Bundesfinanzhof, Urteil vom 04.08.2016, Az. III R 10/13

3. Senat | REWIS RS 2016, 7107

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Vorrangiger Kindergeldanspruch des im anderen EU-Mitgliedstaat wohnenden Elternteils


Leitsatz

1. Der Kindergeldanspruch eines in Deutschland wohnhaften Elternteils für sein in Ungarn im Haushalt des anderen Elternteils lebendes Kind kann nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG i.V.m. Art. 67 der VO Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 durch den vorrangigen Kindergeldanspruch des anderen Elternteils verdrängt werden.

2. Besteht in Deutschland oder in dem anderen Mitgliedstaat der EU ein gemeinsamer Haushalt der beiden Elternteile, in den das gemeinsame Kind aufgenommen ist, richtet sich die vorrangige Anspruchsberechtigung nach § 64 Abs. 2 Sätze 2 bis 4 EStG.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 1. Februar 2013  4 K 385/12 Kg,[X.] im Kostenpunkt ganz und im Übrigen insoweit aufgehoben, als es den Streitzeitraum Mai 2010 bis Januar 2012 betrifft.

Die Sache wird insoweit an das [X.] zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.

Tatbestand

1

I. Streitig ist im Revisionsverfahren noch der Kindergeldanspruch von Mai 2010 bis Januar 2012 (Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung vom 3. Januar 2012).

2

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist [X.] Staatsangehöriger und hat seinen Wohnsitz im Inland. Aus der 2005 geschlossenen Ehe mit einer [X.] Staatsangehörigen (Kindsmutter) ging eine im Februar 2006 geborene [X.]ochter ([X.]) hervor.

3

Der Kläger war bis Ende September 2010 [X.] erwerbstätig und erhielt danach bis Ende September 2011 aufgrund der Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses Arbeitslosengeld I nach § 117 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch.

4

Am 1. Februar 2009 verzog [X.] mit der Kindsmutter nach [X.] und behielt keinen weiteren Wohnsitz in der [X.] ([X.]) bei.

5

Der Kläger bezog für [X.] bis Januar 2011 inländisches Kindergeld. Nachdem die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) von der Wohnsitzverlagerung Kenntnis erlangt und weitere Ermittlungen zu den familiären Verhältnissen angestellt hatte, hob sie die Festsetzung des Kindergeldes für [X.] mit Bescheid vom 2. Mai 2011 ab Februar 2009 auf. Im außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren half die Familienkasse dem Einspruch mit Bescheid vom 27. Dezember 2011 für den Zeitraum Februar 2009 bis April 2010 teilweise ab und wies ihn im Übrigen mit Einspruchsentscheidung vom 3. Januar 2012 als unbegründet zurück.

6

Das Finanzgericht ([X.]) gab der Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (E[X.]) 2013, 711 veröffentlichten Gründen statt und hob den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid und die hierauf ergangene Einspruchsentscheidung auf.

7

Mit der hiergegen vom [X.] zugelassenen Revision rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts.

8

Die Familienkasse beantragt,
das angefochtene [X.]-Urteil insoweit aufzuheben, als es den Aufhebungsbescheid vom 2. Mai 2011 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 27. Dezember 2011 und der Einspruchsentscheidung vom 3. Januar 2012 hinsichtlich der Kindergeldfestsetzung ab Mai 2010 aufhebt und die Klage insoweit abzuweisen.

9

Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Mit Beschluss vom 12. Januar 2015 hat der [X.] ([X.]) das Ruhen des Verfahrens angeordnet, bis der [X.] ([X.]) über das bei ihm anhängige Vorabentscheidungsersuchen [X.]/14 entschieden hat. Der [X.] hat mit Urteil [X.]rapkowski vom 22. Oktober 2015 [X.]/14 ([X.]:C:2015:720, [X.] 2015, 1501) über die Vorlagefragen entschieden.

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist begründet. Die Vorentscheidung ist für den Zeitraum von Mai 2010 bis Januar 2012 (Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung vom 3. Januar 2012) aufzuheben und die Sache mangels Spruchreife zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Das [X.] hat zwar zu Recht eine Anspruchsberechtigung des [X.] bejaht (dazu 1.). Es fehlen aber für den Streitzeitraum hinreichende tatsächliche Feststellungen dazu, ob der Anspruch nicht (teilweise) durch vorrangige Ansprüche der Kindsmutter verdrängt wird (dazu 2. bis 5.).

1. Der Kläger erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 des Einkommensteuergesetzes (EStG).

Nach den für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des [X.] (vgl. § 118 Abs. 2 [X.]O) erfüllt der Kläger --was zwischen den Beteiligten auch nicht streitig ist-- die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG. Unerheblich ist, dass [X.] ihren Wohnsitz in [X.] hat (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).

2. Allerdings könnte die Kindsmutter --entgegen der Rechtsauffassung des [X.]-- nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt sein, weil gemäß Art. 67 der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 des [X.] und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ([X.] --[X.]-- 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --[X.] Nr. 883/2004 ([X.]. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung ([X.]) Nr. 987/2009 des [X.] und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ([X.] 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --[X.] Nr. 987/2009 ([X.] zu unterstellen ist, dass sie mit [X.] in [X.] wohnt.

a) Nach § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).

b) Im Streitfall ergibt sich die Anspruchsberechtigung der Kindsmutter aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz tatsächlich nicht vor, da die Kindsmutter nach den Feststellungen des [X.] am 1. Februar 2009 mit [X.] nach [X.] verzog und in [X.] keinen weiteren Wohnsitz beibehielt. Es finden jedoch die Vorschriften der [X.] Nr. 883/2004 und der [X.] Nr. 987/2009 Anwendung. Dadurch wird gemäß Art. 67 der [X.] Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] Nr. 987/2009 ein Inlandswohnsitz der Kindsmutter fingiert.

