Bundesgerichtshof, Beschluss vom 23.05.2011, Az. 5 StR 394/10, 5 StR 440/10, 5 StR 474/10

5. Strafsenat | REWIS RS 2011, 6373

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Gegenstand

Rückwirkende Anwendung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung


Leitsatz

In Fällen, in denen die erstmalige Unterbringung eines Verurteilten in der Sicherungsverwahrung wegen Taten angeordnet wurde, die vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen schweren Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl I 160) begangen worden waren, darf die Fortdauer der Maßregelvollstreckung über zehn Jahre hinaus auf der Grundlage der bis zu einer Neuregelung, längstens bis 31. Mai 2013 weiter anwendbaren Vorschrift des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB i.V.m. § 2 Abs. 6 StGB nur noch angeordnet werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (ThUG) leidet; andernfalls ist die Maßregel – spätestens mit Wirkung zum 31. Dezember 2011 – für erledigt zu erklären (BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011, 2 BvR 2365/09 u.a.).

Tenor

In Fällen, in denen die erstmalige Unterbringung eines Verurteilten in der Sicherungsverwahrung wegen Taten angeordnet wurde, die vor Inkrafttreten des [X.] von Sexualdelikten und anderen schweren Straftaten vom 26. Januar 1998 ([X.]) begangen worden waren, darf die Fortdauer der Maßregelvollstreckung über zehn Jahre hinaus auf der Grundlage der bis zu einer Neuregelung, längstens bis 31. Mai 2013 weiter anwendbaren Vorschrift des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB i.V.m. § 2 Abs. 6 StGB nur noch angeordnet werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des [X.] und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (ThUG) leidet; andernfalls ist die Maßregel – spätestens mit Wirkung zum 31. Dezember 2011 – für erledigt zu erklären ([X.], Urteil vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09 u.a.).

Gründe

1

Die verbundenen Vorlegungsverfahren (§ 121 Abs. 2 Nr. 3 [X.]) betreffen die Frage der Fortgeltung der bis 30. Januar 1998 gültigen Höchstdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung von zehn Jahren (§ 67d Abs. 1 Satz 1 StGB aF) in „[X.]“. Der Senat war berufen, darüber zu entscheiden, ob das Urteil des [X.] vom 17. Dezember 2009 (NJW 2010, 2495) und entsprechende Folgeentscheidungen die [X.] Gerichte dazu zwingen, in Fällen, in denen die erstmalige Unterbringung eines Verurteilten in der Sicherungsverwahrung wegen Taten angeordnet wurde, die vor Inkrafttreten des [X.] von Sexualdelikten und anderen schweren Straftaten vom 26. Januar 1998 ([X.]) begangen worden waren, die Maßregel nach zehnjährigem Vollzug für erledigt zu erklären.

2

1. Die vorlegenden Oberlandesgerichte [X.], [X.] und [X.] möchten sofortige Beschwerden von Untergebrachten gegen landgerichtliche [X.] verwerfen. Sie vertreten die Auffassung, dass auch unter Zugrundelegung der Ausführungen des [X.] eine Erledigterklärung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in [X.] nach Vollzug von zehn Jahren trotz fortbestehender Gefährlichkeit des Verurteilten nicht geboten sei. Vielmehr richte sich die Entscheidung über die Fortdauer der Sicherungsverwahrung allein nach der gegenwärtigen Regelung des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB. An der beabsichtigten Entscheidung sehen sie sich jedoch durch Beschlüsse anderer Oberlandesgerichte gehindert. Sie haben deshalb die jeweilige Sache zur Entscheidung der Rechtsfrage gemäß § 121 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 3 [X.] dem [X.] vorgelegt.

3

2. Der Senat hat sich durch entgegenstehende Rechtsprechung des 4. Strafsenats (Beschluss vom 12. Mai 2010 – 4 [X.], [X.], 567) an der Entscheidung gehindert gesehen, dass sich aus der [X.] zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten für die Maßregel der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung keine die Rückwirkung hindernde andere Bestimmung im Sinne des § 2 Abs. 6 StGB ergibt; er hat die somit anzuwendende Vorschrift des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB allerdings einschränkend dahin ausgelegt, dass in [X.] die erstmalige Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach zehnjährigem Vollzug für erledigt zu erklären ist, sofern nicht eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualverbrechen aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist. Wegen der Einzelheiten wird auf den [X.] vom 9. November 2010 in dieser Sache (NJW 2011, 240; zur Veröffentlichung in [X.]St bestimmt) Bezug genommen. Im Wesentlichen im Sinne des anfragenden Senats haben der 1. und der 2. Strafsenat (Beschlüsse vom 15. Dezember 2010 – 1 ARs 22/10 – und vom 22. Dezember 2010 – 2 [X.]), im Sinne der entgegenstehenden Rechtsprechung des 4. Strafsenats der 3. und der 4. Strafsenat (Beschlüsse vom 17. Februar 2011 – 3 [X.] – und vom 18. Januar 2011 – 4 ARs 27/10) geantwortet.

