung und Folter durch die türkische Polizei.

Schwulen Männern ist es nach wie vor verboten, in der Armee zu dienen.
Gleichzeitig gibt es keine Möglichkeit den Wehrdienst zu verweigern. Poten-
tielle Wehrdienstverweigerer müssen sich nach Angaben von HRW demnach
als „krank“ ausweisen und sind gezwungen, erniedrigende und entwürdigende
Untersuchungen über sich ergehen zu lassen, um ihre Homosexualität „bewei-
sen“ zu können.

Alleine 89 Prozent der für den Bericht interviewten Transsexuellen berichten
von körperlicher und sexueller Gewalt, der sie ausgesetzt sind. Aus Angst vor
weiterer Demütigung wendet sich nur ein Bruchteil in ihrer Not auch an die
Polizei.

(Zur Gewährleistung der Glaubensfreiheit in der Türkei hatte die Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bereits 2006 eine Kleine Anfrage eingebracht
– Bundestagsdrucksache 16/2739)

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über Diskriminierung, Gewalt
und Misshandlung aufgrund von sexueller Orientierung und Geschlechts-
identität in der Türkei?

2. Gibt es über den 2005 gescheiterten Versuch, Diskriminierung aufgrund von
sexueller Orientierung explizit unter Strafe zu stellen, derzeit Bemühungen
einen solchen Diskriminierungsschutz in die Rechtsvorschriften aufzuneh-
men?

3. Hat die Türkei ihr Recht an die EU-Richtlinien (2000/43/EG, 2000/78/EG,
2002/73/EG, 2004/113/EG) angepasst, und weicht der Standard des Rechts-
schutzes von dem Schutzumfang des deutschen Allgemeinen Gleichbehand-
lungsgesetzes ab?

Wenn ja, in welcher Form?

4. Welche rechtlichen Vorschriften schützen Lesben und Schwule vor Gewalt
und Diskriminierung?

5. Wie ist die aktuelle Lage der Presse-, Vereinigungs- und Versammlungsfrei-
heit für Lesben, Schwule und Transgender?

a) In welchen Fällen gab es Versuche Organisationen von Lesben, Schwulen
und Transgender nicht zuzulassen bzw. zu verbieten?

b) Wie wurde in diesen Fällen von den Gerichten entschieden?

c) Wie beurteilt die Bundesregierung das Urteil gegen den Verein Lambda
Istanbul?

d) Wie beurteilt die Bundesregierung diese Entscheidung vor dem Hinter-
grund der Europäischen Menschenrechtskonvention?

e) In welchen Fällen kam es zum Verbot oder der Verhinderung der Auslie-
ferung von Homosexuellenzeitschriften?

f) Gibt es Beschränkungen bei Versammlungen von Lesben, Schwulen und
Transgender und kommen die Sicherheitskräfte hinreichend dem Schutz
dieser Veranstaltungen nach?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/10101

6. Welche Rechtsvorschriften (zum Schutz der Moral, des Türkentums etc.)
werden herangezogen, um die Rechte von Lesben, Schwulen und Trans-
gendern einzuschränken?

Wie beurteilt die Bundesregierung dies vor dem Hintergrund der Europäi-
schen Konvention zum Schutz der Menschenrechte?

7. Wie beurteilt die Bundesregierung die soziale und rechtliche Situation von
Transgender in der Türkei?

8. Gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung in der Türkei religiöse oder
politische Organisationen oder Publikationen, die anti-homosexuelle Hal-
tungen und Ablehnung von Transgendern befördern, und wie ist deren Be-
deutung einzuschätzen?

9. Wie viele so genannte Ehrenmorde an homosexuellen Opfern gab es nach
Schätzungen der Homosexuellenorganisationen in den letzten Jahren in der
Türkei?

10. In wie vielen Fällen gab es solche Taten oder die Drohung mit solchen
Taten nach Kenntnis der Bundesregierung mit Deutschlandbezug?

11. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Hintergründe der
Ermordung von Ahmet Yildiz und vom Stand der Ermittlungen?

12. Wie beurteilt die Bundesregierung die Gefahrenlage für den deutschen
Lebensgefährten von Ahmet Yildiz, der nach Presseberichten mittlerweile
wieder in der Bundesrepublik Deutschland ist?

13. Bei welcher Gelegenheit und in welcher Weise ist die soziale und recht-
liche Situation von Lesben, Schwulen und Transgender ein Thema in den
bilateralen Gesprächen mit der Türkei?

14. Wie beurteilt die Bundesregierung – auch vor dem Hintergrund der Bewer-
bung der Türkei um eine EU-Mitgliedschaft – die Bemühungen der Türkei,
diesen Menschenrechtsverletzungen entgegenzutreten?

15. In welcher Form und mit welchen Ergebnissen sind diese Themen in den
Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei bespro-
chen worden?

Welche Fortschritte sind hier zu erwarten?

Berlin, den 11. August 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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