BT-Drucksache 14/3012

Keine überstürzte und konzeptionslose Durchbrechung des Anwerbestopps

Vom 21. März 2000


Deutscher Bundestag

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14. Wahlperiode

21. 03. 2000

Antrag

der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Dr. Maria Böhmer, Peter Rauen, Horst
Seehofer, Hans-Peter Repnik, Ilse Aigner, Günter Baumann, Meinrad Belle,
Dr. Joseph-Theodor Blank, Sylvia Bonitz, Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Hartmut
Büttner (Schönebeck), Hansjürgen Doss, Rainer Eppelmann, Axel E. Fischer
(Karlsruhe-Land), Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen), Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof),
Erich G. Fritz, Norbert Geis, Norbert Hauser (Bonn), Klaus Hofbauer, Martin
Hohmann, Dr.-Ing. Rainer Jork, Ulrich Klinkert, Hartmut Koschyk, Karl-Josef
Laumann, Werner Lensing, Julius Louven, Erich Maaß (Wilhelmshaven), Erwin
Marschewski (Recklinghausen), Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn), Wolfgang
Meckelburg, Elmar Müller (Kirchheim), Claudia Nolte, Friedhelm Ost, Beatrix
Philipp, Dr. Bernd Protzner, Thomas Rachel, Dr. Heinz Riesenhuber,
Franz-Xaver Romer, Dr. Klaus Rose, Hartmut Schauerte, Heinz Schemken,
Karl-Heinz Scherhag, Dietmar Schlee, Dr.-Ing. Joachim Schmidt (Halsbrücke),
Birgit Schnieber-Jastram, Dr. Erika Schuchardt, Johannes Singhammer,
Bärbel Sothmann, Andreas Storm, Max Straubinger, Thomas Strobl (Heilbronn),
Dr. Hans-Peter Uhl, Gunnar Uldall, Angelika Volquartz, Heinz Wiese (Ehingen),
Hans-Otto Wilhelm (Mainz), Matthias Wissmann, Dagmar Wöhrl,
Wolfgang Zeitlmann und der Fraktion der CDU/CSU

Keine überstürzte und konzeptionslose Durchbrechung des Anwerbestopps

Der Bundestag wolle beschließen:

Die unvorbereiteten und unkoordinierten Pläne der Bundesregierung, die erste
große staatlicherseits veranlasste Zuwanderungswelle seit dem 1973 von der
Regierung Helmut Schmidt beschlossenen Anwerbestopp zu organisieren, kön-
nen nach den bisher bekannt gewordenen Rahmenbedingungen nicht gebilligt
werden. Die gilt insbesondere, weil die Pläne vorgelegt wurden



ohne hinreichende vorherige Klärung des tatsächlichen Fachkräftemangels
und Zuwanderungsbedarfs,



ohne sorgfältige Prüfung der Qualifizierbarkeit und Mobilisierbarkeit ar-
beitsloser IT- Spezialisten im Inland oder aus Ländern der Europäischen
Union,



ohne Rücksicht auf die kurz-, mittel- und langfristigen Berufsaussichten der
gegenwärtig in der Ausbildung und Studium befindlichen jungen Menschen
und der in Qualifizierungsmaßnahmen befindlichen Arbeitslosen und älteren
Arbeitnehmer,
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ohne abgestimmtes Gesamtkonzept von Bund und Ländern zur Qualifizie-
rung unserer Kinder für die Berufe der Zukunft,



ohne die ausländer- und integrationspolitischen Folgen zu bedenken,



ohne Berücksichtigung der Tatsache, dass gegenwärtig Ausländer gegen den
Willen ihrer Arbeitgeber abgeschoben werden,



an den bestehenden rechtlichen Grundlagen vorbei, aber



ohne Befassung des deutschen Parlaments.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. eine derartig grundlegende Kursänderung der deutschen Ausländerpolitik
nicht am Parlament vorbei zu beschließen. Neue Einwanderungstatbestände
können – wenn überhaupt – für uns nur dann in Betracht kommen, wenn zu-
vor die bislang ungeordnete Zuwanderung begrenzt und unter Berücksichti-
gung der Interessen unseres Landes künftig gesteuert wird;

