Bundesgerichtshof, Beschluss vom 05.12.2023, Az. XIII ZB 32/21

13. Zivilsenat | REWIS RS 2023, 9663

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Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde wird festgestellt, dass der Beschluss des [X.] für das [X.] vom 12. Mai 2021 und der Beschluss der 11. Zivilkammer des [X.] vom 28. Mai 2021 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden der [X.] auferlegt.

Der Gegenstandswert des [X.] beträgt 5.000 €.

Gründe

1

I. Der Betroffene ist afghanischer Staatsangehöriger. Im Oktober 2017 wurde ihm auf seinen Asylantrag in [X.] internationaler Schutz gewährt. Nach unerlaubter Einreise in die [X.] stellte er auch hier einen Asylantrag, der wegen des bereits in [X.] gewährten Schutzes als unzulässig abgelehnt wurde. Im Juli 2020 wurde der Betroffene durch die Zentrale Ausländerbehörde [X.] ([X.]) nach [X.] überstellt und eine Wiedereinreisesperre für das [X.] bis zum 31. März 2023 angeordnet. Anlässlich einer Kontrolle der [X.] am [X.] in [X.] wurde der Betroffene Anfang August 2020 erneut aufgegriffen und aufgrund Beschlusses des Amtsgerichts [X.] in [X.] genommen. Am 9. September 2020 wurde er in Aussetzung des Vollzugs wegen Nichteinhaltung des Beschleunigungsgebots aus der Haft entlassen. Sein anschließender Aufenthalt ist nicht bekannt. Einen auf den 14. September 2020 anberaumten Termin bei der beteiligten Behörde nahm der Betroffene nicht wahr. Daraufhin wurde er durch rechtskräftige Verfügung der beteiligten Behörde vom 30. September 2020 unter Androhung der Abschiebung ausgewiesen.

2

Vom 19. Januar 2021 bis zum 12. Mai 2021 verbüßte der Betroffene eine Ersatzfreiheitsstrafe in der [X.] ([X.]). Am Tag der Haftentlassung wurde er von der [X.] fußläufig auf der Auffahrt zur [X.] ([X.]) aufgegriffen und in Gewahrsam genommen.

3

Auf Antrag der beteiligten Behörde ordnete das [X.] für das [X.] am 12. Mai 2021 Haft zur Sicherung der Abschiebung des Betroffenen bis längstens 10. Juni 2021 an. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Betroffenen ist ohne Erfolg geblieben. Der Betroffene ist am 8. Juni 2021 aus der Haft heraus nach [X.] überstellt worden. Mit seiner Rechtsbeschwerde begehrt er die Feststellung, durch die Haftanordnung in seinen Rechten verletzt worden zu sein.

4

II. Die nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FamFG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Feststellung der Rechtsverletzung des Betroffenen durch die angeordnete Haft.

5

1. Die Haftanordnung des Amtsgerichts und die Entscheidung des [X.] verletzen den Betroffenen schon deshalb in seinen Rechten, weil es nach den Feststellungen des [X.] an der örtlichen Zuständigkeit der beteiligten Behörde für die Beantragung von [X.] fehlt. Ob die [X.] der Rechtsbeschwerde durchgreifen, bedarf deshalb keiner Entscheidung.

6

a) Die Haft darf gemäß § 417 Abs. 1 FamFG nur auf Antrag der zuständigen Verwaltungsbehörde angeordnet werden. Fehlt es an der Zuständigkeit, ist der Haftantrag unzulässig ([X.], Beschlüsse vom 13. Oktober 2011 - [X.], [X.] 2012, 74 Rn. 4; vom 24. August 2020 - [X.]/19, [X.] 2021, 122 Rn. 20). Das Vorliegen eines zulässigen Antrags ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen ([X.], Beschlüsse vom 18. März 2010 - [X.] 194/09, [X.] 2010, 156 Rn. 11; vom 22. Juli 2010 - [X.] 28/10, NVwZ 2010, 1511 Rn. 7; vom 28. April 2011 - [X.] 140/10, juris Rn. 7). Sachlich zuständig ist gemäß § 71 [X.] die Ausländerbehörde. Die örtliche Zuständigkeit folgt aus den jeweiligen [X.]gesetzen ([X.], Beschluss vom 23. Februar 2021 - [X.]/19, juris Rn. 6). Maßgeblich für die Zuständigkeit ist der Zeitpunkt der Haftantragstellung (vgl. [X.], Beschluss vom 13. Juli 2011 - 2 BvR 742/10, [X.]K 19, 1 Rn. 29).

7

b) Zu diesem Zeitpunkt kann auf Grundlage der Feststellungen des [X.] die örtliche Zuständigkeit der beteiligten Behörde nicht angenommen werden.

8

aa) Die beteiligte Behörde hat im Haftantrag angegeben, sie sei gemäß § 71 Abs. 1 [X.] i.V.m. § 4 Abs. 1 des Gesetzes über Aufbau und Befugnisse der Ordnungsbehörden - Ordnungsbehördengesetz - für das [X.] und § 14 Abs. 3 der Verordnung über Zuständigkeiten im Ausländerwesen [X.] ([X.]) örtlich zuständige Ausländerbehörde, da der Betroffene im Stadtgebiet [X.] festgenommen worden sei. Dies trifft indes nicht zu, weil die Festnahme des Betroffenen am 12. Mai 2021 nach einer in [X.] verbüßten Ersatzfreiheitsstrafe auf der Auffahrt zur [X.] in [X.] erfolgt war. Dass der Betroffene in der Vergangenheit - am 4. August 2020 - am [X.]er [X.] aufgegriffen und seinerzeit auf Antrag der beteiligten Behörde in Haft genommen wurde, begründet nicht ihre fortdauernde Zuständigkeit. Zwar folgt aus § 14 Abs. 3 Fall 2 [X.] [X.] eine Zuständigkeit der Ausländerbehörde, in deren Bezirk sich erstmals die Notwendigkeit für eine ausländerrechtliche Maßnahme ergibt. Diese Zuständigkeitsbestimmung gilt jedoch allein innerhalb des [X.] [X.] und damit nur für den Fall, dass dort weitere Maßnahmen erforderlich geworden wären.