4

3. Nunmehr hat das [X.] mit Urteil vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09 u.a. – die Regelungen des Strafgesetzbuchs über die Sicherungsverwahrung mangels ausreichender Wahrung des „[X.]“ für unvereinbar mit dem – auch im Blick der Wertungen des Art. 7 Abs. 1 [X.] auszulegenden – [X.] erklärt und eine gesetzliche Neuregelung bis 31. Mai 2013 verlangt. Darüber hinaus hat das [X.] – neben der nachträglichen Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung – die rückwirkende unbefristete Anordnung der Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in einer an den Wertungen des Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 [X.] orientierten Auslegung für unvereinbar mit dem [X.] in seiner Ausprägung durch den rechtsstaatlich gebotenen Vertrauensschutz erklärt; in solchen [X.] hat es die Anordnung fortdauernder Unterbringung nur bei einer hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten des Untergebrachten, die aus konkreten Umständen in seiner Person oder seinem Verhalten abzuleiten ist, und unter der weiteren Voraussetzung einer psychischen Störung des Verurteilten im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des [X.] und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (ThUG) für zulässig befunden; andernfalls sei spätestens mit Wirkung zum 31. Dezember 2011 die Freilassung anzuordnen. Wegen der Einzelheiten wird auf das Urteil des [X.]s Bezug genommen.

5

Das [X.] hat im Blick auf die eindeutig entgegenstehende Gesetzeslage eine Auslegung verworfen, nach der die Art. 5 und Art. 7 [X.] als andere gesetzliche Bestimmungen im Sinne des § 2 Abs. 6 StGB die Rückwirkung ausschließen ([X.] aaO Rn. 164 f.). Infolge dieser mit Wirkkraft des § 31 [X.]G ergangenen Entscheidung ist eine Bindung des Senats an die dahingehende Rechtsprechung des 4. Strafsenats entfallen, die noch Anlass für das Anfrageverfahren nach § 132 [X.] gegeben hatte; einer Vorlage an den [X.] bedarf es nicht mehr (vgl. [X.], Beschluss vom 21. März 2000 – 4 StR 287/99, [X.]St 46, 17, 20 f.; [X.] in [X.], 6. Aufl., § 132 [X.] Rn. 8).

6

4. Der Senat entscheidet danach in den [X.] umfassend im Sinne der Vorgaben des [X.]s. In Übereinstimmung mit den vorlegenden Oberlandesgerichten und mit der Stellungnahme des [X.] ist danach nicht etwa eine sofortige Entlassung der rückwirkend über zehn Jahre hinaus Untergebrachten wegen aus § 2 Abs. 6 StGB i.V.m. Art. 5 und 7 [X.] herzuleitenden gesetzlichen Ausschlusses der Rückwirkung geboten. Es bedarf indes in jedem Fall neuer vollstreckungsgerichtlicher Überprüfung anhand des durch das [X.] vorgegebenen [X.], der mit dem durch den Senat entwickelten im Einklang steht ([X.] aaO Rn. 156). Hinzu kommt das Erfordernis einer psychischen Störung, das sich an Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchst. e [X.] orientiert.

7

Der Senat merkt an, dass eine derartige psychische Störung, die – klar abweichend von den Voraussetzungen für eine Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB – nicht zu einer Einschränkung der Schuldfähigkeit gemäß §§ 20, 21 StGB geführt haben muss (vgl. [X.] aaO Rn. 152, 173), nach den Erkenntnissen aus den Vorlegungsbeschlüssen der Oberlandesgerichte in allen drei verbundenen Sachen im Hinblick auf Persönlichkeitsstörungen der betroffenen Sicherungsverwahrten vorliegen dürfte (vgl. [X.] aaO Rn. 6, 14, 22). Er weist ferner darauf hin, dass eine Aussetzung der Maßregel zur Bewährung nach § 67d Abs. 2 StGB ([X.] aaO Rn. 47) nur bei Erfüllung der einschränkenden Vorgaben für die Maßregelfortdauer möglich, [X.] indes aus den im [X.] (aaO) angeführten Gründen unter den dort genannten Voraussetzungen auch nicht schlechthin ausgeschlossen ist.

[X.]                                       Schneider

                      König                                         [X.]

Meta

5 StR 394/10, 5 StR 440/10, 5 StR 474/10

23.05.2011

Bundesgerichtshof 5. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend OLG Stuttgart, 19. August 2010, Az: 1 Ws 57/10, Beschluss

§ 1 Abs 1 Nr 1 StGB, § 2 Abs 6 StGB, § 66b Abs 3 S 1 StGB, § 67d Abs 1 S 1 StGB vom 20.12.1984, § 67d Abs 3 S 1 StGB, Art 5 Abs 1 S 2 MRK, Art 7 Abs 1 S 2 MRK, Art 46 Abs 1 MRK, Art 1a Abs 3 StGBEG vom 31.01.1998

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 23.05.2011, Az. 5 StR 394/10, 5 StR 440/10, 5 StR 474/10 (REWIS RS 2011, 6373)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 6373

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Zitiert

4 StR 577/09

1 ARs 22/10

2 ARs 456/10

3 ARs 35/10

4 ARs 27/10

2 BvR 2365/09

2 BvR 2029/01

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