2. die deutsche Öffentlichkeit nicht über die unter dem Begriff „Green Card“
international verstandenen Rechtsfolgen (Daueraufenthaltsrecht, Dauerar-
beitserlaubnis) und damit über die absehbare Dauer des Aufenthalts und
seiner Rahmenbedingungen zu täuschen. Eine Befristung des Aufenthalts-
rechts und der Arbeitserlaubnis wird sich als Illusion herausstellen. Die
Bundesregierung unterliegt der verhängnisvollen Fehleinschätzung, dass
nur Arbeitskräfte, nicht Menschen kämen. Aus der Gastarbeiterzuwande-
rung weiß man, dass die Menschen mit ihren Familien dauerhaft hier blei-
ben wollen;

3. die von den Anwerbeplänen betroffenen Menschen nicht nur als Faktor öko-
nomischen Bedarfs, sondern auf der Grundlage des Menschenbildes des
Grundgesetzes als künftige Mitbürger mit eigenen Freiheits- und Teilhabe-
rechten sowie in ihren familiären, kulturellen und religiösen Bindungen
wahrzunehmen;

4. die beabsichtigte Arbeitsmigration großen Stils nicht erneut ohne begleiten-
des Konzept über Aufenthaltsdauer und Integration zu veranlassen;

5. deutschen Arbeitssuchenden, insbesondere auch älteren, mit benachbarten
Qualifizierungsprofilen eine realistische Chance zum Wechsel in die neu
entstehenden Zukunftsberufe zu vermitteln und dafür Sorge zu tragen, dass
die Beschäftigungsmöglichkeiten von arbeitslosen deutschen IT-Fachkräf-
ten, künftigen Studienabgängern und Absolventen der neuen Ausbildungs-
berufe nicht beeinträchtigt werden;

6. im Zuge einer gesamtstaatlichen Bildungsanstrengung die von der CDU/
CSU-geführten Bundesregierung zur Schaffung zukunftsträchtiger Berufs-
bilder im IT-Sektor eingeleiteten Maßnahmen fortzusetzen und auszubauen,
die Länder bei der Stärkung der Informatik und der EDV-Ausstattung an den
Schulen zu unterstützen und auf die Länder einzuwirken, im Hinblick auf
den Arbeitskräftebedarf eine deutliche Erhöhung der Kapazität in den Studi-
enfächern Informatik und Wirtschaftsinformatik an den Universitäten und
Fachhochschulen vorzusehen;

7. eine Analyse darüber anzustellen, ob in weiteren Berufszweigen und ggf. in
welchem Umfang Fachkräftemangel besteht. Schon jetzt stellt sich heraus,
dass eine Beschränkung des ausländischen Fachkräftebedarfs nur auf die IT-
Branche eine Insellösung darstellt, die als Präzedenzfall Forderungen weite-
rer Branchen nach sich zieht. Hierfür dürfen nicht erneut Ad-hoc-Aktionen
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stattfinden. Die Bundesregierung muss schon jetzt durch rechtzeitige Initia-
tiven zur Verbesserung der Ausbildungssituation entscheidend beitragen;

8. zu beachten, welche Gründe dafür ausschlaggebend sind, dass trotz hoher
Arbeitslosigkeit – von hochspezialisierten Fachkräften bis hin zu ungelern-
ten Arbeitskräften – hunderttausende von offenen Stellen nicht mit hier ar-
beitslos gemeldeten Personen besetzt werden können;

9. Industrie, Verbände, Kammern und Arbeitsämter dazu zu gewinnen, junge
und ältere Menschen über das bisherige Maß in den IT-Technologien auszu-
bilden und weiter zu qualifizieren, um künftige Bedarfslücken auf dem IT-
Arbeitsmarkt zu vermeiden.

Berlin, den 21. März 2000

Friedrich Merz, Michael Glos und Fraktion

Begründung

Der Bundeskanzler hat anlässlich eines Besuchs auf der CEBIT am 23. Februar
2000 ohne vorangegangene Ressortabstimmung eine tiefgreifende Kursände-
rung der von allen Bundesregierungen seit 1973 verfolgten Politik der Zuwan-
derungsbegrenzung verkündet. Die Ankündigung bedeutsamer politischer Wei-
chenstellungen ohne Abwägung und Abstimmung der Rahmenbedingungen,
Nebenfolgen und Instrumentarien wird aus seiner eigenen Fraktion als „ein ty-
pischer Schröder“ bezeichnet. Tatsächlich wird mit dieser Initiative auf den
zentralen Politikfeldern der Ausländer- und der Arbeitsmarktpolitik an die Vor-
jahres-Chronik konzeptioneller und operativer Pannen im Regierungshandeln
angeknüpft.