3. Der Anwendungsbereich der [X.] Nr. 883/2004 ist im Streitfall eröffnet und [X.] ist danach der zuständige Mitgliedstaat.

a) Der Kläger ist [X.] Staatsangehöriger und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der [X.] Nr. 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung.

b) Da der Kläger im Streitzeitraum in [X.] nichtselbständig erwerbstätig oder arbeitslos war, unterlag er den [X.] Rechtsvorschriften (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a, Buchst. c, oder jedenfalls Buchst. e der [X.] Nr. 883/2004).

4. Aus Art. 67 Satz 1 der [X.] Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] Nr. 987/2009 folgt, dass die Wohnsituation der Kindsmutter (fiktiv) in das Inland übertragen wird. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Kindsmutter im Streitzeitraum in [X.] ein Anspruch auf Familienleistungen zustand oder geltend gemacht wurde und eine von Art. 68 der [X.] Nr. 883/2004 erfasste Konkurrenzsituation vorlag. Insoweit verweist der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen auf das Senatsurteil vom 28. April 2016 III R 68/13 ([X.], 20, [X.], 776, [X.], 1514). Zudem gehört die Kindsmutter --ungeachtet einer etwaigen [X.]rennung vom [X.] zu den "beteiligten Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] Nr. 987/2009 (Senatsurteil in [X.], 20, [X.], 776, [X.], 1514). Es wird deshalb fingiert, dass die Kindsmutter das Wohnsitzerfordernis des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG erfüllt.

Schließlich kommt es auch nicht darauf an, ob die Kindsmutter selbst einen Antrag auf Kindergeld in [X.] gestellt hat (Senatsurteil in [X.], 20, [X.], 776, [X.], 1514).

5. Das [X.] wird jedoch noch festzustellen haben, ob die Kindsmutter neben dem Wohnsitzerfordernis auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch erfüllt.

a) Zwar dürfte aufgrund der [X.] Staatsangehörigkeit der Kindsmutter davon auszugehen sein, dass diese eine freizügigkeitsberechtigte [X.] ist und daher nicht vom Anwendungsbereich des § 62 Abs. 2 EStG erfasst wird. [X.]. sind hierzu aber weitere Feststellungen zu treffen. Zu den Voraussetzungen des Begriffs des Freizügigkeitsberechtigten verweist der Senat auf seinen Beschluss vom 27. April 2015 III B 127/14 ([X.], 519, [X.], 901).

b) Ein vorrangiger Anspruch des [X.] könnte sich aber aus § 64 Abs. 2 Sätze 2 bis 4 EStG ergeben. Dies würde jedoch neben einer Berechtigtenbestimmung zugunsten des [X.] einen gemeinsamen Haushalt zwischen dem Kläger und der Kindsmutter in [X.] und/oder [X.] voraussetzen, in den [X.] aufgenommen wurde. Insoweit hat das [X.] zwar ausgeführt, dass die Kindsmutter in [X.] keinen (weiteren) Wohnsitz mehr unterhielt. Zu den konkreten Lebensverhältnissen der Eltern und der Art ihrer Haushaltsführung fehlen bislang jedoch nähere Feststellungen, obwohl der Kläger und die Kindsmutter bereits im Verwaltungsverfahren vorgetragen hatten, dass sie nicht dauernd getrennt lebten.

Das [X.] wird weiter zu beachten haben, dass sich der Streitzeitraum bis Januar 2012 erstreckt (vgl. zur Regelungswirkung im Falle des Einspruchs gegen einen die Kindergeldfestsetzung aufhebenden Bescheid Senatsurteil vom 4. August 2011 III R 71/10, [X.], 203, [X.], 380). Die bisherigen Feststellungen des [X.] beziehen sich nur auf den Zeitraum bis Januar 2011.

Auf die Höhe der vom Kläger erbrachten Unterhaltsrente kommt es für die Bestimmung der vorrangigen Kindergeldberechtigung dagegen nicht an, da diese nach § 64 Abs. 3 EStG nur für Kinder, die --anders als im [X.] nicht in den Haushalt eines Berechtigten aufgenommen sind, von Bedeutung sein kann.

6. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das [X.] beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

III R 10/13

04.08.2016

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend FG Münster, 1. Februar 2013, Az: 4 K 385/12 Kg,AO, Urteil

§ 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2009, § 62 Abs 2 EStG 2009, § 63 Abs 1 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 1 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 2 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 3 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 4 EStG 2009, Art 67 EGV 883/2004, Art 60 Abs 1 EGV 987/2009, EStG VZ 2010, EStG VZ 2011, EStG VZ 2012

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 04.08.2016, Az. III R 10/13 (REWIS RS 2016, 7107)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 7107

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

III R 42/12 (Bundesfinanzhof)

Vorrangiger Kindergeldanspruch des im anderen EU-Mitgliedstaat wohnenden geschiedenen Elternteils


III R 86/11 (Bundesfinanzhof)

(Kindergeld: Vorrangige Anspruchsberechtigung des im anderen EU-Mitgliedstaat lebenden Elternteils - fiktive Übertragung der Wohnsituation in …


III R 43/14 (Bundesfinanzhof)

Kindergeld: Anspruchsberechtigung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten


III R 25/12 (Bundesfinanzhof)

Kindergeld: Vorrangige Anspruchsberechtigung des im anderen EU-Mitgliedstaat lebenden Elternteils - fiktive Übertragung der Wohnsituation in …


III R 48/12 (Bundesfinanzhof)

(Kindergeld: Anspruchsberechtigung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten - Im Wesentliche inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 04.02.2016 III R …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.