Bundesfinanzhof, Urteil vom 08.09.2016, Az. III R 48/12

3. Senat | REWIS RS 2016, 5770

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Gegenstand

(Kindergeld: Anspruchsberechtigung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten - Im Wesentliche inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 04.02.2016 III R 17/13)


Leitsatz

NV: Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 kann dazu führen, dass der Anspruch auf Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG nicht dem in Deutschland, sondern vorrangig dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht (Anschluss an die Senatsurteile vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, und vom 28. April 2016 III R 68/13, BFHE 254, 20, BStBl II 2016, 776) .

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 15. August 2012 2 K 2143/11 im [X.] ganz und im Übrigen insoweit aufgehoben, als es der Klage stattgegeben hat.    

Die Klage wird auch insoweit abgewiesen.    

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.  

Tatbestand

1

I. Streitig ist der Kindergeldanspruch für den [X.]raum Mai 2010 bis Juni 2011.

2

[X.]er Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist der Vater des [X.] geborenen [X.], der bei der Kindsmutter in [X.] lebt.

3

[X.]er Kläger ist [X.] Staatsangehöriger und hat seit dem [X.] seinen Wohnsitz in der [X.] ([X.]). Er war seit Juni 2006 aufgrund seiner Tätigkeit als selbstständiger Berufsmusiker bei der Künstlersozialkasse versicherungspflichtig und wurde in [X.] zur Einkommensteuer veranlagt.

4

Mit Bescheid vom 21. April 2011 lehnte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) den Antrag des [X.] auf Kindergeld für [X.] für die [X.] ab Mai 2010 ab, da [X.] bei der Kindsmutter in [X.] lebe.

5

[X.]er dagegen gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 3. Juni 2011).

6

Mit der hiergegen gerichteten Klage begehrte der Kläger inländisches Kindergeld für [X.], zuletzt für den [X.]raum Januar 2006 bis Mai 2006 und für die [X.] ab September 2009.

7

[X.]as Finanzgericht ([X.]) gab der Klage mit Urteil vom 15. August 2012  2 K 2143/11 zum Teil statt. Es verpflichtete die Familienkasse unter Änderung des [X.] vom 21. April 2011 und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom 3. Juni 2011, Kindergeld für [X.] für die [X.] ab Mai 2010 unter Beachtung der Rechtsauffassung des [X.] zu gewähren. Im Übrigen wies es die Klage ab.

8

Mit der Revision rügt die Familienkasse die sich aus einer unzutreffenden Auslegung des § 64 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ergebende Verletzung materiellen Rechts.

9

[X.]ie Familienkasse beantragt sinngemäß,
das Urteil des [X.] Berlin-Brandenburg vom 15. August 2012  2 K 2143/11 insoweit aufzuheben und die Klage auch insoweit abzuweisen, als die Familienkasse zur Gewährung von Kindergeld für [X.] für die [X.] ab Mai 2010 verpflichtet worden ist.

[X.]er Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Mit Beschluss vom 13. Januar 2015 hat der [X.] ([X.]) das Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der [X.] ([X.]) über das bei ihm anhängige Vorabentscheidungsersuchen [X.]/14 angeordnet. [X.]er [X.] hat mit Urteil vom 22. Oktober 2015 [X.]/14 ([X.]:C:2015:720, [X.]eutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst --[X.]StRE-- 2015, 1501) über die Vorlagefragen entschieden.

Entscheidungsgründe

II. [X.]ie Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils insoweit, als es der Klage stattgegeben hat und zur Abweisung der Klage auch für die [X.] ab Mai 2010 (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). [X.]as [X.] hat zu Unrecht entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld für [X.] ab Mai 2010 (vorrangig) dem Kläger zusteht. [X.]enn der Kläger ist zwar nach nationalem Recht (§ 62 EStG) anspruchsberechtigt (dazu 1.). [X.]er Kindsmutter steht aber nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG ein vorrangiger Kindergeldanspruch zu (dazu 2. bis 6.).

1. [X.]er Kläger erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG. [X.]ies wurde --für den Senat bindend (vgl. § 118 Abs. 2 [X.]O)-- vom [X.] festgestellt. Unerheblich ist, dass [X.] seinen Wohnsitz in [X.] hat (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).

2. Allerdings ist die Kindsmutter --entgegen der Rechtsauffassung des [X.]-- nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt. [X.]enn gemäß Art. 67 der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 des [X.] und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ([X.] --[X.]-- 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --[X.] 883/2004 ([X.]. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung ([X.]) Nr. 987/2009 des [X.] und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die [X.]urchführung der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ([X.] 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --[X.] ([X.]urchführungsverordnung)-- ist zu unterstellen, dass sie mit [X.] in [X.]eutschland wohnt.

a) Nach § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).

b) Im Streitfall ergibt sich die Anspruchsberechtigung der Kindsmutter aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz tatsächlich nicht vor. Es finden jedoch die Vorschriften der [X.] Nr. 883/2004 und der [X.] Anwendung. [X.]adurch wird gemäß Art. 67 der [X.] 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] ein Inlandswohnsitz der Kindsmutter fingiert. Zudem erfüllt die Kindsmutter auch die übrigen Voraussetzungen für eine vorrangige Anspruchsberechtigung.

3. [X.]er Anwendungsbereich der [X.] 883/2004 ist im Streitfall eröffnet und [X.]eutschland ist danach der zuständige Mitgliedstaat.

a) [X.]er Kläger ist [X.] Staatsangehöriger und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der [X.] 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem EStG eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der [X.] 883/2004, weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der [X.] 883/2004 eröffnet ist.

b) Gemäß Art. 11 Abs. 1 der [X.] 883/2004 unterliegen die von der Verordnung erfassten Personen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. [X.]a der Kläger im Streitzeitraum eine selbstständige Erwerbstätigkeit in [X.]eutschland ausgeübt hat, unterlag er den [X.] Rechtsvorschriften (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der [X.] 883/2004).