Es wird anerkannt, dass es aus ökonomischen Sachzusammenhängen sinnvoll
oder sogar nötig sein kann, hochqualifizierte ausländische Arbeitnehmer in
Schlüsselfunktionen in Deutschland zu beschäftigen, wenn ein akuter und kurz-
und mittelfristig mit anderen Mitteln nachweislich nicht zu behebender Ar-
beitskräftemangel besteht. Ansonsten könnten Wachstums- und Beschäfti-
gungschancen auf wichtigen Zukunftsmärkten verspielt werden. Vor dem Aus-
weichen auf den Weltmarkt muss aber das energische Bemühen um
Erschließung und Mobilisierung der Reserve nicht beschäftigter Arbeitssu-
chender in Deutschland und der EU stehen. Außerdem muss als erstes geprüft
werden, ob die bestehenden rechtlichen Möglichkeiten der Anwerbestopp-Aus-
nahmeverordnung und der Arbeitsaufenthalte-Verordnung flexibler gehandhabt
werden können.

Die mittel- bis langfristigen Auswirkungen der von der Bundesregierung ins
Auge gefassten Maßnahme auf den Arbeitsmarkt in Deutschland sind zurzeit
völlig ungeklärt. Eine wirkungsvolle und nachhaltige Politik, die negative Wir-
kungen auf den deutschen Arbeitsmarkt ausschließt, bedarf deshalb zunächst
einer nüchternen Bestandsaufnahme hinsichtlich des Bedarfs an ausländischen
Arbeitskräften, der Verfügbarkeit von Arbeitskräften in Deutschland und der
EU sowie der Möglichkeiten einer Qualifikation von jungen Menschen, älteren
Arbeitnehmern und Arbeitslosen. Eine solche Bestandsaufnahme ist bisher von
der Bundesregierung versäumt worden.

Über die kurzfristige Gewinnung von IT-Experten hinaus bedarf es einer breit
angelegten gesamtstaatlichen Bildungsanstrengung. Der Strukturwandel hin
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zur Informationsgesellschaft macht grundlegende Reformen im Bildungs- und
Ausbildungssystem notwendig. Auf die nachhaltig veränderten Anforderungen
an die Qualifikationsprofile müssen Schulen, Berufsbildung, Hochschulen und
berufliche Weiterbildung inhaltlich und ausstattungsmäßig schnell und umfas-
send reagieren. Die Fachkompetenz ist um Medienkompetenz zu ergänzen.
Neue Aus- und Fortbildungsberufe sind zu schaffen. An den Hochschulen sind
verstärkt informationstechnologische Studienbereiche einzurichten. Der be-
rufsbegleitenden Qualifizierung von Arbeitskräften im IT-Sektor ist stärkeres
Gewicht zu geben.

Bis heute sind die ausländer- und integrationspolitischen Konsequenzen der in
den sechziger und frühen siebziger Jahren erfolgten Anwerbung ausländischer
Arbeitnehmer nicht bewältigt. Die CDU/CSU-Fraktion hat darum im vergange-
nen Jahr ein zusammenhängendes Integrationskonzept für diese Zuwande-
rungsgenerationen vorgelegt, das von der Koalition ohne Diskussion und ohne
eigene Initiativen abgelehnt wurde. Eine Ausländerpolitik, die nur auf die öko-
nomische Nützlichkeit des Tages fixiert ist und die sozialen, kulturellen und po-
litischen Folgen forcierter Zuwanderung ausblendet, greift zu kurz.

Die Pläne der Bundesregierung berühren nicht nur elementare Interessen vieler
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland. Sie bedeuten auch einen
grundlegenden Kurswechsel in der deutschen Ausländerpolitik. Fragen von
derartig tiefgreifender und langfristiger Bedeutung können in der Demokratie
nur nach ausführlicher parlamentarischer Debatte von Deutschem Bundestag
und Bundesrat entschieden werden.

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