9

bb) Eine Zuständigkeit des [X.] [X.] lässt sich allerdings nicht feststellen. Welches [X.]land die [X.] hat, bestimmt sich beim Fehlen spezieller koordinierter landesrechtlicher Zuweisungsregelungen zur Verwaltungskompetenz im Wege der entsprechenden Anwendung der zur örtlichen Zuständigkeit getroffenen Regelungen in den Verwaltungsverfahrensgesetzen der Länder, die - wie das [X.] Verwaltungsverfahrensgesetz in § 1 Abs. 1 - insoweit auf das Verwaltungsverfahrensgesetz des [X.] verweisen oder - wie im Verwaltungsverfahrensgesetz für das [X.] - durch gleichlautende Formulierungen mit § 3 VwVfG übereinstimmen (vgl. im Einzelnen [X.], Urteil vom 22. März 2012 - 1 C 5/11, [X.]E 142, 195 Rn. 18 bis 20).

Nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a VwVfG ist in Angelegenheiten, die eine natürliche Person betreffen, die Behörde zuständig, in deren Bezirk die natürliche Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat oder zuletzt hatte. Der gewöhnliche Aufenthalt einer Person ist dort, wo sie sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass sie an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt (vgl. § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I; [X.], Urteil vom 4. Juni 1997 - 1 C 25/96, NVwZ-RR 1997, 751 [juris Rn. 16]).

Feststellungen dazu, dass der Betroffene seinen gewöhnlichen Aufenthalt zuletzt in [X.] hatte, hat das Beschwerdegericht nicht getroffen. Auch ein Rückgriff auf die Auffangzuständigkeit nach § 3 Abs. 1 Nr. 4 VwVfG, nach der die Behörde zuständig ist, in deren Bezirk der Anlass für die Amtshandlung hervortritt, begründet nicht die Zuständigkeit der beteiligten Behörde. Anlass für die konkrete Amtshandlung war das Aufgreifen des ausreisepflichtigen Betroffenen in [X.]. Im Übrigen wären für ein Eingreifen der Auffangzuständigkeit Feststellungen dazu erforderlich gewesen, dass der Betroffene über einen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland weder derzeit verfügt noch in der Vergangenheit verfügte (vgl. [X.]E 142, 195 Rn. 21).

cc) Die örtliche Zuständigkeit folgt auch nicht aus dem Umstand, dass die beteiligte Behörde gegen den Betroffenen unter dem 30. September 2020 eine bestandskräftige Ausweisungsverfügung erließ. Eine Annexkompetenz, die länderübergreifend eine fortdauernde Zuständigkeit der beteiligten Behörde begründen würde, enthält das [X.] gerade nicht (vgl. [X.], DVBl 2018, 268 [juris Rn. 25]; zur nachträglichen Befristung vgl. [X.]E 142, 195 Rn. 15).

dd) Die Voraussetzungen des § 3 Abs. 3 VwVfG liegen gleichfalls nicht vor. Danach kann die bisher zuständige Behörde mit Einverständnis der jetzt zuständigen Behörde das Verfahren fortführen, wenn sich die Zuständigkeit "im Lauf des Verwaltungsverfahrens" ändert. Das von der beteiligten Behörde zuletzt geführte Verwaltungsverfahren war jedoch mit Rechtskraft der Ausweisungsverfügung abgeschlossen. Im Übrigen ist ein Einverständnis der - sofern der Betroffene keinen ständigen Aufenthalt in [X.] hatte - zuständigen [X.]n Ausländerbehörde nicht ersichtlich.

2. Eine Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht zur Nachholung von Feststellungen kommt nicht in Betracht, da die erforderliche Anhörung des Betroffenen (§ 68 Abs. 3, § 420 Abs. 1 FamFG) wegen der erfolgten Überstellung nicht mehr möglich ist (vgl. [X.], Beschlüsse vom 17. März 2016 - [X.] 39/15, juris Rn. 10; vom 25. August 2020 - [X.]/19, [X.] 2021, 69 Rn. 31; vom 23. Februar 2021 - [X.]/19, juris Rn. 16). Die Feststellung, dass die beteiligte Behörde zuständig war, weil der Betroffene seinen gewöhnlichen Aufenthalt in [X.] hatte, könnte nur auf Grundlage neuer Tatsachen erfolgen, zu denen dem Betroffenen persönlich Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden müsste (vgl. [X.], Beschlüsse vom 30. Juni 2011 - [X.] 274/10, [X.] 2011, 450 Rn. 29; vom 16. September 2010 - [X.] 120/10, [X.] 2010, 441 f.).

III. [X.] beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2, 430 FamFG. Die Festsetzung des [X.] folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

[X.]     

      

[X.]     

      

Tolkmitt

      

Picker     

      

Vogt-Beheim     

      

Meta

XIII ZB 32/21

05.12.2023

Bundesgerichtshof 13. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Osnabrück, 28. Mai 2021, Az: 11 T 260/21

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 05.12.2023, Az. XIII ZB 32/21 (REWIS RS 2023, 9663)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 9663

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