4. Wie der Senat bereits wiederholt entschieden hat, folgt aus Art. 67 Satz 1 der [X.] 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.], dass die Wohnsituation der Kindsmutter (fiktiv) in das Inland übertragen wird. Entgegen der Auffassung des [X.] kommt es für die Anwendung der Fiktionsregelung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] nicht darauf an, ob die in [X.] lebende Kindsmutter einen Anspruch auf Familienleistungen in [X.] hatte und deshalb im Streitfall zusätzlich auch eine von Art. 68 der [X.] Nr. 883/2004 erfasste Konkurrenzsituation gegeben ist (vgl. [X.]-Urteil in [X.]StRE 2015, 1501, Rz 33). [X.]enn Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] findet bereits über Art. 67 der [X.] Nr. 883/2004 Anwendung. [X.]ie Kindsmutter gehört zudem zu den "beteiligten Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] Nr. 987/2009. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Entscheidungsgründe in den [X.] vom 4. Februar 2016 III R 17/13 ([X.], 134, [X.], 612, Rz 18), vom 10. März 2016 III R 8/13 ([X.], 1164, Rz 21 ff.), vom 10. März 2016 III R 25/12 ([X.], 1161, Rz 20 ff.) und vom 28. April 2016 III R 68/13 ([X.], 20, [X.], 776, Rz 19 ff.) Bezug genommen.

5. Zu Recht weist der Kläger zwar darauf hin, dass der andere Elternteil nach dem [X.]-Urteil in [X.]StRE 2015, 1501, Rz 39 "alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen" erfüllen muss. Gerade dies ist vorliegend aber der Fall. [X.]enn die Kindsmutter erfüllt neben dem Wohnsitzerfordernis auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch.

a) Anhaltspunkte dafür, dass die Kindsmutter eine nicht freizügigkeitsberechtigte [X.] i.S. des § 62 Abs. 2 EStG ist, hat das [X.] nicht festgestellt.

b) Ein vorrangiger Anspruch des [X.] ergibt sich auch nicht aus § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG; denn diese Bestimmung setzte einen gemeinsamen Haushalt zwischen dem Kläger und der Kindsmutter voraus. Nach den Feststellungen des [X.] unterhielten der Kläger und die Kindsmutter jedoch keinen gemeinsamen Haushalt. Ein gemeinsamer Haushalt kann sich auch nicht aus der Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] ergeben. [X.]emnach ist im Streitfall der Anspruch der Kindsmutter nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig, da nur bei dieser, nicht dagegen beim Kläger eine Haushaltsaufnahme des [X.] vorliegt.

6. Schließlich kommt es nicht darauf an, ob die Kindsmutter selbst einen Antrag auf Kindergeld in [X.]eutschland gestellt hat. Vielmehr hätte die [X.] Familienkasse einen Antrag des [X.] auf Kindergeld auch als solchen zugunsten des Kindergeldanspruchs der Kindsmutter zu berücksichtigen. Soweit der Kläger unter Bezugnahme auf Rz 37 und Rz 45 des [X.] in [X.]StRE 2015, 1501 meint, der im Ausland wohnende Elternteil werde erst dann zum Berechtigten, wenn der im Inland wohnende Elternteil --anders als im vorliegenden [X.] keinen Antrag gestellt habe, beachtet er die dem [X.] zur Vorabentscheidung vorgelegte Rechtsfrage nicht hinreichend. [X.]er [X.] hatte den [X.] mit der 2. Vorlagefrage um Stellungnahme ersucht, ob der Anspruch dem im zuständigen Mitgliedstaat ([X.]eutschland) wohnenden Elternteil (d.h. im Vorlagefall wie auch im Streitfall dem Kindsvater) zuerkannt werden muss, weil der andere Elternteil, der in einem anderen Mitgliedstaat wohnt (d.h. im Vorlagefall wie auch im Streitfall die in [X.] lebende Kindsmutter), keinen Antrag auf Familienleistungen gestellt hat ([X.]-Vorlage des [X.] vom 8. Mai 2014 III R 17/13, [X.]E 245, 522, [X.], 329, Rz 26 f.). [X.]iese Frage hat der [X.] verneint, weil der in [X.]eutschland gestellte Antrag des Kindsvaters auch als solcher zugunsten der Kindsmutter zu berücksichtigen ist ([X.]-Urteil in [X.]StRE 2015, 1501, Rz 46 ff.). Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Entscheidungsgründe in den [X.] in [X.], 1164, Rz 30, in [X.], 1161, Rz 33 und in [X.], 20, [X.], 776, Rz 28 Bezug genommen.

7. [X.]ie Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 [X.]O.

Meta

III R 48/12

08.09.2016

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 15. August 2012, Az: 2 K 2143/11, Urteil

§ 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2009, § 63 Abs 1 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 1 EStG 2009, Art 1 Buchst z EGV 883/2004, Art 2 Abs 1 EGV 883/2004, Art 3 Abs 1 Buchst j EGV 883/2004, Art 11 Abs 1 EGV 883/2004, Art 11 Abs 3 Buchst a EGV 883/2004, Art 67 EGV 883/2004, Art 68 EGV 883/2004, Art 60 Abs 1 S 2 EGV 987/2009, EStG VZ 2011

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 08.09.2016, Az. III R 48/12 (REWIS RS 2016, 5770)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 5770

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